S 11 R 557/18

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
SG Stuttgart (BWB)
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
11
1. Instanz
SG Stuttgart (BWB)
Aktenzeichen
S 11 R 557/18
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Gerichtsbescheid
Leitsätze
1. Für die Feststellung des Todeszeitpunktes im Rahmen des § 102 Abs. 6 S. 1 SGB VI ist grundsätzlich auf den wahrscheinlichsten Zeitpunkt des Versterbens abzustellen.
2. Die Todesfeststellung durch die gesetzliche Rentenversicherung ist für ihren Rechtsbereich grundsätzlich auch dann zulässig, wenn der angenommen Todeszeitpunkt vor der Einführung des § 102 Abs. 6 SGB VI liegt.
1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Der Kläger, handelnd durch seine Abwesenheitspflegerinnen, wendet sich gegen die Feststellung seines Todeszeitpunktes und die Einstellung von Rentenzahlungen durch die Beklagte.

Der am geborene Kläger gilt seit dem 21.07.2010 als verschollen, nachdem er von einem Bad im Bodensee nicht zurückkehrte. Er wird durch die seitens des Notariats II (Az.: II VG 5/2013) – seine Töchter. - sowie des Amtsgerichts Oberndorf/Neckar (Az.: A 6 X 2/18) – die Rechtsanwältin - bestallten Abwesenheitspflegerinnen vertreten. Der Kläger erhielt zum Zeitpunkt des Eintritts der Verschollenheit eine Altersrente aus eigener Versicherung sowie eine Witwerrente nach seiner verstorbenen Ehefrau seitens der Beklagten.

Die Wasserschutzpolizei ... fand nach dem Verschwinden des Klägers keine Leiche oder sonstigen Spuren bezüglich seines Verbleibs. Die Krankenkasse des Klägers teilte der Beklagten mit Schreiben vom 21.01.2013 mit, nach dem 21.07.2010 seien keine Leistungen im Vertragskonto des Klägers mehr gespeichert. Daneben befragte die Beklagte die Kinder des Klägers ... erklärte nach einem Telefonvermerk der Beklagten vom 22.04.2013 zum Verbleib des Vaters nichts beitragen zu können und sei auch nicht Zeuge gewesen. , eine der Abwesenheitspflegerinnen, teilte mit Schreiben vom 28.04.2013 ebenfalls mit, persönlich nichts weiter beitragen zu können.

Nach Anhörung der Abwesenheitspflegerinnen und nach Verkündung des Fünften Gesetzes zur Änderung des Vierten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze vom 15.04.2015 am 21.04.2015 im Bundesgesetzblatt (BGBl. I S. 583) stellte die Beklagte mit Bescheid vom 18.05.2015 den Todestag des Klägers auf den 21.07.2010 fest und die Rentenzahlungen zum 31.05.2015 ein. Der Kläger sei vermutlich am 21.07.2010 bei einem Badeunfall zwischen S. und B. ertrunken. Für die Zeit danach gebe es bisher kein Lebenszeichen mehr. Es sei niemand bekannt, der den Kläger nach diesem Zeitpunkt lebend gesehen habe. Von seinem Girokonto seien danach keine von ihm getätigten Abhebungen mehr erfolgt und es seien auch seitens seiner Krankenkasse keine Leistungen für ärztliche Behandlungen oder Medikamente mehr erbracht worden. Die Feststellung des Todeszeitpunktes führe dazu, dass der Anspruch auf die bisher weitergezahlten Renten rückwirkend wegfalle und die Zahlungen zum 31.05.2015 eingestellt werden. Die zugrundeliegende Regelung des § 102 Abs. 6 Sozialgesetzbuch VI – SGB VI - sei auch auf Sachverhalte anzuwenden, die bereits vor ihrem Inkrafttreten bestanden haben.

Mit Schreiben vom 28.05.2015 erhoben die Abwesenheitspflegerinnen für den Kläger Widerspruch. Da ein Zeitraum betroffen sei, als § 102 Abs. 6 SGB VI noch nicht in Kraft war, sie diese Vorschrift nicht anzuwenden. Es sei vielmehr auf das Verschollenheitsgesetz – VerschG – abzustellen.

Mit Bescheid vom 05.02.2018 wies die Beklagte den Widerspruch aus den Gründen des Ausgangsbescheids zurück.

Mit der hierauf am 02.03.2018 erhobenen Klage tragen die Abwesenheitspflegerinnen über den Widerspruch hinaus im Wesentlichen vor, die seitens der Beklagten genannten Gründe für die Festlegung des Todeszeitpunktes reichten nicht aus. So habe der Kläger auch mindestens 5 Jahre vor dem 21.07.2010 keine Leistungen der Krankenkasse in Anspruch genommen. Aus physikalischen Gründen würde eine Leiche an der Wasseroberfläche auftauchen. Der Nachweis des Todes fehle. Die ergänzend zu den Töchtern bestallte anwaltliche Abwesenheitspflegerin reicht ergänzend ein von ihr erstelltes Schreiben vom 05.06.2018 an das Amtsgericht Oberndorf im dortigen Aufgebotsverfahren zur Todeserklärung (Az.: 3 UR II 5/15) herein. Danach seien bei dem Badeunfall zwei der vier Kinder des Klägers persönlich anwesend gewesen, so dass keine Zweifel daran bestünden, dass er bei dem Vorfall zu Tode kam. Seither gebe es kein Lebenszeichen mehr. Der Kläger beantragt:

Der Bescheid vom 18.05.2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 05.02.2018 wird aufgehoben.

Die Beklagte beantragt:

Die Klage wird abgewiesen.

Zur Begründung bezieht sich die Beklagte auf den angefochtenen Widerspruchsbescheid.

Das Gericht hat die Beteiligten zur Möglichkeit der Entscheidung durch Gerichtsbescheid angehört. Für den Kläger haben die Abwesenheitspflegerinnen unter Verweis auf das vorgenannte Aufgebotsverfahren erklärt, dass sehr wohl besondere Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art vorlägen. Eine Stellungnahme der Beklagten ist nicht erfolgt.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des weiteren Vortrags der Beteiligten wird auf die Gerichtsakte und die beigezogenen Verfahrensakten der Beklagten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Klage, über welche das Gericht nach Anhörung der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung durch Gerichtsbescheid gem. § 105 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz –SGG- entscheiden konnte, da der Sachverhalt geklärt ist und die Sache keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist, ist zulässig, aber unbegründet. Der Entscheidung durch Gerichtsbescheid steht dabei nicht entgegen, dass klägerseits besondere Schwierigkeiten rechtlicher oder tatsächlicher Art gesehen werden und der Entscheidungsart nicht zugestimmt wird. Zum einen ist die Zustimmung der Beteiligten nicht erforderlich (s. Burkiczak in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, 1. Aufl. 2017, § 105 SGG Rn. 40). Zum anderen ist die Bewertung des rechtlichen und tatsächlichen Streitstandes Sache des Gerichts. Auch lässt sich eine besondere Schwierigkeit dieses Verfahrens nicht durch die mögliche Komplexität eines anderen, wenngleich in tatsächlicher Hinsicht in Zusammenhang stehenden Verfahrens ableiten.

Die angefochtene Entscheidung der Beklagten ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Aufhebung der Todeszeitpunktfeststellung und die Weiterzahlung seiner Rentenansprüche über den 31.05.2015 hinaus.

Die Feststellung des Todeszeitpunktes ist zutreffend erfolgt. Nach § 102 Abs. 6 S. 1 1. Halbsatz SGB VI werden Renten an Verschollene längstens bis zum Ende des Monats geleistet, in dem sie nach Feststellung des Rentenversicherungsträgers als verstorben gelten; § 49 SGB VI dabei entsprechend.

Sind Ehegatten, geschiedene Ehegatten oder Elternteile verschollen, gelten sie als verstorben, wenn die Umstände ihren Tod wahrscheinlich machen und seit einem Jahr Nachrichten über Leben nicht eingegangen sind, vgl. § 49 S. 1 SGB VI. Der Träger der Rentenversicherung ist berechtigt, für die Rentenleistung den nach den Umständen mutmaßlichen Todestag festzustellen, vgl. § 49 S. 3 SGB VI. Dieser bleibt auch bei gerichtlicher Feststellung oder Beurkundung eines abweichenden Todesdatums maßgeblich, § 49 S. 4 SGB VI. Im Hinblick auf diese rechtlichen Vorgaben war die Beklagte berechtigt, den mutmaßlichen Todeszeitpunkt des verschollenen Klägers für den Rechtsbereich der Rentenversicherung festzustellen. Nach dem Verschwinden des Klägers gingen länger als ein Jahr, nunmehr über acht Jahre keine Nachrichten über sein Weiterleben ein und die Umstände machen seinen Tod wahrscheinlich. Dies folgt hier schon aus der Art des Verschwindens an sich. Wenn eine Person – wie hier der Kläger - unzweifelhaft einen Schwimmgang unternimmt und keine Hinweise für eine Rückkehr innerhalb weniger Stunden vorliegen, kann gerade bei älteren Personen und einem großen und tiefen Gewässer mit -durch unterschiedliche Wassertiefen bedingte – teilweise erheblichen Temperaturschwankungen von einem Todesfall ausgegangen werden (vgl. z.B. Stuttgarter Nachrichten, 07.08.2015, "Immer mehr Todesfälle im Bodensee"). Im konkreten Fall kommt hinzu, dass am 21.07.2010 am Bodensee sehr hohe Temperaturen von bis zu 32° Celsius herrschten. In einer solchen Situation sind keine weiteren Umstände erforderlich, um die Annahme eines Todesfalls wahrscheinlich zu machen. Im Gegenteil wären klare Hinweise auf ein Weiterleben nach dem 21.07.2010 erforderlich, um diese Annahme zu widerlegen. Solche Hinweise liegen hier nicht vor. Insbesondere genügt nicht, dass bislang keine Leiche aufgetaucht ist, da dies keineswegs untypisch für tödliche Badeunfälle in tiefen Gewässern ist. So werden noch mehr als 95 Leichen von Personen im Bodensee vermutet, die seit 1947 beim Baden ertrunken sein sollen (s. z.B. Welt online, 17.07.2015, "Wie gefährlich ist der Bodensee?"). Damit ist der Todeszeitpunkt auf den Tag des Eintritts der Verschollenheit, den 21.07.2010, festzustellen.

Dem steht nicht entgegen, dass die Regelung des § 102 Abs. 6 SGB VI, welche der Beklagten die Feststellung des Todeszeitpunktes eines Verschollenen für dessen eigene Rentenansprüche ermöglicht, erst am 22.04.2015 und mithin ca. fünf Jahre nach dem Eintritt der Verschollenheit in Kraft trat (s. Bundesgesetzblatt I Seite 583), da es sich hierbei nach Ansicht des Gerichts nicht um einen Fall unzulässiger Rückwirkung handelt. Die Anwendung der Regelung in der hiesigen Sache knüpft zwar an einen Zeitpunkt an, der vor ihrem Inkrafttreten liegt, jedoch nicht an einen abgeschlossenen Sachverhalt, aus welchem sich eine entsprechend vertrauensgebende Rechtsposition ableiten ließe (sog. unechte Rückwirkung, vgl. etwa BVerfGE 30, 392 (404); 103, 392 (403)). Seit dem 21.07.2010 dauerte vielmehr der "Schwebezustand" der Verschollenheit an. Für den Zeitraum der Verschollenheit war das Schicksal der über den Monat des Verschwindens hinausgehenden Rentenzahlungen der Beklagten und ihr Verbleib im Vermögensbestand des Klägers ungewiss. Dies auch nach altem Recht, in welchem die Beklagte keine eigene Rechtsgrundlage für die Feststellung des Todeszeitpunktes eines Rentenberechtigten hatte und daher die Feststellung nach den Maßgaben des Verschollenheitsgesetzes abzuwarten war. Auch das VerschG sieht vor, dass als Todeszeitpunkt der Zeitpunkt festzustellen ist, der nach dem Ergebnis der Ermittlungen der wahrscheinlichste ist, vgl. § 9 Abs. 2 VerschG. Im Übrigen lebt der Rentenanspruch im Falle der Rückkehr des Verschollenen auch für die Zeit zwischen der Einstellung und Rückkehr wieder auf, vgl. § 102 Abs. 6 S. 3 SGB VI. Die Rückwirkung erscheint hier daher zulässig, da die Nachteile durch die neue Regelung bestenfalls als gering erscheinen, die Regelung auch zugunsten der Betroffenen der Vermeidung immer weiter wachsender Rückforderungsansprüche dient und kein besonders schutzwürdiges Vertrauen in den vorherigen Zustand anzunehmen ist.

Die über den 21.07.2010 hinaus geleisteten Zahlungen von Alters- und Witwerrente gelten damit wegen § 102 Abs. 6 S. 1 i.V.m. § 49 SGBVI als zu Unrecht und nach § 118 Abs. 3 S. 1 SGB VI als nur unter Vorbehalt erbracht.

Auch die Einstellung der Rentenzahlung ab dem 31.05.2015 ist nicht zu beanstanden. Nach § 102 Abs. 5 SGB VI werden Renten bis zum Ende des Kalendermonats geleistet, in dem die Berechtigten gestorben sind. Hier hat die Beklagte die Rente zum Ablauf des Monats ihrer Todeszeitpunktfeststellung eingestellt. Eine frühere Einstellung kam schon deshalb nicht in Betracht, da die für die Einstellung der Rentenzahlung wegen Todes des Berechtigten erforderliche Feststellung des Todeszeitpunktes. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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