L 3 R 818/18

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
3
1. Instanz
SG Dortmund (NRW)
Aktenzeichen
S 61 R 2015/16
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 3 R 818/18
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Die Berufung der Beklagten wird zurückgewiesen mit der Maßgabe, dass der erstinstanzliche Tenor neu gefasst wird: Der Bescheid der Beklagten vom 22.02.2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21.11.2016 wird aufgehoben. Die Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin in beiden Rechtszügen. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Streitig ist die Aufhebung der Bewilligung von Rente wegen voller Erwerbsminderung für die Zeit vom 01.03.2016 bis zum 30.06.2017.

Die am 00.00.1971 in der Türkei geborene Klägerin lebt seit Mitte der neunziger Jahre in der Bundesrepublik Deutschland. Laut ihren eigenen Angaben hat sie von 1999 bis zum Beginn von Arbeitsunfähigkeit am 23.11.2009 als Reinigungskraft gearbeitet.

In den Verwaltungsakten der Beklagten findet sich ein Entlassungsbericht der F-Klinik, M, über eine vom 29.12.2008 bis zum 22.02.2009 durchgeführte stationäre Maßnahme. Unter Diagnosen ist festgehalten: "Mittelgradige depressive Episode, somatoforme Schmerzstörung". Die Klägerin wurde dort als arbeitsunfähig entlassen mit der Planung, dass ab 02.03.2009 eine stufenweise Wiedereingliederung von drei Stunden täglich als Reinigungskraft bei ihrem Arbeitgeber, dem N-Krankenhaus S, aufgenommen werden sollte.

Am 29.04.2010 stellte die Klägerin einen Rentenantrag.

Die Beklagte holte einen Befundbericht des behandelnden Neurologen und Psychiaters T vom 04.08.2010 ein. Dort ist u.a. zur Krankheitsgeschichte ausgeführt, die Klägerin sei seit dem Tod ihres Ehemannes im Jahre 2007 zunehmend depressiv, seit ca. zwei Monaten bestünden optische und akustische Halluzinationen. Der beratungsärztliche Dienst der Beklagten sah die Klägerin daraufhin sowohl für ihre letzte berufliche Tätigkeit als auch auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt als nur noch für unter drei Stunden einsetzbar an. Die Beklagte bewilligte der Klägerin daraufhin Rente wegen voller Erwerbsminderung auf Zeit vom 01.06.2010 befristet bis zum 31.10.2011. Ein zweiter Befundbericht des Facharztes für Neurologie und Psychiatrie T vom 02.09.2011 enthielt zusätzlich zu den bislang gestellten Diagnosen - schwere depressive Episode, zeitweise mit psychotischen Symptomen, Somatisierungsstörung - nun differenzialdiagnostisch "dissoziative Störung". Die etwa seit Juni 2010 aufgetretenen akustischen und optischen Halluzinationen würden mittlerweile als dissoziative Symptome aufgefasst. Der beratungsärztliche Dienst der Beklagten stellte daraufhin fest, seit der Berentung sei eine nennenswerte Änderung im Gesundheitszustand nicht eingetreten und schlug als Überprüfungszeitpunkt September 2013 vor. Dementsprechend wurde die Rente befristet weiter bewilligt. In einem dritten Befundbericht des Facharztes für Neurologie und Psychiatrie T vom 22.05.2013 wird bei gleichbleibender Diagnose mitgeteilt, dass die Klägerin zwischenzeitlich am 12.11.2012 ein Kind geboren habe. Eine Besserung sei jedoch bei fehlender medikamentöser Therapie nicht eingetreten. Der beratungsärztliche Dienst der Beklagten schlug demzufolge eine Weiterzahlung der Rente bis Juni 2014 vor. In einem vierten Befundbericht des Facharztes T vom 14.05.2014 wird bei gleichbleibender Diagnose mitgeteilt, es bestünden weiterhin depressive Verstimmungszustände und optische und akustische Halluzinationen. Ein die Klägerin begleitender Freund habe am 23.08.2011 von Suizidalität berichtet. Während der Schwangerschaft und nach Geburt eines Kindes im Januar 2013 habe eine medikamentöse Therapie bis vor kurzem nicht durchgeführt werden können. Der beratungsärztliche Dienst der Beklagten schlug eine Weiterbewilligung der Rente befristet bis Juni 2017 vor. Auch diesem Vorschlag ist die Beklagte gefolgt. Sie bewilligte mit Bescheid vom 22.05.2014 der Klägerin weiter Rente wegen voller Erwerbsminderung auf Zeit für die Zeit vom 01.07.2014 bis zum 30.06.2017.

Infolge des Verdachts auf rechtswidrige Erlangung von Renten im Zusammenspiel mit behandelnden Ärzten, u.a. Facharzt für Neurologie und Psychiatrie T, veranlasste die Beklagte eine Begutachtung der Klägerin durch den Arzt für Nervenheilkunde Dr. S am 04.12.2015. Dieser diagnostizierte eine leichte chronische depressive Entwicklung in Form einer Dysthymia. Hinweise für das Vorliegen einer mittelschweren oder gar schweren Depression ergäben sich derzeit nicht. Objektive Nachweise psychotischer Phänomene ergäben sich ebenfalls nicht. Im Verlauf habe sich eine somatoforme Störung entwickelt. Im Ergebnis hielt Dr. S leichte körperliche Arbeiten in Tagesschicht sechs Stunden und mehr für zumutbar.

Die Beklagte hörte daraufhin die Klägerin mit Schreiben vom 18.01.2016 zu einer Aufhebung der Bewilligung von Rente wegen Erwerbsminderung mit Ablauf Februar 2016 an. Mit dem hier angefochtenen Bescheid vom 22.02.2016 erfolgte dann die Aufhebung der Rentenbewilligung nach § 48 Abs 1 S 1 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch - Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz (SGB X) ab dem 01.03.2016.

Auf Widerspruch der Klägerin gegen die Rentenaufhebung forderte die Beklagte Befundberichte von den die Klägerin behandelnden Ärzte an, der Fachärztin für Allgemeinmedizin M vom 12.04.2016 und des Facharztes für Allgemeinmedizin und Psychotherapie Dr. P vom 19.04.2016. Danach holte die Beklagte ein Gutachten des Facharztes für Orthopädie und Rheumatologie Dr. F ein. Dieser diagnostizierte nach Untersuchung der Klägerin am 08.08.2016 eine Rheumatoide Arthritis (rheumatische Vielgelenkentzündung) unter kombinierter medikamentöser Therapie remittiert, klinisch ohne Entzündungsaktivität mit Faustschlussdefizit 2.-4. Finger beidseits, bisher noch nicht funktionsverbessernd behandelt und wiederkehrender Belastungsschmerz der unteren Lendenwirbelsäule ohne Funktionseinschränkung, ohne Nervenwurzelbeteiligung, ursächlich noch nicht abgeklärt; Zustand nach Lasernukleotomie L4/L5, L5/S1 in 02/2010 sowie anhaltende somatoforme Schmerzstörung. Im Ergebnis hielt Dr. F leichte bis mittelschwere körperliche Arbeiten unter Ausschluss von Nachtschicht arbeitstäglich sechs Stunden und mehr für zumutbar. Aufgrund der immunsuppressiven Therapie sollten das Immunsystem belastende Nacht- und Wechselschichtarbeiten, Tätigkeiten unter hohem Zeitdruck mit erhöhter Unfallgefahr sowie unter Kälte, Nässe und starken Temperaturschwankungen nicht ausgeübt werden. Auf diese Leistungsbeurteilung gestützt wies die Beklagten den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 21.11.2016 zurück.

Hiergegen hat die Klägerin am 15.12.2016 Klage erhoben und vorgebracht, sie sei seit 2010 durchgängig in ihrem Leistungsvermögen eingeschränkt. Sie leide zwischenzeitlich zudem an den Folgen einer rheumatoiden Arthritis.

Die Klägerin hat lt. Protokoll vom 17.09.2018 beantragt,

die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 22.02.2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21.11.2016 zu verurteilen, ihr Rente wegen Erwerbsminderung über den 29.02.2016 hinaus zu gewähren.

Die Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie hat an ihrer Auffassung festgehalten, das körperliche Leistungsvermögen der Klägerin lasse seit März 2016 eine mehr als sechsstündige Tätigkeit unter arbeitsmarktüblichen Bedingungen wieder zu.

Das Sozialgericht hat Befundberichte der behandelnden Ärzte eingeholt, des Facharztes für Allgemeinmedizin Dr. P vom 23.02.2017 (der zuletzt am 22.03.2016 behandelt hat), der Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie T1 vom 06.03.2017, der Fachärztin für Allgemeinmedizin Dr. M vom 22.03.2017.

Sodann hat das Sozialgericht ein neurologisch-psychiatrisches Gutachten und ein orthopädisches Zusatzgutachten eingeholt.

Der Facharzt für Orthopädie C diagnostizierte nach Untersuchung der Klägerin am 04.04.2018

- Psoriasis-Arthropathie ohne nachweisbare Entzündungskonstellation in den von Synovialgewebe ausgekleideten Strukturen und ohne Funktionseinschränkungen
- rezidivierende Lumbalgien bei einer Fehlhaltung der Lendenwirbelsäule und mäßigen Verschleißprozessen in der Bewegungsetage L2/L3 sowie (in noch geringer Ausprägung) im Segment L5/S1.

Nervenwurzelreizerscheinungen oder Nervenwurzelkompressionserscheinungen, die an der Lendenwirbelsäule ihren Ursprung haben könnten, seien nicht zu belegen. Als leistungseinschränkend wirkte sich die Abschwächung der Bauchmuskulatur der Klägerin aus. Im Ergebnis hielt er die Klägerin für in der Lage, körperlich mittelschwere Arbeiten arbeitstäglich sechs Stunden und mehr auszuüben. Auszuschließen seien Tätigkeiten am Fließband und in Nachtschicht. Die Klägerin könne Wege von etwas mehr als 500 m Länge viermal am Tag zurücklegen und benötige pro Distanz nicht länger als 20 Minuten. Sie könne öffentliche Verkehrsmittel benutzen und sei nicht beim Steuern eines Kraftfahrzeugs eingeschränkt.

Der Facharzt für Neurologie und Psychiatrie S1 diagnostizierte nach Untersuchung der Klägerin unter Hinzuziehung einer Dolmetscherin am 17.01.2017

- seelisches Leiden (anhaltende somatoforme Schmerzstörung, sich auch z.T. körperlich (somatisiert) ausdrückende Depression)
- Wirbelsäulenleiden bei Verschleißerscheinungen ohne beweisende Zeichen einer Nervenwurzelreizung oder Nervenwurzelquetschung.

Gegenüber dem Bericht des Facharztes T würde kein Anhalt für psychotische Symptome gesehen, insbesondere seien keine optischen oder akustischen Halluzinationen berichtet worden. Bestätigt würde allerdings die Diagnose einer depressiven Erkrankung und einer Somatisierungsstörung. Dr. S sei die seelische Dekompensationsneigung und die innerseelische Dynamik der Klägerin eher verborgen geblieben. Im Ergebnis hielt der Sachverständige leichte, gelegentlich mittelschwere körperliche Arbeiten drei bis unter sechs Stunden täglich für zumutbar. Es bestehe eine Depression von Krankheitswert. Depressionen seien regelhaft mit einer Einschränkung des Konzentrationsvermögens aufgrund der Stoffwechselveränderung des Hirns im Rahmen der Depression verbunden. Von daher sei die Klägerin nicht in der Lage, die auch für einfachste Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes erforderliche Konzentration für die Dauer eines gesamten Arbeitstages aufzubringen. Es sei nicht beweisend nachvollziehbar, dass zum Zeitpunkt des Gutachtens von Dr. S tatsächlich eine entscheidende Verbesserung der seelischen Verfassung vorgelegen habe.

Mit dem angefochtenen Urteil vom 17.07.2018 hat das Sozialgericht den Bescheid der Beklagten vom 22.02.2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21.11.2016 aufgehoben und die Beklagte verurteilt, der Klägerin über den 30.06.2017 hinaus befristet bis zum 30.06.2020 eine Rente wegen voller Erwerbsminderung zu zahlen. Nach § 102 Abs 2 SGB VI sei die wegen Verschlossenheit des Arbeitsmarktes zu leistende Rente zwingend zu befristen. Eine Änderung der Verschlossenheit des versicherungspflichtigen Teilzeitarbeitsmarktes sei nicht zu erwarten. Daher sei die Rente entsprechend § 102 Abs 2 S 2 SGB VI für längstens drei Jahre ab Weitergewährung über den 30.06.2017 hinaus bis zum 30.06.2020 zu befristen.

Gegen dieses ihr am 02.11.2018 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 19.11.2018 Berufung eingelegt.

Die Beklagte hat darauf hingewiesen, dass die Klägerin im Rahmen der bekannten strafrechtlichen Ermittlungen gegen S T beteiligt gewesen sei. Das Verfahren sei unter dem Aktenzeichen 00 Js x/17 bei der Staatsanwaltschaft B geführt worden. Die Aufhebung des Rentenbescheides nach § 48 SGB X ab März 2016 fuße auf dem Gutachten von Dr. S. Dieser habe wie auch der Orthopäde Dr. F festgestellt, dass die Klägerin vollschichtig auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt Tätigkeiten ausüben könne. In einer beigefügten Stellungnahme vertritt der Abteilungsleiter des Ärztlichen Dienstes der Beklagten Dr. L die Auffassung, der Sachverhalt sei durch das Sozialgericht nicht hinreichend aufgeklärt. Die in seiner beratungsärztlichen Stellungnahme vom 16.05.2018 ausgeführte Kritik sei nicht beachtet worden. Dort hatte er gerügt, die Erhebungen des Gutachters S1 zur Alltagsanamnese seien weniger ausführlich als diejenigen im Rentengutachten des Arztes Dr. S. Greifbare Anhaltspunkte für eine bedeutsam geminderte Ausdauerfähigkeit ließen sich aus den Aktivitätsbeschreibungen der Klägerin nicht gewinnen. Die in der Untersuchungssituation beschriebenen Konzentrationsstörungen seien eher kursorisch formulierte psychopathologische Auffälligkeiten und stellten keine hinreichende Basis für eine systemische Reduzierung der täglichen Arbeitszeit auf unter sechs Stunden täglich dar. Im Rentengutachten von Dr. S seien demgegenüber keine wesentlichen Störungen des Konzentrations- und Reaktionsvermögens festgestellt worden. Dr. S habe im Übrigen auf eine deutliche Diskrepanz zwischen der angegebenen Schwere der Erkrankung und den therapeutischen Maßnahmen hingewiesen. Ein Blutspiegel habe den Schluss zugelassen, dass das angegebene Medikament nicht regelmäßig eingenommen worden sei. Zudem wäre eine Bestätigung durch testpsychologische Verfahren erforderlich gewesen.

Im Termin zur Erörterung des Sachverhalts am 24.04.2019 hat der Senat darauf hingewiesen, dass vorliegend Streitgegenstand alleine die Aufhebung der befristeten Bewilligung von Rente für die Zeit vom 01.03.2016 bis zum 30.06.2017 ist und richtige Klageart somit die Anfechtungsklage.

Schriftsätzlich hat der Senat darauf hingewiesen, vorliegend sei streitentscheidend, ob im Leistungsbild der Klägerin zum Zeitpunkt der Untersuchung durch Dr. S gegenüber dem Leistungsbild der Klägerin zum Zeitpunkt der Weitergewährungsentscheidung eine wesentliche Änderung eingetreten sei. Dies setze denknotwendig voraus, dass eine belastbare Feststellung für den Zeitpunkt Mai 2014 vorliege.

Die Beklagte hat daraufhin schriftsätzlich geantwortet, es sei weiterhin ein Leistungsvermögen von unter drei Stunden für Mai 2014 angenommen worden. Grundlage der Leistungsbeurteilung seien die gesamten Vorbefunde aus den Renten- und Weiterzahlungs-Verfahren seit 2010 gewesen sowie der damals vorgelegte Befundbericht des Facharztes T vom 14.05.2014.

Beide Beteiligte haben mitgeteilt, dass auch nach ihrer Auffassung Streitgenstand lediglich die Aufhebung der Bewilligung von Rente für die Zeit vom 01.03.2016 bis zum 30.06.2017 sei (Schriftsatz der Beklagten vom 03.06.2019 und Schriftsatz des Klägerbevollmächtigen vom 25.06.2019).

Der Senat hat zu den Fragen seiner Beweisanordnung vom 07.08.2019 ein psychiatrisch-psychotherapeutisches Gutachten von der Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie E E1 eingeholt. Diese führte die Untersuchung mit der Klägerin in deren türkischen Muttersprache am 30.10. sowie am 04.11.2019 durch. Die Sachverständige kam zu dem Ergebnis, das Leistungsbild der Klägerin im Dezember 2015 habe sich gegenüber dem Leistungsbild der Klägerin aus Mitte 2014 sowohl eigenanamnestisch als auch nach Aktenlage nicht verändert. Wegen der Einzelheiten wird auf das Gutachten Bezug genommen.

Die Beklagte hat in Auswertung des Gutachtens an ihrer Auffassung festgehalten, eine wesentliche Änderung im Leistungsbild der Klägerin sei erst mit dem Gutachten des Arztes für Nervenheilkunde Dr. S belegt.

Mit Richterbrief vom 14.05.2020 sind die Beteiligten zur beabsichtigten Anwendung des § 153 Abs 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG) angehört worden. Die Beklagte hat schriftsätzlich mitgeteilt, eine Stellungnahme hierzu sei nicht beabsichtigt.

Wegen weiterer Einzelheiten wird auf den Inhalt der Akten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Der Senat weist die Berufung durch Beschluss zurück, da er die Berufung einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält, § 153 Abs 4 S 1 SGG.

Gegenstand des Klageverfahrens war alleine der mit Klage angegriffene Bescheid der Beklagten vom 22.02.2016, mit welchem die Weiterbewilligung von Rente wegen voller Erwerbsminderung durch Bescheid vom 22.05.2014 ab dem 01.03.2016 aufgehoben worden war. Richtige Klageart war somit die reine Anfechtungsklage (§ 54 Abs 1 S 1 Alt 1 SGG). Insofern ist das Sozialgericht mit seiner Verurteilung der Beklagten zur Zahlung befristeter Rente wegen voller Erwerbsminderung über den 30.06.2017 hinaus bis zum 30.06.2020 über die ursprüngliche Bewilligung der Beklagten hinausgegangen. Der Klägerbevollmächtigte hat ausweislich des Protokolls im Termin zur Erörterung des Sachverhalts am 24.04.2019 erklärt, es sei hier lediglich um eine Anfechtungsklage hinsichtlich des Aufhebungszeitraums 01.03.2016 bis 30.06.2017 gegangen. Dementsprechend bedurfte es auch keiner teilweisen Klagerücknahme und ist der Tenor des erstinstanzlichen Urteils neu zu fassen. Beide Beteiligte haben schriftsätzlich bestätigt, Streitgegenstand des Berufungsverfahrens sei lediglich der Aufhebungszeitraum vom 01.03.2016 bis zum 30.06.2017.

Diese Berufung ist zulässig, jedoch nicht begründet.

Die teilweise Aufhebung des Bescheides vom 22.05.2014 ist nach dem Ergebnis der vom Senat durchgeführten Beweisaufnahme materiell rechtswidrig. Zur Überzeugung des Senates fehlt es an einer nach Bekanntgabe des Bescheides vom 22.05.2014 eingetretenen wesentlichen Änderung der tatsächlichen Verhältnisse im Sinne einer Änderung des rentenrechtlich relevanten Leistungsvermögens der Klägerin.

Rechtsgrundlage für die Aufhebung der Weiterbewilligung von Rente wegen voller Erwerbsminderung mit Bescheid vom 22.05.2014 für die Zeit ab dem 01.03.2016 bis zum 30.06.2017 ist § 48 Abs 1 S 1 SGB X. Danach ist der Verwaltungsakt mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die beim Erlass eines Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt. Erwerbsgemindert ist nach § 43 Abs 3 Sozialgesetzbuch Sechstes Buch - Gesetzliche Rentenversicherung (SGB VI) nicht, wer unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig sein kann.

Der Beklagten gelingt nicht der Nachweis, dass in den tatsächlichen Verhältnissen, genauer der sozialmedizinischen Leistungsfähigkeit der Klägerin, zum Zeitpunkt der Aufhebungsentscheidung gegenüber dem Zeitpunkt des Erlasses des Bescheides vom 22.05.2014 eine wesentliche Änderung eingetreten ist.

Der Senat folgt sowohl der von dem Facharzt für Nervenheilkunde Dr. S als auch der Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie E E1 vertretenen Auffassung, dass die Klägerin ab Dezember 2015 (dem Zeitpunkt der Begutachtung durch Dr. S) in der Lage gewesen ist, körperlich leichte Arbeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes unter arbeitsmarktüblichen Bedingungen arbeitstäglich mindestens sechs Stunden und mehr zu verrichten. Ihr waren ständig geistig einfache Arbeiten und solche mit durchschnittlichen Anforderungen an die kognitiven Fähigkeiten möglich. Zusätzliche Arbeitspausen waren nicht notwendig. Krankheitsbedingt notwendige Ausfallzeiten in größerem Umfang waren prospektivisch nicht zu erwarten. Diese für Dezember 2015 abgegebene Leistungsbeurteilung gründet die Sachverständige im Wesentlichen auf die Krankheitsakte, das ärztliche Gutachten des Dr. S sowie die im Rahmen der Eigenanamnese gewonnenen Erkenntnisse. Das beschriebene Leistungsbild lässt sich sich unter Berücksichtigung dieser Grundlagen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit feststellen.

Die Weiterbewilligungsentscheidung der Beklagten vom 22.05.2014 basierte auf den Vorbefunden aus den Renten- und Weiterzahlungsverfahren seit 2010 sowie dem damals eingeholten Befundbericht des behandelnden Neurologen und Psychiaters T vom 14.05.2014.

Der Senat folgt der Sachverständigen E E1 in ihrer Feststellung, dass die Klägerin Mitte 2014 körperlich leichte Tätigkeiten ständig und mittelschwere Tätigkeiten gelegentlich sowie geistig einfache Arbeiten mit durchschnittlichen Anforderungen an die kognitiven Fähigkeiten arbeitstäglich sechs Stunden und mehr unter betriebsüblichen Bedingungen und ohne zusätzliche Arbeitspausen regelmäßig ausüben konnte. Dieses Leistungsbild stellt die Sachverständige in Auswertung der Krankenakte sowie der im Rahmen ihrer Eigenanamnese gewonnenen Erkenntnisse mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit fest. Die von dem seinerzeit behandelnden Neurologen und Psychiater T festgestellte Diagnose einer schweren depressiven Episode, zeitweilig mit psychotischen Symptomen ist nicht nachvollziehbar. So wurde in der psychosomatischen Rehabilitationsklinik lediglich eine mittelgradige depressive Episode festgestellt und die Klägerin als vollschichtig erwerbsfähig angesehen. Ferner ist dem Arztbrief der Fachärztin für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie T1 vom 22.02.2016 lediglich die Diagnose einer mittelgradigen depressiven Episode zu entnehmen. Schließlich räumt sogar die beratende Ärztin Dr. C1 in deren Stellungnahme vom 07.04.2020 (vorgelegt mit Schriftsatz der Beklagten vom 04.05.2020) ein, es könne der Sachverständigen E E1 bei rückblickender Betrachtungsweise gefolgt werden, "dass sich Zweifel an der Richtigkeit der von Herrn T mit Befundbericht vom 14.05.2014 dokumentierten Befunde und mit der dokumentierten Medikation laut Patientenkartei Auszug 2014 ergeben und dass rückblickend ggf. ab dem Behandlungsbericht 10/14 des Rheumatologen bereits eine Besserung des Leistungsvermögens zu diskutieren sei".

Das Leistungsbild der Klägerin hat sich im Dezember 2015 gegenüber dem Mitte 2014 sowohl eigenanamnestisch als auch nach Aktenlage nicht verändert.Die tatbestandliche Voraussetzung einer wesentlichen Änderung der tatsächlichen Verhältnisse hinsichtlich des rentenrechtlich relevanten Leistungsvermögens im Sinne des § 48 SGB X ist somit gegenüber dem Zeitpunkt der Bewilligungsentscheidung nicht festzustellen. Der Nachweis einer wesentlichen Änderung der tatsächlichen Verhältnisse scheitert zur Überzeugung des Senates also daran, dass sich ein Anspruch der Klägerin auf Rente wegen Erwerbsminderung bzw. die Erfüllung der gesetzlichen Voraussetzungen hierfür zum Zeitpunkt der Rentenbewilligung nicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit feststellen lassen.

Nach vorstehendem Ergebnis war der Bewilligungsbescheid vom 22.05.2014 bereits zum Zeitpunkt seines Erlasses materiell rechtswidrig. Seine Korrektur hätte insofern allenfalls über § 45 SGB X erfolgen können.

Eine gebundene Entscheidung nach § 48 Abs 1 S 1 SGB X, wie sie die Beklagte ausweislich des Verfügungssatzes ihres Aufhebungsbescheides vom 22.02.2016 getroffen hat, kann nach § 43 Abs 3 SGB X nicht in eine Ermessensentscheidung umgedeutet werden. Eine Umdeutung ist auch nicht ausnahmsweise deshalb zulässig, weil auch eine Entscheidung gemäß § 45 Abs 1 SGB X "gebunden" wäre. Dies wäre nur dann der Fall, wenn ausnahmsweise nur eine bestimmte Rücknahmeentscheidung rechtmäßig wäre, wenn sich also das Ermessen durch "Verdichtung der Ermessensgrenzen" auf Null reduziert hätte und jeder Verwaltungsakt mit einem anderen Regelungsinhalt rechtsfehlerhaft wäre. Dies trifft hier jedoch nicht zu. Denn Grundlage der Rentenbewilligung ist die sozialmedizinische Leistungsbeurteilung des ärztlichen Dienstes der Beklagten und für die Feststellung der Voraussetzungen des § 45 Abs 2 S 3 SGB X gibt es vorliegend auch nach dem Ergebnis des Strafverfahrens kein Substrat.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG und berücksichtigt das Obsiegen der Klägerin hinsichtlich des oben beschriebenen Streitgegenstandes.

Gründe für die Zulassung der Revision nach § 160 Abs 2 Nr 1 und 2 SGG liegen nicht vor, § 153 Abs 4 S 3 iVm § 158 S 3 SGG.
Rechtskraft
Aus
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