L 1 B 61/00 KR

Land
Freistaat Sachsen
Sozialgericht
Sächsisches LSG
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
1
1. Instanz
SG Dresden (FSS)
Aktenzeichen
S 16 KR 93/98
Datum
2. Instanz
Sächsisches LSG
Aktenzeichen
L 1 B 61/00 KR
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Auf die Beschwerde der Beschwerdeführerinnen wird der Beschluss des Sozialgerichts Dresden vom 06. Juni 2000 aufgehoben. Kosten sind auch im Beschwerdeverfahren nicht zu erstatten.

Gründe:

I.

Die Beschwerdeführerinnen (Bf.) wenden sich gegen die Aussetzung des Verfahrens.

In der Hauptsache streiten die Beteiligten über die Aufhebung der Festsetzung von Festbeträgen für Hilfsmittel zur Kompressionstherapie im Land Sachsen durch Bekanntmachung vom 18. März 1998 gemäß § 36 Abs. 2 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V).

Mit der beim Sozialgericht Dresden (SG) am 30. April 1998 erhobenen Klage machen die Bf. geltend, die Festsetzung von Festbeträgen für Kompressionsstrümpfe in Sachsen beruhe zum einen auf einem nicht ordnungsgemäß durchgeführten Anhörungsverfahren, zum anderen greife es in die verfassungsgemäßen Rechte der Bf. zu 2 bis 4 und der Mitglieder des Bf. zu 1 ein. Die gewählte Regelungsform in Form einer Allgemeinverfügung sei mangels gesetzlicher Grundlage aus der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) verfassungswidrig. Ferner verstoße die Festbetragsfestsetzung im Übrigen gegen Artikel 90 Abs. 1 i. V. m. Artikel 85 und 86 EG-Vertrag.

Mit Beschluss vom 06. Juni 2000 hat das SG den Rechtsstreit bis zum Vorliegen einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu den Vorlagebeschlüssen des BSG vom 14. Juni 1995 (u.a. Az: 3 RK 20/94) ausgesetzt. In Anbetracht der verfassungsrechtlichen Bedenken des BSG hinsichtlich der derzeit gesetzlich vorgesehenen Form der Festbetragsfestsetzung sowie den diesbezüglichen Vorlagebeschlüssen vom 14. Juni 1995 sei es geboten gewesen, den vorliegenden Rechtsstreit in entsprechender Anwendung der §§ 114 Abs. 2, 202 Sozialgerichtsgesetz (SGG) i. V. m. §§ 246 ff. Zivilprozessordnung (ZPO) bis zum Vorliegen einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts über die o. g. Vorlagebeschlüsse auszusetzen (vgl. BSG, Breithaupt 1992, 790).

Gegen den den Bf. am 09. Juni 2000 zugestellten Beschluss legten diese am 13. Juni 2000 beim SG Beschwerde ein. Der Gesetzgeber selbst gehe in seinem beabsichtigtem Gesetz über die Neuordnung von Festbeträgen davon aus, dass die Festbeträge nicht das geeignete Mittel seien, die Leistungsausgaben der Krankenkassen zu begrenzen. Darüber hinaus sei es auch ohne Kenntnis einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts so, dass die festgesetzten Festbeträge aus den angeführten Rechtsgründen nicht zulässig festgesetzt worden seien. Es liege darüber hinaus ein Verstoß gegen die Artikel 81 ff. EG-Vertrag vor.

Das SG hat der Beschwerde nicht abgeholfen und sie dem Sächsischen Landessozialgericht zur Entscheidung vorgelegt.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichtsakten aus beiden Rechtszügen Bezug genommen.

II.

Die Beschwerde ist zulässig und begründet. Der Beschluss des SG vom 06. Juni 2000, den Rechtsstreit bis zum Vorliegen einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu den Vorlagebeschlüssen des BSG vom 14. Juli 1995 (u.a. Az: 3 RK 20/94) auszusetzen, ist aufzuheben. Für die Aussetzung des Verfahrens ist kein Raum.

Zutreffend im Ausgangspunkt hat das SG den Rechtsstreit nicht in unmittelbarer Anwendung von § 114 SGG ausgesetzt. Die Entscheidung des Rechtsstreites hängt nicht, ganz oder zum Teil vom Bestehen oder Nichtbestehen eines Rechtsverhältnisses ab, das den Gegenstand eines anderen anhängigen Rechtsstreites bildet oder von einer Verwaltungsstelle festzustellen ist (vgl. § 114 Abs. 2 SGG). Die Frage der Verfassungswidrigkeit oder Nichtigkeit einer Norm, hier des § 36 i.V.m. § 35 SGB V, ist kein "Rechtsverhältnis" im Sinne des § 114 Abs. 2 SGG. Eine Aussetzung ist grundsätzlich nicht möglich, wenn die Gültigkeit einer Norm zweifelhaft und Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht anhängig sind (vgl. Meyer-Ladewig, SGG, 6. Aufl., § 114 Rdnr. 7b m.w.N.).

Entgegen der Ansicht des SG scheidet eine Aussetzung des Verfahrens in entsprechender Anwendung des § 114 SGG hier aus. Diese ist nur für eng umgrenzte Fälle, wie sie in § 114 Abs. 2 SGG und der jeweiligen Parallelvorschriften normiert sind, zulässig. Durch die Möglichkeit der Aussetzung des Verfahrens soll u.a. verhindert werden, dass die obersten Gerichtshöfe des Bundes und das Bundesverfassungsgericht mit einer Vielzahl gleichgelagerter Fälle "überschwemmt" werden, ohne dass dies der Klärung eines vorgreiflichen Problems dient. Für eine entsprechende Anwendung der Vorschriften über die Aussetzung des Verfahrens müssen, zumal es sich um eine Ermessenentscheidung handelt, alle Erwägungen ausschließlich oder zumindest ganz überwiegend für die Aussetzung sprechen (BSG, Urteil vom 01. April 1992, Az: 7 RAr 16/91 = SozR 3-1500 § 114 Nr. 3 = Breith. 1992, 790-792 = NZA 1992, 1002-1003). Eine entsprechende Anwendung des § 114 Abs. 2 SGG im Sinne der Möglichkeit einer Aussetzung kann etwa dann getroffen werden, wenn wegen der streiterheblichen Frage beim Bundesverfassungsgericht ein Normenkontrollverfahren oder eine Verfassungsbeschwerde bereits anhängig ist, nicht zu erwarten steht, dass weitere Vorlagen an das Bundesverfassungsgericht dessen Entscheidung beeinflussen können, und mit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts in absehbarer Zeit zu rechnen ist (vgl. BSG, Urteil vom 01. April 1992, Az: 7 RAr 16/91).

Gemessen an den vorstehenden rechtlichen Ausführungen durfte das SG den Rechtsstreit nicht aussetzen. Es kann im Ergebnis dahingestellt bleiben, ob sich das SG seines von § 114 Abs. 2 SGG eingeräumten Ermessenspielraumes bewusst war und seiner Entscheidung vom 06. Juni 2000 eine Ermessensausübung zugrunde lag. Maßgebend ist bereits, dass sich aus den Gründen des angefochtenen Beschlusses vom 06. Juni 2000 nicht ergibt, ob das SG die verfassungsrechtlichen Bedenken des BSG teilt. Teilt es die Rechtsauffassung des BSG hinsichtlich der Verfassungswidrigkeit der steitgegenständlichen Normen nicht, muss über die Klage in der Hauptsache entschieden werden. Aus den vorliegenden Akten ergeben sich auch keine Anhaltspunkte dafür, dass das SG zur anders lautenden Auffassung gelangte, die streitgegenständlichen Normen seien verfassungswidrig. In diesem Fall hätte das SG das Verfahren nach Artikel 100 Abs. 1 Grundgesetz aussetzen müssen, und zwar unabhängig von den drei Vorlagebeschlüssen des BSG vom 14. Juni 1995 (Az: 3 RK 20/94 - Festbeträge für Wirkstoff "Nifedipin", 3 RK 21/94 - Hörhilfen, 3 RK 23/94 - Festbeträge für Sehhilfen).

Gegebenenfalls hätte sich das SG auch mit den von der Beschwerde dargelegten europarechtlichen Bedenken befassen müssen. Wäre das SG insoweit zu einer Unvereinbarkeit der streitbefangenen Vorschrift mit den maßgeblichen europarechtlichen Bestimmungen gelangt, hätte insoweit die Vorlage an den Europäischen Gerichtshof erwogen werden müssen.

Gegen eine Aussetzung des Verfahrens in entsprechender Anwendung von § 114 SGG spricht nicht zuletzt das zwischen Verfahrensabschluss und Aussetzung bestehende prozessuale Regel-Ausnahme-Verhältnis, und zwar gerade auch im Hinblick auf andere anhängige verfassungsgerichtliche Verfahren.

§ 144 SGG macht bereits seinem Wortlaut nach deutlich, dass die Aussetzung nur in besonderen Verfahrenskonstellationen erfolgen darf. Dazu zählt der Fall eines anderen, bereits anhängigen verfassungsgerichtlichen Verfahrens, sei es eine Verfassungsbeschwerde, sei es - wie hier - eine konkrete Normenkontrolle, ersichtlich nicht. Ob eine streitgegenständliche Vorschrift begegnet, darf das Fachgericht nicht der Beurteilung eines anderen Gerichts überlassen. Vielmehr muss es die jeweilige Vorschrift des einfachen Rechts in eigener Kompetenz einer abschließenden Prüfung und Beurteilung unterziehen. Erst danach hat das Fachgericht - wiederum auf Grund eigener Kompetenz - das Verfahren, wie dargelegt entweder auszuurteilen oder (z.B.) nach Maßgabe von Artikel 100 Abs. 1 GG zu verfahren. Nur unter Wahrung dieses Maßstabs wird im Übrigen dem aus der Sicht des Verfassungs- und des Europarechts maßgeblichen Zweck des fachgerichtlichen Verfahrens Genüge getan. Insoweit geht es darum, dem Bundesverfassungsgericht bzw. dem EuGH die der Normanwendung jeweils maßgeblichen einfachrechtlichen Auswirkungen darzutun und auf diese Weise eine abschließende, sämtliche Erwägungen des "einfachen" Rechts erfassende fachgerichtliche Beurteilung zu vermitteln.

Das SG hat mithin, soweit es zur Vereinbarkeit der steitgegenständlichen Vorschrift mit dem Grundgesetz sowie den Vorschriften des Europarechts gelangt, den Rechtsstreit abschließend entscheiden müssen. Anderenfalls hätte das SG zur Aussetzung und Vorlage gelangen müssen. In jedem Fall verlangt dies eine vom SG auf Grund eigener Bewertung erfolgende, mit Gründen zu versehene Entscheidung entweder durch Urteil oder durch Aussetzungsbeschluss.

Aus den genannten Gründen hatte die Beschwerde Erfolg.

Die Entscheidung ist unanfechtbar (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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