L 9 SO 152/18 B ER

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Sozialhilfe
Abteilung
9
1. Instanz
SG Köln (NRW)
Aktenzeichen
S 39 SO 558/17 ER
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 9 SO 152/18 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
1. Auf die Beschwerde der Antragstellerin wird der Beschluss des Sozialgerichts Köln vom 30.01.2018 geändert: Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, vorläufig die ungedeckten Heimpflegekosten der Antragstellerin für ihre vollstationäre Unterbringung in der Seniorenresidenz der Beigeladenen für die Zeit vom 01.03.2018 bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung in der Hauptsache - längstens bis zum 30.11.2018 - zu übernehmen. Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen.
2. Der Antragsgegner trägt 1/3 der notwendigen außergerichtlichen Kosten der Antragstellerin im Beschwerdeverfahren. Im Übrigen sind Kosten nicht zu erstatten.
3. Der Antragstellerin wird für die Durchführung des Beschwerdeverfahrens Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwalt H, E, gewährt.

Gründe:

I. Die am 26.02.2018 bei dem Sozialgericht Köln eingegangene Beschwerde der Antragstellerin gegen den ihrem Bevollmächtigten am 02.02.2018 zugestellten Beschluss des Sozialgerichts vom 30.01.2018, mit der sie sich gegen die Ablehnung ihres Antrages auf Erlass einer einstweiligen Anordnung in Bezug auf ihre ungedeckten Heimpflegekosten wendet, hat im tenorierten Umfang Erfolg. Sie ist zulässig und teilweise begründet.

Nach § 86b Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) sind einstweilige Anordnungen auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Der Erlass einer einstweiligen Anordnung setzt das Bestehen eines Anordnungsanspruchs, d. h. des materiellen Anspruchs, für den vorläufiger Rechtsschutz begehrt wird, sowie das Vorliegen eines Anordnungsgrundes, d. h. die Unzumutbarkeit voraus, bei Abwägung aller betroffenen Interessen die Entscheidung in der Hauptsache abzuwarten. Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund bzw. die besondere Eilbedürftigkeit sind glaubhaft zu machen (§ 86 Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung [ZPO]). Glaubhaftmachung bedeutet das Dartun der überwiegenden Wahrscheinlichkeit des Bestehens von Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund, wobei durchaus gewisse Zweifel bestehen bleiben können. Es genügt, wenn bei mehreren ernstlich in Betracht zu ziehenden Möglichkeiten das Vorliegen einer davon relativ am Wahrscheinlichsten ist, weil nach Gesamtwürdigung aller Umstände besonders viel für diese Möglichkeit spricht (vgl. Bundessozialgericht [BSG], Beschluss vom 07.04.2011 - B 9 VG 15/10 B -, juris Rn. 6; Senat, Beschluss vom 23.07.2013 - L 9 SO 225/13 B ER, L 9 SO 226/13 B -, juris Rn. 8). Allerdings ergeben sich aus Art. 19 Abs. 4 Grundgesetz (GG) und Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG besondere Anforderungen an die Ausgestaltung des Eilverfahrens, wenn die Gewährung existenzsichernder Leistungen im Streit steht. Aus Art. 19 Abs. 4 GG folgen dabei Vorgaben für den Prüfungsmaßstab. Je gewichtiger die drohende Grundrechtsverletzung und je höher ihre Eintrittswahrscheinlichkeit ist, desto intensiver hat die tatsächliche und rechtliche Durchdringung der Sache bereits im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes zu erfolgen (vgl. Bundesverfassungsgericht, Beschluss der 3. Kammer des 1. Senats vom 06.08.2014 - 1 BvR 1453/12 -, juris Rn. 10, 12).

Nach diesem Maßstab liegen im Fall der Antragstellerin mittlerweile besondere Umstände vor, die vor dem Gesichtspunkt jedenfalls aktuell nicht erkennbar bereiter Mittel ausnahmsweise die vorläufige Übernahme zumindest ihrer laufenden Heimpflegekosten im Zeitraum vom 01.03.2018 bis zum 30.11.2018 rechtfertigen.

1. Die angefochtene Entscheidung war zum Zeitpunkt der Beschlussfassung durch das Sozialgericht insoweit nicht zu beanstanden, als dass ein Anordnungsgrund i.S. einer besonderen Eilbedürftigkeit zur Abwendung von Obdachlosigkeit am 30.01.2018 nicht (mehr) ersichtlich war. Im Laufe des Beschwerdeverfahrens ist der Antragstellerin dann jedoch die Glaubhaftmachung einer bevorstehenden Obdachlosigkeit - durch Wirksamwerden des vor dem Landgericht B am 23.02.2018 zum Az. 10 O xxx geschlossenen Vergleiches - gelungen. Seit dem Ablauf der Widerrufsfrist am 09.03.2017 liegt ein Titel i.S.v. § 794 Abs. 1 Nr. 1 ZPO vor und sind die Zweifel an der Vollstreckungsbereitschaft der Beigeladenen zerstreut. Aufgrund der Regelungen des Vergleichs ist sie mithin akut von Wohnungslosigkeit bedroht.

Die Antragstellerin befindet sich aufgrund der laufend anfallenden, nicht durch ihr Einkommen sowie die Leistungen der Pflegekasse vollständig gedeckten Heimpflegekosten in einer finanziellen und sozialen Notlage, die sie mit eigenen Mitteln nicht abzuwenden vermag (s. hierzu unter 2.). Diese kann allein noch durch die Verpflichtung des Antragsgegners zur Übernahme der laufenden Kosten gegenüber der Beigeladenen innerhalb der Frist bis zum 30.06.2018 abgewendet werden. Wenn nicht bis zu diesem Datum die Voraussetzung der Ziffer 2 des Vergleichs erfüllt wird, ist die Antragstellerin gemäß Ziffer 3 zur Räumung des Heimplatzes bis zum 30.09.2018 verpflichtet. Dem kann nicht entgegengehalten werden, dass sie bisher nicht nachgewiesen hat, sich um einen anderen Heimplatz gekümmert zu haben. Denn es kann nicht ernsthaft angenommen werden, dass ein anderes Heim die Antragstellerin aufnehmen würde, wenn es um die Gründe für den Verlust des aktuell innegehabten Heimplatzes wüsste. Auch kann ihr bzw. dem für sie handelnden Betreuer nicht zugemutet, sich durch Abschluss eines neuen Heimvertrages in Kenntnis der Zahlungsunfähigkeit dem Verdacht eines Eingehungsbetruges auszusetzen.

2. Es spricht nach der im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes allein möglichen summarischen Prüfung derzeit mehr dafür als dagegen, dass ein Anspruch auf Übernahme der ungedeckten Heimpflegekosten in der Hauptsache besteht und damit ein Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht ist.

Der Senat geht zunächst, insbesondere unter Würdigung der beigezogenen Akte des Amtsgerichts E - Betreuungsgericht - zum Az. 70 XVII xxx, davon aus, dass die Antragstellerin selbst jedenfalls seit Antragstellung beim Sozialgericht nicht über verwertbares Vermögen i.S.v. § 90 SGB XII oberhalb des Schonbetrages im Sinne bereiter Mittel verfügt, noch entsprechende Schenkungsrückforderungsansprüche zeitnah realisieren kann.

Es ist derzeit ungeklärt, welches Vermögen die Antragstellerin tatsächlich zu welchem Zeitpunkt besessen hat. Insbesondere die aktenkundigen Angaben zu dem Umfang des Immobilieneigentums in Spanien divergieren erheblich. Ob, in welchem Umfang und in welchem Zeitraum Immobilieneigentum in Deutschland bestand, ist ebenfalls unklar. Gleiches gilt für den Umfang ihres sonstigen Vermögens und dessen Entwicklung. In diesem Zusammenhang ist im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes auch nicht nachprüfbar, ob die von K. M., dem Sohn des in 3. Ehe mit der Antragstellerin verheirateten G. M., in dem Schreiben seiner Bevollmächtigten vom 28.06.2010 aufgestellten Behauptungen zum Wert des Nachlasses und zum eigenen Vermögen der Antragstellerin zutreffen. Dies alles bedarf umfangreicher Aufklärung im Hauptsacheverfahren unter Würdigung der erkennbar in Teilen zerrütteten Verhältnisse der Familienmitglieder. So verständlich die Vermutungen des Antragsgegners am vollständigen Untergang der Vermögenswerte erscheinen, so ist diese Vermutung aus den folgenden Gründen nicht derart belastbar bzw. tragfähig, den Anspruch in diesem Stadium des Verfahrens zu negieren.

Zwar kann der Senat nicht ausschließen, dass die Antragstellerin ihr mögliche Angaben zu dem Vermögensverbleib unterlässt. Allerdings spricht Überwiegendes dafür, dass sie aus gesundheitlichen Gründen zu einer eigenen Mitwirkung an der Aufklärung ihres Vermögensstandes und ihrer Vermögensbewegungen in den Jahren vor der Heimaufnahme zum 01.08.2016 nicht mehr in der Lage ist. Hinsichtlich des gesundheitlichen Zustandes der Antragstellerin weist das MDK-Gutachten vom 24.04.2013 Senilität (ICD 10: R54) als pflegebegründende Diagnose auf. Der vom Amtsgericht eingesetzte Gutachter Dr. C beschreibt in seinem psychiatrischen Gutachten vom 04.03.2017 eine leichtgradige Form einer dementiellen Symptomatik und diagnostiziert - mangels durchgeführter bildgebender Verfahren zur Diagnosedifferenzierung - eine nicht näher bezeichnete beginnende Demenz (ICD 10: F03) und daneben eine rezidivierende depressive Störung in aktuell mittelgradiger Form (ICD 10: F33.1).

Zu diesen medizinischen Befunden treten die Schilderungen der Angehörigen, die - auch unter Berücksichtigung von deren eigener Interessenlage - eine Überforderung und fortschreitende Hilflosigkeit der Antragstellerin in den letzten Jahren belegen sowie die Eindrücke des Betreuungsrichters, des Verfahrenspflegers und der beiden Berufsbetreuer hinzu.

Die Wahrnehmung des Betreuungsrichters anlässlich der Anhörung vom 29.11.2017 und die in seinem Vermerk beschriebenen Verhaltensweisen deuten - auch wenn er ausdrücklich offen gelassen hat, ob sie ihn nicht verstehen konnte oder wollte - auf eine gewisse Verwirrtheit und Hilflosigkeit der Antragstellerin hin. Dies hat auch der sodann bestellte Verfahrenspfleger Rechtsanwalt K bestätigt.

Der durch Beschluss des Amtsgerichts vom 24.04.2017 zum Betreuer bestellte Berufsbetreuer I legte am 27.05.2017 im Betreuungsverfahren ein Vermögensverzeichnis vor, wonach sich das Vermögen am 20.04.2017 lediglich auf ein Giroguthaben von 1.064,96 Euro belief. Er schilderte, dass ein Gespräch mit der Antragstellerin hierüber kaum möglich sei und sie sich an nichts erinnere. Die ihm bekannte Schenkung von 50.000,00 Euro an den Sohn habe er wie mit dem Antragsgegner besprochen widerrufen. Die Nichte (gemeint ist wohl die Enkelin) habe angegeben, dass die Antragstellerin ca. 800.000 bis 1.000.000 Euro an die Familie "verschenkt" habe. Der Sohn der Antragstellerin H-O. N ließ dem Berufsbetreuer am 30.05.2017 durch seine Bevollmächtigte mitteilen, welche Geldbeträge er von der Antragstellerin erhalte habe, die Gründe der Zahlungen sowie etwaige Rückzahlungen. Er berufe sich auf Entreicherung. Namen weiterer Beschenkter seien ihm nicht bekannt. Unter dem 27.06.2017 ließ er dann gegenüber den Antragstellerbevollmächtigten mitteilen, dass er zu seiner Tochter N. M-N seit ca. zehn Jahren keinen Kontakt mehr habe. Schenkungen der Antragstellerin an diese seien ihm nicht bekannt. Seine Tochter U. M-M. habe, ebenso wie sein Sohn T. N., lediglich 10.000,00 Euro von der Antragstellerin schenkweise erhalten. Demgegenüber habe seine Schwester, C. G, zu der seit mehr als 40 Jahren kein Kontakt mehr bestehe, zum Zwecke des Grundstückskaufes und einer Geschäftseröffnung wohl mehrere Hundertausend Euro erhalten. Im Übrigen habe er alle noch in seinem Besitz befindlichen, die Antragstellerin betreffenden Aktenordner an deren Bevollmächtigte übersandt. Weitere Unterlagen über die Immobilie in Teneriffa hätten sich vermutlich in der Immobilie in S befunden und seien vermutlich vernichtet worden, als diese von C. S., dem Schwiegersohn von C. G., geräumt worden sei. Frau G wiederum hat lediglich von Seiten der Antragstellerin gewährte Darlehen angegeben, die sie zurückgezahlt habe.

Zum jetzigen Zeitpunkt steht weder die genaue Zahl der Beschenkten noch der Umfang der Schenkungen fest. Im Hauptsacheverfahren wird daher zur gesamten Vermögenssituation der Antragstellerin Beweis zu erheben sein, u.a. durch Vernehmung der Kinder und Enkel der Antragstellerin, insbesondere von H-O. N, C. G, T. S, S. M-M und N. M-N, sowie ggf. von H. M.

Es besteht auch derzeit kein Grund anzunehmen, dass der Berufsbetreuer I und der spätere Betreuer Rechtsanwalt I nicht hinreichend an der Aufklärung des Sachverhaltes mitgewirkt hätten bzw. mitwirkten. Vielmehr haben sie sich zusammen mit dem Antragstellerbevollmächtigten erkennbar bemüht, die Vermögensverhältnisse aufzuklären.

Am 25.10.2017 hat der Berufsbetreuer I um seine Entlassung wegen Überforderung gebeten. Die Familie der Antragstellerin verweigere die Zusammenarbeit, die ihm überlassenen Unterlagen seien lückenhaft, die umfangreichen Unterlagenanforderungen des Antragsgegners könne er nicht erfüllen. Der Antragsgegner selbst hat in Gestalt seiner Betreuungsbehörde (Schreiben an das Amtsgericht vom 09.11.2017) erkannt, dass es sich um ein außergewöhnlich anspruchsvolles Verfahren handelt. Der am 22.12.2017 bestellte Betreuer Rechtsanwalt I versucht seit der Übernahme der Betreuung die Fragen des Antragsgegners abzuarbeiten und von der unkooperativen Familie Informationen zu den Schenkungen zu erhalten. Im Hinblick auf die bei allen Banken aktuell umsichgreifende Erfindung neuer Kostentatbestände und Erhöhung bestehender Gebühren ist es nicht lebensfremd, dass ein Leistungsberechtigter - wie hier - nicht mehr zum Aufbringen der Kosten für die Beschaffung von Bankunterlagen in der Lage ist.

3. Im Übrigen war der Antrag allerdings unbegründet und die Beschwerde insoweit als unbegründet zurückzuweisen. Soweit die Antragstellerin Leistungen für die Vergangenheit vor Antragstellung beim Sozialgericht bzw. für die Zeit von der Antragstellung bis zum 28.02.2018 begehrt, fehlt jedenfalls der für den Erlass einer einstweiligen Anordnung erforderliche Anordnungsgrund. Zur Sicherung des Heimplatzes bedurfte es der vorläufigen Übernahme der bis zum 28.02.2018 ausstehenden Kosten nicht. Denn der Verbleib im Heim ist nicht an deren Zahlung, zu der sich die Antragstellerin unter Ziffer 1 des Vergleichs verpflichtet hat, geknüpft worden.

Soweit die Antragstellerin Leistungen für die über den 30.11.2018 hinausgehende Zukunft begehrt, steht einer entsprechenden Anordnung entgegen, dass im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes nur eine vorläufige Regelung getroffen werden kann, was die Begrenzung des Zeitraums erfordert. Bis zu dem vorgenannten Datum besteht zur Überzeugung des Senates hinreichend Zeit dazu, dass der Antragsgegner die Übernahme der Kosten der Beschaffung aller von ihm noch verlangten Bankunterlagen zusagt und der Betreuer der Antragstellerin diese besorgt. Dazu wird es gehöriger Anstrengungen aller Beteiligten, auch der Beigeladenen selbst, bedürfen.

II. Der teilweise obsiegenden Antragstellerin war für das Beschwerdeverfahren Prozesskostenhilfe aus den Gründen zu I. zu bewilligen (§ 73a SGG i.V.m. § 119 Abs. 1 Satz 2 ZPO).

III. Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung der §§ 183 Satz 1, 193 Abs. 1 Satz 1 SGG. Die Beigeladene hat keinen eigenen Antrag gestellt, so dass sie keinen Anspruch auf Erstattung außergerichtlicher Kosten hat. Die erstinstanzliche Kostenentscheidung war nicht zu ändern, da sie im Zeitpunkt der Entscheidung des Sozialgerichtes zutreffend war.

IV. Dieser Beschluss ist mit der Beschwerde nicht angreifbar (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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