L 13 VE 40/19

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
13
1. Instanz
SG Münster (NRW)
Aktenzeichen
S 11 VE 19/16
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 13 VE 40/19
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Münster vom 27.06.2019 wird zurückgewiesen. Außergerichtliche Kosten der Klägerin sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten um Rentenleistungen nach dem Gesetz zur Verhütung und Bekämpfung von Infektionskrankheiten beim Menschen (IfSG) i.V.m. dem Bundesversorgungsgesetz (BVG).

Die am 00.00.1959 geborene Klägerin ist gelernte Zahntechnikerin, verheiratet und hat zwei Kinder. Am 04.12.1995 wurde sie von ihrem damaligen Hausarzt Dr. H mit dem Präparat Begrivac 95 gegen Influenza geimpft. Bei dem zuletzt von Novartis vertriebenen Impfstoff Begrivac handelte es sich um ein inaktives Influenza-Virus. 2012 erlosch die Zulassung für diesen Impfstoff (Bekanntmachung Nr. 377 über die Zulassung von Impfstoffen vom 08.10.2012 des Paul-Ehrlich-Institutes - PEI). In der Fachinformation von Begrivac 2010/2011 (Stand: Mai 2010) werden als neurologische Nebenwirkungen, die in klinischen Studien beobachtet wurden, nur Kopfschmerzen angegeben. Als neurologische Nebenwirkungen, die nach Vermarktung berichtet wurden, werden Neuralgien, Parästhesien, Fieberkrämpfe, neurologische Erkrankungen wie z.B. Enzephalomyelitis, Neuritis und Guillain-Barré-Syndrom (GBS) genannt.

In der Patientenkartei von Dr. H wurden am 24.07.1996 Sensibilitätsstörungen und motorische Schwäche in der rechten unteren Extremität genannt, am 29.07.1997 ein Wurzelreizsyndrom rechts mit Sensibilitätsstörungen in den Zehen und am 10.06.1998 sowie 22.06.1998 Neuralgien bzw. Sensibilitätsstörungen der Arme und Beine. Im Dezember 1998 wurde in der damaligen Klinik und Poliklinik für Neurologie der Universität N erstmals eine chronisch-inflammatorische demyelinisierende Polyneuropathie (CIDP) diagnostiziert. Laut dem damaligen Bericht gab die Klägerin an, ab Januar 1996 aufsteigende Kribbelparästhesien/Taubheitsgefühl der Füße bis zur Kniekehle, zusätzlich Paresen der Beine und des Schultergürtels gehabt zu haben. Die Erkrankung CIDP besteht nach sämtlichen insofern übereinstimmenden Behandlungsberichten bis heute. Einmalig, nämlich im Entlassungsbericht der Klinik S über einen stationären Aufenthalt Ende 2008, wird als Diagnose "GBS (CIDP)" genannt. Die CIDP wurde wiederholt mit Immunglobulinen behandelt, wobei die Wirksamkeit der Behandlung nach Therapieende regelmäßig wieder nachließ.

2003 wurde wegen der Folgen der CIDP ein GdB von 50 und das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens "G", 2007 ein GdB von 60 und 2009 ein GdB von 70 festgestellt. Seit 2008 bezieht die Klägerin Rentenleistungen wegen voller Erwerbsminderung.

Am 05.11.2014 beantragte die Klägerin unter Vorlage diverser Unterlagen beim Beklagten Leistungen nach dem IfSG i.V.m. dem BVG. Infolge der Impfung mit Begrivac leide sie an einem GBS / einer CIDP. Der Beklagte zog Behandlungsunterlagen, die Akten des Kreises Warendorf zum Schwerbehindertenrecht sowie die Akten der Deutschen Rentenversicherung bei, holte Auskünfte der Krankenkasse der Klägerin sowie des PEI ein und ließ die Klägerin versorgungsärztlich durch die Sozialmedizinerin Dr. C untersuchen. Das PEI teilte mit, die CIDP sei als unbekanntes unerwünschtes Ereignis nach Impfung mit Begrivac nicht bekannt, das GBS werde dagegen in der Fachinformation genannt. Das PEI könne einen ursächlichen Zusammenhang einer CIDP nach Impfung mit Begrivac nicht abschließend beurteilen. Dr. C führte aus, ein GBS habe nicht vorgelegen. Eine Verursachung der CIDP durch die Impfung sei nicht wahrscheinlich, da es keine wissenschaftlichen Erkenntnisse über ein gehäuftes Auftreten einer CIDP nach Grippeimpfung gebe. Der Beklagte lehnte entsprechend den Antrag mit Bescheid vom 10.12.2015 ab. Die Klägerin legte am 05.01.2016 Widerspruch ein. Es sei ausreichend, dass ein plausibler zeitlicher Zusammenhang zwischen den ersten Symptomen und der Impfung bestehe und diese Symptome nicht anderweitig zu erklären seien. Dr. C führte in einer weiteren Stellungnahme hierzu aus, ein zeitlicher Zusammenhang sei gerade nicht ausreichend. Der Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 07.04.2016 zurück.

Die Klägerin hat am 19.04.2016 Klage beim Sozialgericht Münster erhoben und ihr Vorbringen wiederholt und vertieft.

Das Sozialgericht hat Befundberichte und ein Sachverständigengutachten des Oberarztes der Klinik für Neurologie des Klinikums F, Dr. med. Dr. rer. nat. T aufgrund ambulanter Untersuchung der Klägerin eingeholt. Dr. Dr. T hat ausgeführt, es liege eine CIDP vor, die sich aus einem GBS entwickelt habe. Unterformen der CIDP und des GBS seien sich sehr ähnlich. Ein GBS könne auch in eine CIDP übergehen. Davon sei hier auszugehen. Eine klare Trennung von GBS und CIDP sei weder möglich, noch sinnvoll. Es seien durchaus Assoziationen von Impfungen und CIDP beschrieben. Der zeitliche Zusammenhang der von der Klägerin beschriebenen Symptome und der Impfung spreche für einen Kausalzusammenhang. Der GdS betrage 100.

Der Beklagte hat schriftliche Stellungnahmen nach Aktenlage des Direktors des Instituts für Medizinische Mikrobiologie, Immunologie und Hygiene der Klinik L1, Prof. Dr. L, vorgelegt. Prof. Dr. L hat ausgeführt, CIDP und GBS seien zwar verwandt, aber abgrenzbare Krankheitsbilder, was sich auch im ICD-10 zeige. Die Gründe für die Entstehung der hier vorliegenden CIDP seien letztlich unbekannt. Es fehle an einer biologischen Plausibilität für einen Ursachenzusammenhang. Dann könne keine wahrscheinliche Verursachung der CIDP durch die Impfung angenommen werden. Für das GBS werde in der Wissenschaft zwar eine Verursachung durch eine Grippeimpfung nicht ausgeschlossen. Umgekehrt fehle es aber auch an einer epidemiologischen Evidenz für einen solchen Ursachenzusammenhang.

Das Sozialgericht hat die Klage mit Urteil aufgrund mündlicher Verhandlung vom 27.06.2019 unter Bezugnahme auf die Stellungnahmen von Prof. Dr. L abgewiesen.

Die Klägerin hat gegen das ihrem Bevollmächtigten am 09.08.2019 zugestellte Urteil am 20.08.2019 Berufung eingelegt.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Münster vom 27.06.2019 zu ändern und den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 10.12.2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 07.04.2016 zu verurteilen, ihr ab November 2014 Rentenleistungen nach dem IfSG i.V.m. dem BVG nach einem GdS von 100 zu gewähren.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Der Senat hat von Amts wegen ein Sachverständigengutachten des Chefarztes der Klinik für Neurologie und Klinische Neurophysiologie F, des Arztes für Neurologie und Psychiatrie PD Dr. L2 aufgrund ambulanter Untersuchung eingeholt. PD Dr. L2 hat ausgeführt, die Klägerin habe ihm gesagt, dass sie unmittelbar nach der Impfung keine Beschwerden gehabt habe. Erst in der zweiten Januarwoche habe sich ein schweres Krankheitsgefühl mit Fieber, Kopf- und Gliederschmerzen entwickelt. Erst 2008, als sich ihre Erkrankung immer weiter verschlechtert habe, habe sie sich in Internetforen und bei Selbsthilfegruppen informiert und einen Zusammenhang mit der Impfung hergestellt. PD Dr. L2 hat eine CIDP diagnostiziert. Ein GBS habe zu keinem Zeitpunkt vorgelegen. Eine schwere aufsteigende Lähmung im Sinne eines GBS sei nach der Impfung nicht dokumentiert. Auch die vom Uniklinikum Münster 1998 erhobenen Befunde sprächen gegen ein GBS. Dieses sei nach dem Stand der medizinischen Erkenntnisse auch eindeutig von einer CIDP abgrenzbar. Es sei hervorzuheben, dass die CIDP erst Ende 1998 diagnostiziert worden sei. Für die Zeit davor lägen keine neurologischen Befunde vor. Soweit sich infolge einer Impfung Neuritiden entwickelten, träten diese üblicherweise Tage bzw. Wochen nach der Impfung auf und müssten auch entsprechend nachweisbar sein, was hier nicht der Fall sei. Die von der Klägerin als über Jahre schleichend zunehmend beschriebene Symptomentwicklung passe nicht zum Verlauf einer CIDP, bei der es typischerweise schon bald nach den ersten Symptomen zu motorischen Ausfällen komme. Ausgehend von den Angaben der Klägerin habe es über einen Zeitraum von vier Wochen nach der Impfung gar keine Beschwerden gegeben. Soweit man allein aufgrund der Angaben der Klägerin von einer CIDP schon im Jahre 1996 ausgehen wolle, müsse man auch eine post-infektiöse Genese in Betracht ziehen. Immerhin habe die Klägerin eine schwere Infektion in der zweiten Januarwoche 1996 beschrieben. Jedenfalls werde weder in der Fachinformation zu Begrivac, noch von Fachgesellschaften oder sonst in der Literatur ein Zusammenhang zwischen einer Influenza-Impfung und einer CIDP hergestellt. Hinsichtlich des GBS gebe es gewisse Signale für ein leicht erhöhtes Auftreten nach einer Influenzaimpfung, weswegen ein Kausalzusammenhang nicht ausgeschlossen werden könne. Unabhängig davon aber, dass es auch gegenteilige Studien gebe und es sich lediglich um zeitliche Koinzidenzen handeln könne, sei ein GBS hier zu keinem Zeitpunkt nachweisbar. Es liege kein Impfschaden vor. Dr. Dr. T verkenne, dass ein GBS nie nachgewiesen worden sei. Seine Behauptung zur fehlenden Abgrenzbarkeit von CIDP und GBS entspreche nicht dem Stand der medizinischen Erkenntnisse. Seinem Gutachten könne keine Auseinandersetzung mit der Literatur speziell zur Frage eines Zusammenhangs der Influenzaimpfung mit den hier diskutierten Erkrankungen entnommen werden. Im Übrigen sei der von ihm befürwortete GdS von 100 angesichts des erhaltenen Funktionsniveaus nicht nachvollziehbar. Das Gutachten ist der Klägerin am 25.05.2020 übersandt worden.

Am 14.07.2020 ist zum Termin zur mündlichen Verhandlung am 21.08.2020 geladen worden.

Mit einem am späten Abend des 13.08.2020 übersandten Schriftsatz hat die Klägerin ausgeführt, PD Dr. L2 habe ihre Einschränkungen nicht richtig erfasst. Bereits unmittelbar nach der Impfung sei ihr unwohl gewesen. Bereits Anfang Januar 1996 und lange bevor sie sich erheblich krank gefühlt habe, habe ein Taubheitsgefühl im Bereich des großen Zehs bestanden. Dass ihre Erkrankung erst spät erkannt worden sei, könne ihr nicht angelastet werden. Die Sachverständigen seien mündlich, hilfsweise schriftlich ergänzend zu hören.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakten und die beigezogenen Verwaltungsakten des Beklagten Bezug genommen, deren jeweiliger wesentlicher Inhalt Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung ist unbegründet.

Das Sozialgericht hat die Klage zu Recht abgewiesen, da diese zulässig, aber unbegründet ist. Die Klägerin ist durch die angefochtenen Bescheide nicht im Sinne von § 54 Abs. 2 Satz 1 SGG beschwert, da diese rechtmäßig sind. Sie hat keinen Anspruch auf die Rentenleistungen nach dem IfSG i.V.m. dem BVG.

Rechtsgrundlage für den Anspruch auf Rentenleistungen wegen eines Impfschadens sind §§ 60 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, 61 Satz 2 IfSG i.V.m. §§ 9 Abs. 1 Nr. 3, 31 Abs. 1 Satz 1 BVG.

Nach § 60 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 IfSG erhält, wer durch eine Schutzimpfung oder durch eine andere Maßnahme der spezifischen Prophylaxe, die von einer zuständigen Landesbehörde öffentlich empfohlen und in ihrem Bereich vorgenommen wurde, eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, nach der Schutzimpfung wegen des Impfschadens im Sinne des § 2 Nr. 11 ... wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen der Schädigung auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes ... Gemäß § 2 Nr. 11 IfSG ist Impfschaden die gesundheitliche und wirtschaftliche Folge einer über das übliche Ausmaß einer Impfreaktion hinausgehenden gesundheitlichen Schädigung durch die Schutzimpfung ...

Der Anspruch setzt demnach eine unter den Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 Satz 1 IfSG erfolgte Schutzimpfung, den Eintritt einer über eine übliche Impfreaktion hinausgehenden gesundheitlichen Schädigung, also eine Impfkomplikation, sowie eine - dauerhafte - gesundheitliche Schädigung, also einen Impfschaden, voraus. Zwischen den jeweiligen Anspruchsmerkmalen muss ein Ursachenzusammenhang bestehen. Maßstab dafür ist die im sozialen Entschädigungsrecht allgemein geltende Kausalitätstheorie von der wesentlichen Bedingung. Danach ist aus der Fülle aller Ursachen im naturwissenschaftlich-philosophischen Sinne diejenige Ursache rechtlich erheblich, die bei wertender Betrachtung wegen ihrer besonderen Beziehung zu dem Erfolg bei dessen Eintritt wesentlich mitgewirkt hat. Als wesentlich sind diejenigen Ursachen anzusehen, die unter Abwägen ihres verschiedenen Wertes zu dem Erfolg in besonders enger Beziehung stehen, wobei Alleinursächlichkeit nicht erforderlich ist. Die Impfung und sowohl die als Impfkomplikation in Betracht kommende als auch die dauerhafte Gesundheitsstörung müssen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit - im sogenannten Vollbeweis - feststehen. Allein für die zwischen diesen Merkmalen erforderlichen Ursachenzusammenhänge reicht der Beweismaßstab der Wahrscheinlichkeit aus, § 61 Satz 1 IfSG. Wahrscheinlichkeit ist anzunehmen, wenn mehr Umstände für als gegen die Kausalität sprechen. Die bloße Möglichkeit reicht nicht aus (vgl. zum Ganzen BSG, Urteil vom 07.04.2011 - B 9 VJ 1/10 R, juris Rn 36 ff.).

Alle medizinischen Fragen, insbesondere zur Kausalität von Gesundheitsstörungen, sind auf der Grundlage des im Entscheidungszeitpunkt neuesten medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnisstandes zu beantworten. Hierzu konnten die sogenannten Anhaltspunkte (AHP) herangezogen werden, die als antizipierte Sachverständigengutachten angesehen wurden. Seit den AHP 2008, die mittlerweile durch die Anlage zu § 2 der Versorgungsmedizinverordnung (Versorgungsmedizinische Grundsätze - VMG) ersetzt wurden, sind darin aber keine detaillierten Angaben zu Impfkomplikationen mehr enthalten. Im Zusammenhang mit der Streichung der betreffenden Teile der AHP wurde darauf hingewiesen, dass die beim Robert-Koch-Institut (RKI) eingerichtete Ständige Impfkommission (STIKO) Kriterien zur Abgrenzung einer üblichen Impfreaktion und einer über das übliche Ausmaß der Impfreaktion hinausgehenden gesundheitlichen Schädigung (Impfschaden) entwickelt. Die Arbeitsergebnisse der STIKO werden im Epidemiologischen Bulletin veröffentlicht und stellen den jeweiligen aktuellen Stand der Wissenschaft dar (vgl. zum Ganzen BSG, Urteil vom 07.04.2011 - B 9 VJ 1/10 R, juris Rn 39 ff.). Bei Anwendung der AHP und der Empfehlungen der STIKO ist zum einen zu überprüfen, ob diese dem aktuellen Stand der medizinischen Erkenntnisse entsprechen, zum anderen, ob sie sich auch auf den betreffenden Impfstoff beziehen (vgl. hierzu BSG, a.a.O., Rn 43; Meßling, in: Knickrehm, Gesamtes Soziales Entschädigungsrecht, 1. Aufl. 2012, § 61 IfSG Rn 18).

Bislang wurde zur Abgrenzung üblicher Impfreaktionen von Impfkomplikationen nach der vom BSG bestätigten Rechtsprechung des Senats auf die Ausführungen im Epidemiologischen Bulletin Nr. 25/2007 vom 22.06.2007 zurückgegriffen. Dort heißt es nun, dass diese Hinweise nicht mehr gültig seien: "Hinweise zur Abgrenzung üblicher Impfreaktionen von Impfkomplikationen sowie zum Verfahren der Meldung eines Verdachts einer Impfkomplikation finden Sie im Kapitel 4.9. ‚Impfkomplikationen und deren Meldung‘. Zur Assoziation möglicher unerwünschter Ereignisse mit einzelnen Schutzimpfungen verweist die STIKO auf die jeweilige Fachinformation."

Im Epidemiologischen Bulletin Nr. 34/2020 vom 20.08.2020 heißt es unter Ziffer 4.9 "Impfkomplikationen und deren Meldung, Kriterien zur Abgrenzung einer üblichen Impfreaktion von dem Verdacht auf eine mögliche Impfkomplikation":

"Nach dem Infektionsschutzgesetz (IfSG) (§ 6 Abs. 1, Nr. 3) ist der Verdacht einer Impfkomplikation dem zuständigen Gesundheitsamt zu melden. Diese Meldung gehört zu den ärztlichen Aufgaben. Unter einer Impfkomplikation wird eine über das übliche Ausmaß einer Impfreaktion hinausgehende gesundheitliche Schädigung verstanden. Um eine Impfkomplikation von einer üblichen Impfreaktion, die nicht meldepflichtig ist, abzugrenzen, hat die STIKO, wie nach IfSG (§ 20 Abs. 2) gefordert, Merkmale für übliche Impfreaktionen definiert. Übliche und damit nicht meldepflichtige Impfreaktionen sind das übliche Ausmaß nicht überschreitende, vorübergehende Lokal- und Allgemeinreaktionen, die als Ausdruck der Auseinandersetzung des Organismus mit dem Impfstoff anzusehen sind. Die STIKO hat die folgenden Kriterien für übliche Impfreaktionen entwickelt:
- für die Dauer von 1 - 3 Tagen (gelegentlich länger) anhaltende Rötung, Schwellung oder Schmerzhaftigkeit an der Injektionsstelle;
- für die Dauer von 1 - 3 Tagen Fieber ( 39,5° C (bei rektaler Messung), Kopf- und Gliederschmerzen, Mattigkeit, Unwohlsein, Übelkeit, Unruhe, Schwellung der regionären Lymphknoten;
- im gleichen Sinne zu deutende Symptome einer "Impfkrankheit" 1 - 3 Wochen nach der Verabreichung von attentuierten Lebendimpfstoffen: z. B. eine leichte Parotisschwellung, kurzzeitige Arthralgien oder ein flüchtiges Exanthem nach der Masern-, Mumps-, Röteln- oder Varizellen-Impfung oder milde gastrointestinale Beschwerden, z. B. nach der oralen Rotavirus- oder Typhus-Impfung;
- Ausgenommen von der Meldepflicht sind auch Krankheitserscheinungen, denen offensichtlich eine andere Ursache als die Impfung zugrunde liegt. Alle anderen Impfreaktionen sollen gemeldet werden."

Die 1995 bei der Klägerin durchgeführte Influenzaimpfung war eine öffentlich empfohlene Impfung. Ab 1982 wurde die Influenzaimpfung u.a. für medizinisches Personal empfohlen, (vgl. https://www.rki.de/DE/Content/Infekt/Impfen/Materialien/Poster/Poster Stiko Hist.pdf? blob=publicationFile), wozu die Klägerin seinerzeit gehörte.

Die Klägerin leidet aber nicht an einer Krankheit, für die die 1995 durchgeführte Influenzaimpfung wahrscheinlich wesentlich ursächlich war.

Die Klägerin leidet unstreitig an einer CIDP.

Ein GBS - und sei es auch nur als Vorläufer der CIDP, wie Dr. Dr. T meint - ist nicht nachgewiesen. In den ab 1998 vorliegenden Berichten wird ausschließlich eine CIDP genannt. Lediglich einmal, nämlich 2008 im Bericht der Rehaklinik S wird als Diagnose auch ein GBS genannt. Unter "jetzige Beschwerden" heißt es dort sogar, "die Rehabilitandin erkrankte wahrscheinlich infolge einer Grippeimpfung an GBS " Eine Begründung der Diagnose GBS lässt sich dem Bericht jedoch nicht entnehmen. Unter Berücksichtigung der von PD Dr. L2 eruierten Beschäftigung der Klägerin mit dem Thema Impfschaden spätestens ab 2008 (!) und der Erwähnung des GBS unter "Beschwerden", also den Angaben der Klägerin, liegt es nahe, dass die damalige Diagnose sich allein auf entsprechende Mutmaßungen der Klägerin stützte.

Abgesehen von der fehlenden Dokumentation - in der Kartei von Dr. H finden sich für 1996 erst Einträge ab April, Sensibilitäts- und motorische Störungen erst ab Juni 1996 - passt die Beschwerdeschilderung der Klägerin nach den überzeugenden Ausführungen von PD Dr. L2 auch nicht zum typischen Bild eines GBS als einer schweren aufsteigenden Lähmung.

Zum klinischen Bild des GBS heißt es im Ärzteblatt (1996; 93: A-1895-1898): "Innerhalb von wenigen Tagen bis zu vier Wochen erreichen die Lähmungen ihren Höhepunkt Die Symptome bilden sich in einem monophasischen Verlauf nach einem unterschiedlich langanhaltenden Plateau über Wochen bis Monate wieder zurück. Das Ausmaß der Remission hängt in erster Linie von dem Schweregrad der Axondegeneration mit entsprechenden Muskelatrophien ab Wenngleich die Prognose als gut bezeichnet wird, kommt es nur bei etwa 15 Prozent zu einer vollständigen Rückbildung der Symptome. Etwa zwei Drittel der Patienten behalten leichte neurologische Defizite, wie Fußheberschwäche oder distale Hypästhesien, die das alltägliche Leben nicht wesentlich behindern. Funktionell beeinträchtigende Paresen oder Sensibilitätsstörungen bleiben bei etwa 10 bis 15 Prozent der Patienten bestehen "

Die Klägerin behauptet dagegen einen schleichend progredienten Verlauf.

Auch Dr. Dr. T sieht ein GBS letztlich nicht als erwiesen an. Dies zeigt sich in der Formulierung seiner ergänzenden Stellungnahme vom 03.08.2018 (Hervorhebung durch den Senat): "Sollte (!) bei Frau Q initial ein GBS vorgelegen haben, welches sich im Folgenden chronifizierte , so wäre (!) ein Impfschaden anzuerkennen."

Im Hinblick auf die damit allein nachgewiesene CIDP gibt es nach den überzeugenden Ausführungen von Dr. C, dem PEI, Prof. Dr. L und PD Dr. L2 keine wissenschaftlichen Erkenntnisse, die für einen kausalen Zusammenhang sprechen. Weder in der Fachinformation, noch in den Berichten der Fachgesellschaften, noch in sonstigen Publikationen wird ein Zusammenhang postuliert. Ganz vereinzelte Fallberichte über zeitliche Koinzidenzen, auf die Dr. Dr. T verweist, reichen nicht aus (vgl. hierzu Teil C Nr. 3c Satz 3 VMG).

Dabei ist selbst eine zeitliche Koinzidenz von Impfung und Auftreten der CIDP nicht erwiesen. Unübliche Impfreaktionen hat die Klägerin sowohl gegenüber Dr. C, als auch gegenüber PD Dr. L2 ausdrücklich bis Anfang Januar 1996 verneint. Gegenüber Dr. Dr. T gab sie lediglich "Unwohlsein" direkt nach der Impfung an. Neurologische Auffälligkeiten wurden vom Hausarzt Dr. H - wie bereits ausgeführt - erst ab Mitte 1996 dokumentiert. PD Dr. L2 weist darauf hin, dass sich bei einer CIDP wenige Wochen oder zumindest Monate nach dem klinischen Beginn ein relevant ausgeprägtes Krankheitsbild mit sensiblen und motorischen Störungen wie Reflexie und Gangunsicherheit zeige. Eine derartige Entwicklung sei nicht dokumentiert. Erstmalig diagnostiziert wurde die CIDP erst Ende 1998.

Im Übrigen könnte das von der Klägerin erstmals gegenüber PD Dr. L2 geschilderte und wahrscheinlich infektbedingte Krankheitsgeschehen in der zweiten Januarwoche 1996 eine alternative Ursache darstellen. Zwar hat die Klägerin zuletzt und ausdrücklich in Reaktion auf die Ausführungen von PD Dr. L2 behauptet, sie habe ein Taubheitsgefühl der Großzehe bereits Anfang Januar gehabt und zwar noch "lange bevor" sie sich erheblich krank gefühlt habe. Angesichts des Eigeninteresses der Klägerin an einer Relativierung ihrer gegenüber PD Dr. L2 gemachten Angaben zu einer Alternativursache ist dies jedoch nicht glaubhaft. Entscheidend kommt es auch darauf aber nicht an.

Da das Vorliegen eines GBS zu keinem Zeitpunkt nachgewiesen ist, kommt es schließlich nicht auf die Frage an, ob ein Zusammenhang zwischen Influenzaimpfung und GBS bestehen kann (vgl. zur Frage des Zusammenhangs speziell von GBS und Schweinegrippeimpfung LSG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 30.08.2017 - L 7 VE 7/14, juris Rn. 42 ff.: Anerkennung im Sinne der Kannversorgung; Sächsisches LSG, Urteil vom 19.09.2016 - L 9 VE 17/14, juris Rn. 31 ff.: Ablehnung eines Kausalzusammenhangs; PEI, Zusammenhang zwischen pandemischer Influenza A/H1N1v-Impfung und Guillain-Barré-Syndrom / Miller-Fisher-Syndrom in Deutschland, Ergebnisse einer epidemiologischen Studie des Paul-Ehrlich-Instituts, https://www.pei.de/DE/arzneimittelsicherheit/pharmakovigilanz/forschung/pandemische-inflluenza-impfung-guillan-barre-miller-fisher-syndrom-2.html). Allerdings weisen Prof. Dr. L und PD Dr. L2 darauf hin, dass diverse Studien einen Kausalzusammenhang gerade nicht bestätigen konnten. Da es gleichzeitig Hinweise auf ein geringfügig erhöhtes Auftreten von GBS nach Influenzaimpfungen gebe, könne ein Ursachenzusammenhang nicht sicher ausgeschlossen werden. Dies entspricht der Beurteilung durch die WHO (vgl. WHO, Information Sheet, Observed Rate Of Vaccine Reactions, Influenza Vaccine, Juli 2012, Seite 2). Die Wahrscheinlichkeit einer wesentlichen Ursächlichkeit ließe sich damit nicht begründen.

Eine weitere Sachaufklärung von Amts wegen war nicht geboten. Es war insbesondere nicht erforderlich, sämtliche Sachverständigen im Termin zur mündlichen Verhandlung zu befragen und zwar auch nicht unter dem Gesichtspunkt des aus dem Grundsatz des rechtlichen Gehörs resultierenden Fragerechts (vgl. hierzu und zum Folgenden Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 13. Aufl. 2020, § 118 Rn. 12d ff.). Der am späten Abend des 13.08.2020 und damit im Ergebnis eine Woche vor dem Termin zur mündlichen Verhandlung gestellte Antrag auf Ladung der Sachverständigen zu diesem Termin war nicht rechtzeitig. Er war jedenfalls insofern nicht hinreichend konkret, als lediglich auf unterschiedliche Bewertungen der Sachverständigen verwiesen wurde. Einer Befragung von Dr. Dr. T stand entgegen, dass sich das Fragerecht nur auf Gutachten aus der jeweiligen Instanz bezieht. Der Antrag wurde in der mündlichen Verhandlung nicht aufrechterhalten.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Anlass, die Revision nach § 160 Abs. 2 SGG zuzulassen, besteht nicht.
Rechtskraft
Aus
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