L 15 R 628/20 B

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Sonstige Angelegenheiten
Abteilung
15
1. Instanz
SG Gelsenkirchen (NRW)
Aktenzeichen
S 49 KR 1074/17
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 15 R 628/20 B
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Auf die Beschwerde des Sachverständigen wird der Beschluss des Sozialgerichts Gelsenkirchen vom 20.07.2020 unter Zurückweisung der Anschlussbeschwerde der Staatskasse geändert. Die dem Sachverständigen für sein Gutachten vom 17.03.2020 zustehende Vergütung wird auf 1.786,19 Euro festgesetzt. Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen. Die Entscheidung ergeht gerichtsgebührenfrei. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Gründe:

Die in Anbetracht der begehrten Heraufsetzung der Vergütung um 624,75 Euro auf die ursprünglich geltend gemachten 2.187,82 Euro nach Maßgabe von § 4 Abs. 3 Satz 1 JVEG statthafte und auch im Übrigen zulässige Beschwerde des Sachverständigen, der das Sozialgericht nicht abgeholfen hat und über die der Senat mangels besonderer Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art oder grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache durch den Vorsitzenden und Berichterstatter als Einzelrichter entscheidet (§ 4 Abs. 7 Satz 1 und 2 JVEG), ist teilweise begründet. Die in entsprechender Anwendung von § 567 Abs. 3 ZPO zulässige (vgl. Meyer/Höver/Bach/Oberlack/Jahnke, JVEG, 27. Aufl. 2018, § 4 Rn. 14 m.N.), als bloßes Angriffsmittel zur Aufhebung des Verbots einer reformatio in peius im Beschwerdeverfahren (vgl. Karl, in: jurisPK-SGG, § 172 Rn. 17 m.w.N.) weder der Abhilfe durch das erstinstanzliche Gericht noch der Statthaftigkeitsbeschränkung des § 4 Abs. 3 Satz 1 JVEG (vgl. Heßler, in: Zöller, ZPO, § 567 Rn. 58) unterliegende Anschlussbeschwerde der Staatskasse, die auf eine weitere Herabsetzung der Vergütung auf 1.518,44 Euro gerichtet ist, ist demgegenüber unbegründet. Das Sozialgericht hat die dem Sachverständigen für die Erstattung seines Gutachtens vom 17.03.2020 zustehende Vergütung zu Unrecht auf 1.563,07 Euro festgesetzt. Dem Sachverständigen steht zwar nicht die beantragte, aber eine höhere Vergütung von 1.786,09 Euro zu.

1. Für die gemäß §§ 9 Abs. 1 Satz 1, 8 Abs. 1 Satz 1 JVEG nach Zeitaufwand zu bemessende Vergütung sind 1.462,50 Euro anzusetzen. Der Ansatz der Honorargruppe M2 im Sinne der Anlage 1 zum JVEG (75,- Euro pro Stunde) ist dabei zwischen den Beteiligten unstreitig und auch in der Sache nicht zu beanstanden. Entgegen der Auffassung des Sozialgerichts ist aber ein Zeitaufwand von 19,5 Stunden als erforderlich anzusehen.

Nach §§ 9 Abs. 1 Satz 1, 8 Abs. 1 Satz 1 JVEG richtet sich die Vergütung des Sachverständigen nach der für die Gutachtenerstellung erforderlichen Zeit. Wie viel Zeit erforderlich ist, hängt nicht von der individuellen Arbeitsweise des Sachverständigen ab, sondern ist nach einem objektiven Maßstab zu bestimmen. Erforderlich ist derjenige Zeitaufwand, den ein Sachverständiger mit durchschnittlicher Befähigung und Erfahrung bei sachgemäßer Auftragserledigung mit durchschnittlicher Arbeitsintensität benötigt, um sich nach sorgfältigem Studium ein Bild von den zu beantwortenden Fragen machen zu können und nach eingehender Überlegung seine gutachtlichen Darlegungen zu den ihm gestellten Fragen schriftlich niederzulegen. Dabei ist der Umfang des unterbreiteten Sachstoffs, der Grad der Schwierigkeit der zu beantwortenden Beweisfragen unter Berücksichtigung seiner Sachkunde auf dem betreffenden Gebiet und die Bedeutung der Sache angemessen zu berücksichtigen (ständige Rechtsprechung des zuständigen Senats, statt vieler Beschluss vom 20.02.2015 - L 15 KR 376/14 B -, juris Rn. 28 m.w.N.).

Nach ständiger Rechtsprechung des Senats sowie des zuvor für Vergütungsansprüche von Sachverständigen zuständigen 4. Senats des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen gliedert sich die Erstellung eines Gutachtens zur Gewährleistung eines objektiven Maßstabs hinsichtlich des erforderlichen Zeitaufwandes in vier vergütungspflichtige Arbeitsschritte (vgl. z.B. Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen, Beschl. vom 25.02.2005 - L 4 B 7/04 -, juris Rn. 22 ff. m.w.N.):

1. Zeitaufwand für Aktenstudium und vorbereitende Arbeiten,

2. Zeitaufwand für Untersuchung und Anamnese,

3. Zeitaufwand für Abfassung der Beurteilung,

4. Zeitaufwand für Diktate und Durchsicht.

Ausgehend von dieser eine gleichmäßige Rechtsanwendung gewährleistenden und im Hinblick auf die Anforderungen an ein sozialmedizinisches Sachverständigengutachten (vgl. hierzu z.B. Schleswig-Holsteinisches LSG, Beschl. v. 22.04.2008 - L 1 B 89/08 SK -, juris Rn. 4; Giesbert, in jurisPK-SGG, § 128 Rn. 55) sachgerechten Strukturierung lässt sich zwar ein Zeitaufwand von 24 Stunden, wie vom Sachverständigen geltend gemacht, nicht begründen. Der vom Sozialgericht angesetzte Zeitaufwand von 17 Stunden ist jedoch zu gering bemessen. Erforderlich und angemessen sind vielmehr 19,5 Stunden.

a) Das Sozialgericht hat allerdings zutreffend erkannt, dass für den Arbeitsschritt "Aktenstudium und vorbereitende Arbeiten" nur ein Zeitaufwand von 2,5 Stunden anzusetzen ist. Auf die insoweit in jeder Hinsicht zutreffenden Ausführungen des Sozialgerichts in dem angefochtenen Beschluss, die der ständigen Rechtsprechung des LSG Nordrhein-Westfalen entsprechen, wird zur Vermeidung von Wiederholungen Bezug genommen (§ 142 Abs. 2 Satz 3 SGG). Das Beschwerdevorbringen führt zu keiner anderen Bewertung. Warum das angebliche Fehlen von Literatur und Entscheidungen dazu führen soll, dass ein Sachverständiger für das Studium der Akten abweichend vom Üblichen mehr als eine Stunde pro 100 Seiten benötigen soll, leuchtet nicht ein. Vielmehr ist zu berücksichtigen, dass sich der Sachverständige gerade für die streitgegenständliche Fragestellung ausweislich seines Gutachtens besondere Fachkompetenz zuschreibt. Der Sachverständige dürfte damit keine Probleme gehabt haben, sich den Akteninhalt schnell zu erschließen. Die Auswertung des Akteninhalts umfasst auch die intensive Lektüre medizinischer Unterlagen und Vorgutachten. Ein zusätzlicher Zeitaufwand kann insoweit nicht angesetzt werden. Literaturstudium ist im Übrigen grundsätzlich nicht vergütungsfähig, da bei einem gerichtlich beauftragten Sachverständigen davon ausgegangen werden muss, dass er über hinreichende Fachkenntnisse verfügt.

b) Bei dem Arbeitsschritt "Untersuchung und Anamnese" ist das Sozialgericht den Angaben des Sachverständigen (6 Stunden) gefolgt. Weitere Ausführungen erübrigen sich daher.

c) Für den Arbeitsschritt "Abfassung der Beurteilung" hält der Senat entgegen der Auffassung des Sozialgerichts und der Staatskasse den vom Sachverständigen selbst insoweit angesetzten Aufwand von 8 Stunden für angemessen.

Der Arbeitsschritt "Abfassung der Beurteilung" umfasst die Beantwortung der vom Gericht gestellten Fragen und die nähere Begründung, also den Teil des Gutachtens, den das Gericht bei seiner Entscheidung verwerten kann, um ohne medizinischen Sachverstand seine Entscheidung begründen zu können. Dazu gehört die diktatreife Vorbereitung der Beurteilung ohne Wiedergabe der Anamnese, der Untersuchungsergebnisse oder Befunde, einschließlich der Begründung der vom Sachverständigen getroffenen Schlussfolgerung, wie zum Beispiel die Auseinandersetzung mit entgegenstehenden Vorgutachten, anders lautenden Befunden sowie die Auseinandersetzung mit kontroversen Meinungen. In diesem Arbeitsschritt wird die eigentliche Gedankenarbeit im Zusammenhang mit der Auswertung der erhobenen Befunde, deren Würdigung im Hinblick auf die Beweisfrage sowie die diktatreife Vorbereitung abgegolten. Der Zeitaufwand insoweit ist nicht schematisch nach der Seitenzahl des Gutachtens festzusetzen. Maßgeblich ist vielmehr der Umfang und die Schwierigkeit der gedanklichen Arbeit des Sachverständigen im Einzelfall (vgl. zum Ganzen Beschl. des Senats v. 20.02.2015 - L 15 KR 376/14 B -, juris Rn. 29).

Nach diesen Grundsätzen erscheinen die vom Sachverständigen angesetzten 8 Stunden nicht überhöht. Die Beantwortung der Beweisfragen umfasst in dem eingereichten Gutachten etwa 9 eng beschriebene Seiten, die jeweils über die "übliche Schreibweise" von 1.400 Anschlägen ohne Leerzeichen pro Seite deutlich hinaus gehen. Es kann dahinstehen, ob alleine aus diesem Umfang des geschriebenen Textes ein Zeitaufwand von mindestens 8 Stunden hergeleitet werden könnte (vgl. insoweit die Nachweise in LSG Baden-Württemberg, Beschl. v. 14.01.2014 - L 12 KO 4491/12 B -, juris Rn.16). In jedem Fall ist hier zu berücksichtigen, dass der Sachverhallt komplex und schwierig war. Der Beschwerdeführer musste sich mit zahlreichen verschiedenen Krankheiten des Klägers und mit zwei zuvor eingeholten Gutachten auseinandersetzen. Vor diesem Hintergrund erscheinen dem Senat der Umfang und die Schwierigkeit der gedanklichen Arbeit des Sachverständigen mit 8 Stunden angemessen eingeschätzt, zumal weder das Sozialgericht noch die Staatskasse irgendeine tragfähige Begründung dafür geben, warum der vom Sachverständigen selbst angegebene Zeitaufwand überhöht sein soll. Hält sich der vom Sachverständigen angegebene Zeitaufwand im üblichen Rahmen, wie hier, bedarf eine Kürzung einer eingehenden Begründung unter Berücksichtigung der Schwierigkeit der Angelegenheit und der Begründungstiefe der Ausführungen des Sachverständigen. Eine solche Begründung vermag der Senat nicht zu finden.

Allerdings ist es entgegen der augenscheinlich vom Sachverständigen vertretenen Auffassung auch nicht möglich, einen Zeitaufwand von mehr als 8 Stunden anzusetzen.

Bei den Angaben des Sachverständigen zum Zeitaufwand handelt es sich um Tatsachenvortrag des Sachverständigen, den das jeweils befasste Gericht nicht daraufhin zu hinterfragen hat, ob der angesetzte Zeitaufwand vielleicht zu niedrig bemessen ist. Vielmehr ist davon auszugehen, dass der Sachverständige den angegebenen Zeitaufwand tatsächlich (subjektiv) benötigt hat. Für die Annahme, dass ein ärztlicher Sachverständiger einen geringeren als den tatsächlich angefallenen Zeitaufwand angibt, besteht in der Regel kein Anlass (vgl. LSG Nordrhein-Westfalen, Beschl. v. 29.03.2006 - L 4 B 19/06 -; Beschl. v. 28.11.2007 - L 4 B 1/07 -). Dieser grundsätzlich als gegeben anzunehmende tatsächliche Zeitaufwand ist sodann lediglich darauf zu überprüfen, ob er objektiv erforderlich war. Ein Sachverständiger kann jedoch nie mehr als den Zeitaufwand vergütet bekommen, den er tatsächlich aufgewendet hat. Dass es u.U. unbeanstandet geblieben wäre, wenn der Sachverständige für einzelne Arbeitsschritte einen höheren, angeblich tatsächlich benötigten Zeitaufwand angesetzt hätte, führt zu keiner anderen Bewertung. Es ist nicht Aufgabe des Gerichts den Sachverhalt durch eigene Annahmen im Tatsächlich so zu gestalten, dass der Sachverständige die maximal mögliche Vergütung erhält. Vielmehr ist der Sachverständige selbst gehalten, wahrheitsgemäß vorzutragen. Wenn er tatsächlich nicht mehr Zeit benötigt hat als angegeben, kann er keine höhere Vergütung verlangen (vgl. zum Vorstehenden auch den Beschluss des Senats vom 03.02.2020 - L 15 KR 690/19 B -, juris Rn. 12 ff.).

Der Sachverständige hat hier nicht innerhalb der Frist des § 2 Abs. 1 Satz 1 JVEG seine Angaben zum tatsächlich benötigten Zeitaufwand für den Arbeitsschritt "Abfassung der Beurteilung" geändert, was dann im Übrigen auch kritisch zu würdigen wäre. Vielmehr meint er, "rechnerisch" sei sogar ein Aufwand von 12 Stunden gerechtfertigt. Damit bringt er lediglich seine Auffassung dazu zum Ausdruck, welcher Aufwand noch als angemessen hätte angesehen werden können, wenn er denn tatsächlich entstanden wäre. Solche fiktiven Überlegungen haben bei der Festsetzung der Vergütung nach dem JVEG keinen Platz.

d) Nach den vorstehenden Ausführungen kann entsprechend dem Beschwerdevorbringen der Staatskasse entgegen der Auffassung des Sozialgerichts für den Arbeitsschritt "Diktat und Durchsicht" nur ein Zeitaufwand von 3 Stunden angesetzt werden, denn der Sachverständige hat in seiner Rechnung vom 18.03.2020 insoweit selbst nur 3 Stunden angesetzt. Diese tatsächlichen Angaben hat er nicht innerhalb der Frist des § 2 Abs. 1 Satz 1 JVEG geändert. Eine eigenmächtige Erhöhung durch das Gericht ist nicht zulässig (vgl. den Beschluss des Senats vom 03.02.2020 - L 15 KR 690/19 B -, juris Rn. 12 ff.).

e) Es ergibt sich damit ein angemessener Zeitaufwand von insgesamt 19,5 Stunden.

2. Die übrigen vom Sozialgericht zugrunde gelegten Kostenpositionen gem. § 12 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 und 3 JVEG (Schreibauslagen (29,70 Euro) und Porto (8,80 Euro)) entsprechen wiederum dem Antrag des Beschwerdeführers in der Rechnung vom 18.03.2020 und sind nicht zu beanstanden. Es ergibt sich damit ein Vergütungsanspruch von netto 1.501,- Euro. Unter Hinzurechnung der darauf anfallenden Umsatzsteuer (285,19 Euro, § 12 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 JVEG) ergibt sich ein Vergütungsanspruch von 1.786,19 Euro.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 4 Abs. 8 JVEG.

Dieser Beschluss ist mit der Beschwerde nicht anfechtbar (§ 4 Abs. 4 Satz 3 JVEG, § 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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