Land
Freistaat Sachsen
Sozialgericht
Sächsisches LSG
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
6
1. Instanz
SG Chemnitz (FSS)
Aktenzeichen
S 7 KN 116/95 U
Datum
2. Instanz
Sächsisches LSG
Aktenzeichen
L 6 KN 16/99 U
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Das Urteil des Sozialgerichts Chemnitz vom 06.11.1998 wird aufgehoben. II. Der Bescheid der Beklagten vom 12.01.1994 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 12.01.1995 wird aufgehoben.
III. Die Beklagte wird verpflichtet, dem Kläger wegen der Folgen des Arbeitsunfalls vom 16.11.1990 Rente aus der gesetzlichen Unfallversicherung nach einer MdE um 30 % zu bewilligen.
IV. Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Rechtsstreits für beide Instanzen zu erstatten.
V. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Streitig sind die Folgen eines Arbeitsunfalls.
Der am ... geborene Kläger erlitt am 16.11.1990 auf dem Weg von seiner Arbeitsstelle zu einem auswärtigen Termin (Dienstfahrt) einen Verkehrsunfall, als der Anhänger eines entgegenkommenden Lkw ins Schleudern geriet, umkippte und dabei den Pkw des Klägers rammte und teilweise unter sich begrub. Der Kläger erlitt eine Schädel- und Thoraxprellung, eine Prellung der linken Schulter sowie zahlreiche Schnittverletzungen, insbesondere im Gesicht. Es bestand eine Bewusstlosigkeit von 30 Minuten. Der Kläger war für 45 Minuten in seinem Fahrzeug eingeklemmt und musste befreit werden.
Sein Hausarzt traf ihn an der Unfallstelle ansprechbar an und verabreichte ihm ein starkes Schmerzmittel, worauf der Kläger wieder in einer längeren Bewusstlosigkeit versank und erst in der Röntgenstation des Chirurgischen Krankenhauses ... wieder erwachte. Schon während seines dann drei Wochen dauernden Krankenhausaufenthalts klagte er über Kopfschmerzen, Übelkeit, Schmerzen in der linken Gesichtshälfte, im linken Brustbereich, im linken Arm, beim Öffnen des Mundes und über Probleme des Stütz- und Bewegungsapparates. Am Entlassungstag konnte er nicht Treppen steigen und bedurfte der Hilfe des Taxifahrers. Von den behandelnden Ärzten Dr. L ... und Dr. T ... war dem Kläger mitgeteilt worden, dass sich diese Beschwerden wieder legen würden. Doch auch in der Folgezeit litt er unter Kopf- und Nackenschmerzen, Drehschwindel und Brechreiz. Es traten Konzentrations- und Kommunikationsprobleme auf, das Lesen und Fernsehen bereitete dem Kläger ebenfalls Schwierigkeiten, da alles vor seinen Augen verschwamm. Das Bewegen der Augen von links nach rechts war auch mit Problemen verbunden. Nachdem sich der Zustand wider Erwarten nicht besserte, bat er seinen Hausarzt Dr. H ... um Überweisung zu einem Facharzt. Die Behandlung bei dem Orthopäden Dr. B ... im Februar 1991 führte eine vorübergehende Besserung des Befindens herbei. Es handelte sich dabei um Extensionsbehandlungen, um eine chiropraktische Behandlung von Blockierungen verschiedener Segmente der Halswirbelsäule. Seine Arbeit trat der Kläger auf eigenen Wunsch am 16.03.1991 wieder an, da in seinem Betrieb eine Terminsaufgabe zu erledigen war. Aber bereits einen Tag später musste er die Arbeit wegen Übelkeit unterbrechen, seit dem 18.03.1991 kam es dann regelmäßig zu morgendlicher Übelkeit mit Erbrechen. Dieser Zustand änderte sich nicht bis August 1991, als in seinem Betrieb Kurzarbeit angeordnet wurde.
Im September 1991 erfolgte die Überweisung in die Nervenklinik ... zur stationären Behandlung. Die verordneten Medikamente (Pangrol, Disotat, Corinfer, Rökan, Urobenol, Cerebroforte, Dogmatil) nahm der Kläger auch nach der Entlassung am 27.09.1991 weiter ein, setzte sie jedoch wegen der darauf zurückzuführenden Gewichtszunahme im Dezember 1991 ab und teilte dies dem Stationsarzt Dr. G ... brieflich mit und bat um Beratung. Es erfolgte dann die Weiterbehandlung bei dem Neurologen Dr. W ... Ab Anfang 1992 wurde er nicht mehr als Betriebs-, sondern nur noch als Brigadeleiter eingesetzt. Zum 25.03.1993 wurde er wieder arbeitsunfähig. Es erfolgte die Bewilligung von BU-Rente durch die Bundesknappschaft.
Mit Schreiben vom 11.12.1992 hatte der Kläger zuvor schon bei der Beklagten Unfallrente beantragt. Die Beklagte holte daraufhin Befundberichte bei den behandelnden Ärzten ein. Dr. B ... äußerte den Verdacht nervöser Störungen (unter Hinweis auf den stationären Aufenthalt in der Nervenklinik), Dr. W ... nannte Verspannungen der HWS sowie ein neurasthenisches Syndrom bei beruflicher Belastung, am Rande wurden jedoch auch Störungen der hinteren Strombahn erwähnt, welche bei akustisch evozierten Hirnpotenzialen aufgefallen waren. Im Gegensatz zu der ersten "kurzen Krankheitsauskunft" vom 22.04.1991, in welcher Dr. Hirth von einem Schädel-Hirn-Traum 1. Grades ausgegangen war, welches im Übrigen "folgenlos abgeheilt" sei, formulierte Dr. W ... nunmehr die Diagnose als SHT 1. bis 2. Grades und im gleichen Satz "vonotus mattutitus", womit nur "vomitus matutinus", also das morgendliche Erbrechen gemeint gewesen sein kann.
Mit der Erstellung eines kurzen Rentengutachtens beauftragt, beschrieb OMR Buschbeck noch einmal detailliert die Blockierungsneigungen in der HWS, welche er als Unfallfolge ansah, wies auf die durch einen Neurologen abzuklärenden Konzentrationsmängel hin und schätzte die unfallbedingte MdE mit 30 % ein. Bis zum 25.02.1991 habe die MdE 100 % betragen, danach bis zum 07.06.1993 (Tag der Untersuchung) 30 bis 50 %.
Dieser Einschätzung widersprach Prof. D ..., der anschließend von der Beklagten mit einer gutachterlichen Stellungnahme beauftragt worden war, entschieden. Zwar sei es grundsätzlich möglich, dass nach einer verletzungsbedingten Instabilität ein Kompensationsprozess einsetze, der nun seinerseits degenerative Veränderungen durch die damit verbundene Fehlbelastung und -beanspruchung auslöse. Auch sei es natürlich möglich, dass - röntgenologisch nicht erkennbare - Verletzungen an den nicht knöchernen Strukturen der Wirbelsäule - wie Gelenkkapseln, Bandapparat, Zwischenwirbelscheiben, Diskuiden der Zwischenwirbelgelenke - entstünden und ihrerseits einen Kompensationsprozess auslösten. Bei dem Kläger lägen allerdings nur geringe Degenerationserscheinungen an der HWS vor, die Wirbelgelenkblockierungen seien überdies bei einem 54-Jährigen altersadäquat. Es ergebe sich also überhaupt keine unfallbedingte MdE.
Dies ist auch das Ergebnis eines Gutachtens vom 23.08.1994 der Orthopäden Dres. T ... und S ..., Institut für medizinische Begutachtung, ... In der Anamnese werden die Begriffe "Blockierungen", "Schocksituation" wie auch "Einrenken" immer in Anführungsstrichen gesetzt, der Kläger habe eine eingeschränkte Beweglichkeit der Halswirbelsäue "gezeigt", im Übrigen hätten so genannte Blockierungen ohnhin eine fragwürdige Krankheitsrelevanz, schon weil sie praktisch immer entstehen könnten und ein Unfallgeschehen somit nur Gelegenheitsursache sein könne.
Es gelte grundsätzlich, dass bei einer Kontaktverletzung des Schädels, welche hier ja stattgefunden habe, auch eine Abknickverletzung der HWS in Betracht komme. Allerdings gebe es dann nur zwei Alternativen: Die Verletzung sei entweder eine Fraktur oder harmlos. Beim Kläger könne aber eine Fraktur der HWS mit Sicherheit ausgeschlossen werden. Vielmehr seien nur diskrete Abrundungen der seitlichen Hakenfortsätze an den unteren Halswirbelkörpern zu beobachten, also eine Verplumpung ähnlich der Unkovertebralarthrose. Dies könne sich aber nicht in der relativ kurzen Zeit seit dem Unfall entwickelt haben. "Blockierungen" als traumatisch bedingt anzusehen, entspreche der "hypothetischen Denkweise seitens der Manualmedizin". Es gelte die "unstreitige traumatologische Regel", dass strukturelle Verletzungen unmittelbar nach dem Schadensereignis die ausgeprägtesten Beschwerden verursachten. Bei dem Kläger sei daher in erster Linie an ein depressives bzw. pseudoneurasthenisches Syndrom zu denken. Es werden allgemeine Ausführungen zur Rentenneurose gemacht und im speziellen wird darauf hingewiesen, dass Nackenbeschwerden ("Nackenschläge") meist psychogen seien, der musculus trapezius als der Aufrichter des Nackens sei ein "typisches Erfolgsorgan". Man müsse also von Fehlentwicklungen im subjektiven Beschwerdeerleben sprechen, die ihren Grund in der Persönlichkeitsstruktur des Klägers hätten.
Insoweit geht auch der Neurologe und Psychiater mit den Vorgutachtern konform, als er es für möglich hält, dass die beim Kläger aufgetretenen Schluckstörungen neurotischer Genese sind (den beruflichen Misserfolg nicht "schlucken" können). Andererseits widerspricht er aber seinen Vorgutachtern hinsichtlich der Diagnose: Beim Kläger liege ein psychovegetatives Syndrom vor. Dies habe mit einem pseudoneurasthenischen Syndrom nichts zu tun. Anders als T .../S ..., die von einer somatoformen Schmerzstörung ausgegangen waren, bejaht Dr. W ... die Übereinstimmung von Klagen und Befund. Es bestehe auch kein Anhalt für Aggravation oder ein psychotisches Geschehen. Die Kopfschmerzen seien - wie auch das Erbrechen - Ausdruck eines "Migränekopfschmerzes". Die Diagnosen von Frau Dr. C ... und Frau Dr. F ..., welche "symptomatischer Morbus Meniere" bzw. "oro-faciale Regulationsstörungen" lauten, werden ohne eigene Stellungnahme lediglich referiert. Die Einschränkungen der Merkfähigkeit, Lernfähigkeit und der kognitiven Umstellungsfähigkeit werden von Dr. W ... konstatiert, können aber nicht mit der - übernommenen - Diagnose "SHT 1. Grades" in Einklang gebracht werden. Insgesamt glaubt Dr. W ..., die Erscheinungen beim Kläger auf eine unfallunabhängige "Störung des Lebensnervensystems" zurückführen zu können.
Den Ablehnungsbescheid vom 12.01.1994 hatte die Beklagte allein auf das Gutachten des Prof. D ... gestützt und darauf, dass die Leiden schicksalsmäßig bedingt seien, dem Widerspruchsbescheid vom 12.01.1995 legte sie auch die erwähnten Gutachten der Dres. S .../T ... und W ... bei.
Auf die Klage zum SG Chemnitz hat dieses den Orthopäden Dr. P ... mit der Erstellung eines ärztlichen Sachverständigengutachtens beauftragt. Dieser wies darauf hin, dass der Unfall sowohl eine Gehirnerschütterung wie auch ein Hyperflexionstrauma habe hervorrufen können. Wahrscheinlich sei die Gehirnerschütterung. Hinsichtlich der HWS liege keine richtunggebende, sondern nur eine vorübergehende Verschlechterung vor, da röntgenmorphologische Veränderungen fehlten. Im Übrigen erlaube er sich als Orthopäde keine Beurteilung der Symptome Kopfschmerzen, Übelkeit und sonstige cerebrale Probleme. Diese Symptome hätten bei dem Kläger offensichtlich im Vordergrund gestanden.
Der daraufhin zu Rate gezogene Neurologe und Psychiater Prof. R ... erklärte die Symptome - Mund kann nicht vollständig geöffnet werden, - stechende Kopfschmerzen, - morgendliche Übelkeit, - dauerhafte Schmerzen in der linken Gesichtshälfte in erster Linie als psychoreaktive bzw. psychogene Erscheinungen eines ehrgeizigen Mannes in einer Umbruchsituation. Die gleichzeitig vorhandene Verlangsamung der Denkabläufe und Herabsetzung der Merkfähigkeit führte er auf eine anlässlich akustisch evozierter Potenziale festgestellte Pons-Mittelhirn-Störung r. zurück, deren Ursache er allerdings nicht in dem Unfallgeschehen, sondern in einem langjährigen Bluthochdruck des Klägers ausmachte. Eine HWS-Distorsion 1. Grades habe vorgelegen, hiervon könnten jedoch nur ganz ausnahmsweise Spätfolgen verblieben. Voraussetzungen seien im Allgemeinen: - eine Distorsion III. Grades - 4-6 wöchige Bettlägerigkeit - eine schmerzhafte Bewegungseinschränkung von Kopf und Hals - eine totale Haltungsinsuffizienz - Verletzungsmerkmale im Röntgenbild. All dies sei bei dem Kläger nicht dokumentiert. Durch den Unfall seien also - über den 15.11.1991 hinaus - keine Gesundheitsstörungen verursacht, mitverursacht oder verschlimmert worden. Für das erste halbe Jahr nach dem Unfall habe die MdE 20 % betragen, danach noch ein weiteres halbes Jahr 10 %.
Auf Antrag der Klägers hat das SG den HNO-Facharzt Dr ..., Soltau gem. § 109 SGG gutachterlich gehört. Dr. M ... stellte Unregelmäßigkeiten fest bei - frühen akustisch evozierten Potenzialen - visuell evozierten Potenzialen - dem Rombergschen Stehversuch - dem Unterbergschen Tretversuch sowie einen ab 60° hochpathologischen Cervikal-Nystagmus. Die Gleichgewichts-Funktionsteste erbrachten darüber hinaus objektivierbare Störungen der - vestibulo-spinalen - vestibulo-okulären - propriorezeptiven und okulomotorischen Systeme. Dr. M ... schloss auf Schäden im Bereich des Hirnstamms und zählte folgende Beschwerden des Klägers auf, die vor dem Unfallereignis nicht bestanden: 1. Gleichgewichtsstörungen, Übelkeit, Schwankschwindel, Erbre chen und Kopfschmerzen, 2. Rechtsseitiger stechender Gesichtsschmerz, 3. Schluckbeschwerden, 4. Sehstörungen, 5. Hirnleistungsstörungen, 6. Parästhesien der Finger und des Armes.
Dr. M ... berief sich auf Prof. C ..., welcher auf dem 32. Deutschen Verkehrsgerichtstag (1994) in Goslar die "funktionsorientierte neurootologische medizinische Begutachtung von Verkehrsunfallopfern nach einem HWS-Schleudertrauma" vorgestellt hatte. Dort heißt es: Der Traumamechanismus des HWS-Schleudertrauma setzt mit seinen im Wesentlichen wirksamen Hyperflektions- und Hyperestensionsschlägen von weniger als 50 ms Dauer sehr mannigfaltige makroskopische und mikroskopische Schäden im HWS-, Muskel-, Gefäß- und Sensorbereich, im Bereich der Halsnerven, des Rückenmarks und des Hirnstammes. Das beobachtbare Krankheitsbild zerfällt in zwei Hauptgruppen, nämlich das obere HWS-Schädigungsmuster im Sinne des cervico-cephalen Syndromes und das untere im Sinne des cervico-brachialen Syndromes. Meist erst nach einem Intervall bildet sich innerhalb von Stunden bis Tagen das eigentliche Beschwerdebild heraus, welches bei ca. 80 % der Betroffenen kurzfristig ausheilt und bei 15 bis 20 % zu langfristigen Leiden führt. Nackenschmerzen, Kopfschmerzen und Kopfsinnesstörungen wie Schwindel, Hörstörungen, Ohrgeräusche, vegetative Beschwerden, Sehstörungen wie auch Hirnleistungsstörungen treten in der Folge eines solchen HWS-Schleudertraumas regelmäßig auf. Dr. Kortmann wies darauf hin, dass das geschilderte Beschwerdebild mit dem des Klägers übereinstimme. Der Kläger sei in seiner Erwerbsfähigkeit durch die Unfallfolgen Kombinierte zentral-periphere Gleichgewichtsfunktionsstörung mit labyrinthär ausgelöster Übelkeit bei objektivierbarer vestibulo-okulärer Schädigung, zentral-vestibulärer Störung, Störung der Optokinetik, Tinnitus aureum, Trigeminusirritation links, Nacken und Kopfschmerzen, vertebragen ausgelöste Gleichgewichtsstörung, Schwere, die gesamten zentral verarbeitenden Strukturen betreffende Störung um 60 % gemindert. Das so genannte Erdmann-Schema, dessen Anwendung die Vorgutachter zu einer Ablehnung einer unfallbedingten MdE veranlasst habe, sei veraltet.
Gegen diese Schlussfolgerungen haben sich die Vorgutachter verwahrt: Sie verweisen auf die Kritik Feldmanns an der neurootologischen Methode und vertreten die Ansicht, prolongierte Beschwerden nach HWS-Trauma träten in Ländern, in denen es keine Entschädigungen gibt, nicht auf. Prof. D ... wies noch einmal darauf hin, dass in den bildgebenden Verfahren keine Verletzung sichtbar sei. Dres. T .../S ... betonten dies auch und wiesen darauf hin, dass ihrer Ansicht nach die Hypothesen der Manualmedizin nicht belegt seien, "cervikalen Schwindel" gebe es ebenso wenig wie eine vertebragen ausgelöste Gleichgewichtsstörung. Prof. C ... sei nicht seriös, man habe - leider vergeblich - versucht, sein Auftreten auf dem Verkehrsgerichtstag zu unterbinden; leider sei auch ein diese Vorgänge betreffender Leserbrief Dr. S ... an die ADAC-Motorwelt bezeichnenderweise nicht abgedruckt worden. Der Kläger sei nur "relativ bescheidenen" Beschleunigungseinwirkungen ausgesetzt gewesen und wenn bei 10 bis 20 % die entsprechende Symptomatik nicht ausheile, müsse das gar nichts heißen, schließlich könne eine ähnliche Symptomatik auch beispielsweise bei Milzverlust auftreten.
Das SG hat mit Urteil vom 06.11.1998 die Klage abgewiesen.
Hiergegen richtet sich die Berufung des Klägers.
Er beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Chemnitz vom 06.11.1998 sowie den Bescheid der Beklagten vom 12.01.1994 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12.01.1995 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, wegen der Folgen des Arbeitsunfalls vom 16.11.1990 Rente aus der gesetzlichen Unfallversicherung nach einer MdE von mindestens 20 % zu zahlen.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Berufung ist auch begründet.
Der Kläger ist wegen der Folgen des Arbeitsunfalls vom 16.11.1990 über die 13. Woche hinaus (§ 580 RVO in der bis zum 31.12.1991 geltenden Fassung i. V. m. § 1150 Abs. 2 RVO) in seiner Erwerbsfähigkeit um 30 % gemindert. Es besteht somit Anspruch auf Teilrente in der entsprechenden Höhe gem. § 581 Abs. 1 Satz 2 i. V. m. Abs. 2, § 1154 Abs. 1 Satz 2 RVO, § 215 Abs. 1 SGB VII. Die entgegenstehenden Bescheide der Beklagten und das Urteil des SG Chemnitz vom 06.11.1998 waren daher aufzuheben.
Der Senat ist nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Beweiswürdigung (§ 128 Abs. 1 Satz 1 SGG) zu der Überzeugung gelangt, dass eine überwiegende Wahrscheinlichkeit für einen Kausalzusammenhang zwischen den - unstreitig - vorhandenen Gesundheitsstörungen, die eine MdE von 30 % bedingen, und dem Arbeitsunfall vom 16.11.1990 besteht. Es spricht mehr dafür, dass die vom Kläger auch noch 10 Jahre nach dem Unfall geklagten Beschwerden Folgen dieses Unfalls sind. Fest steht das Unfallereignis als solches, dies wird auch von der Beklagten nicht bestritten (BSGE 58, 80, 82, BSG SozR 3 2200 § 548 Nr. 19). Fest steht auch, dass der Kläger durch diesen Unfall einen im Übrigen nicht unerheblichen - Gesundheitsschaden erlitten hat (vgl. BSGE 58, 80, 83, BSG SozR 548 Nr. 84). Ein Gesundheitsschaden ist auch im Kopf-/Halsbereich eingetreten. Dies beweisen schon die Verletzungen. Der Vollbeweis ist allerdings nicht erforderlich für jede einzelne Teildiagnose. Es muss nicht nachträglich mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit feststehen, was sich genau im Körper des Verunfallten während des Unfalls abgespielt hat. Die Führung eines solchen Beweises dürfte in der Regel unmöglich sein. Hiervon zu trennen ist die Frage, inwiefern Erfahrungssätze darüber, welche Arten von Verletzungen welche Arten von Spätfolgen auslösen können, im Rahmen der gesamten Beweiswürdigung eine Rolle spielen. Die Anwendung solcher Erfahrungssätze kann nicht nachträglich die Beweisanforderungen für den Zustand unmittelbar nach dem Unfall heraufsetzen, vielmehr ist auch in diesem Zusammenhang eine Gesamtwürdigung vorzunehmen, ohne dass Rückschlüsse aus entsprechenden Erfahrungssätzen schon deswegen unzulässig wären, weil nicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit bewiesen ist, welche - unter Umständen mikroskopischen - Verletzungen an dem Gesamtschadensbild wesentlichen Anteil hatten. Auch ist eine lückenlose, gewissermaßen hunderprozentige Aufklärung des Unfallgeschehens - auch dieses dürfte praktisch nicht möglich sein - nicht Prämisse für jede weitere Schlussfolgerung; auch hier gilt, dass eine Aufklärung nur soweit zu erfolgen hat, wie sie für die entsprechenden Schlussfolgerungen notwendig ist. Wahlfeststellungen sind möglich. Darüber hinaus gilt, dass nach der Rechtsprechung des BSG die Anforderungen an den Beweis des Ursachenzusammenhanges bei einer unfallbedingten Erinnerungslücke des Verletzten herabgesetzt sind. Dies bedeutet praktisch, dass das Tatsachengericht schon auf Grund weniger tatsächlicher Anhaltspunkte von einem bestimmten Geschehensablauf überzeugt sein kann (vgl. BSG, Urt. v. 12.06.1990, HVBG-Info 1990, 2064, BSGE 24, 25, 29).
Der Senat ist davon überzeugt, dass der Körper des Klägers bei dem Frontalzusammenstoß aus einer Geschwindigkeit mit 50 km/h (eine reflektorische Bremsung mit eingerechnet) erheblichen Beschleunigungskräften ausgesetzt war. Dies gilt insbesondere für den Moment des Kopfanschlages. In einer Studie wurden Akzelerationskräfte auf den Kopf von 5 g während 35 msec bei einer Aufprallgeschwindigkeit 8 mpH gemessen (J. J. Mathewson Severy, CAN. Services. Med. J. 11 [1955, 27]). Bei 6 g kommt es beim Kampfpiloten zum so genannten "grey out". Bei einer 15 mpH Heckkollision beschleunigt sich der Kopf mit 10 g (T.A. Blakely, D. E. Harrington Med. Sci. Law 33 [1993] Nr. 3). Ein derlei kombiniertes Kontakt-/Nonkontakttrauma bewirkt in der Regel eine Zerrung im Hirnstamm sowie einen Anprall der verschiedenen Hirnlappenpole gegen das Schädelkalotteninnere. Durch komplizierte Innenkopftraumata können beschleunigungsbedingte Masseverschiebungen des Gehirns im Schädelinneren entstehen. Diese äußern sich unter anderen in messbaren Hirnstammversagenszuständen (vgl. Claussen, Mitteilungen der LVA Württenberg 1997, 179). Beim Kläger wurde durch Prof. R ... eine Pons-Mittelhirn-Störung rechts festgestellt. Diese ist in der Lage, die beim Kläger beobachtete Trigeminusproblematik zu erklären (vgl. Pschyrembel, 258. Auflage, S. 674). Der Senat verkennt nicht, dass der logische Schluss "post hoc ergo propter hoc" nicht zulässig ist; im Rahmen der Gesamtwürdigung muss aber festgestellt werden, dass die von Prof. Reichel in diesem Zusammenhang als wahrscheinlich ins Spiel gebrachte Deutung, die Störungen seien vasculärer Ursache und mit dem langjährigen Bluthochdruck des Klägers in Zusammenhang zu bringen, nicht erklärt, warum diese geradezu typische Symptomatik im Zusammenhang mit dem Unfall auftrat. Für die im Gutachten Prof. Reichel angebotenen Erklärungsmuster, es handele sich dabei um psychoreaktive bzw. psychogene Erscheinungen, fehlt es an einer entsprechenden Exploration des Klägers. Darüber hinaus betrachtet der Senat auch die von Prof. R ... ausdrücklich als "im Allgemeinen geltende" Voraussetzungen für Spätfolgen, jedenfalls insofern als überholt, als sie nur "im Allgemeinen" gelten, also eine gewisse statistische Validität haben, für den Einzelfall aber gerade nicht den Zusammenhang ausschließende Folgerungen zulassen. Die Validität der von Prof. R ... genannten Kriterien besteht darin, dass bei Vorliegen dieser Kriterien in der Regel mit Spätfolgen gerechnet werden kann und bei Nichtvorliegen in der Regel damit gerechnet werden kann, dass Spätfolgen ausbleiben. Dies gilt nach wie vor. Im Einzelfall kann aber, um ein Bild aus der Kriminalistik zu gebrauchen, sehr wohl derjenige der Täter sein, der sich überhaupt nicht verdächtig gemacht hat. Davon abgesehen sind auch die von Prof. R ... benannten Gesichtspunkte kritisch zu durchleuchten. Auch das SG hat seine Entscheidung darauf gestützt, dass der Kläger "ansprechbar" am Unfallort vorgefunden worden sei und somit nur ein Schädelhirntrauma ersten Grades in Betracht komme. Hierzu führen aber schon Schimrigk/Trabert/Schrappe (Neurologische und psychiatrische Erkrankungen, in: Marx, Medizinische Begutachtung, 1992, S. 587, 621) aus, dass die mühsame Zuwendung eines Benommenen auf Zuruf seines Namens zwar "Ansprechbarkeit" beweise, im Übrigen aber diese Reaktion über die augenblickliche cerebrale Funktion überhaupt nichts aussage. Um brauchbare Ergebnisse zu erhalten, sei es erforderlich, der Untersuchungsperson einfache Aufträge zu erteilen, wie "Zunge herausstrecken", "Augen schließen", "Faust machen" etc. Auch sei die Orientierung nach Zeit (Datum und Wochentag) und Ort zu überprüfen. Dergleichen ist beim Kläger nicht erfolgt. Die Diagnose SHT 1. Grades wurde gleichwohl von den Gutachtern aus den Akten und dort aus dem Unfallbericht übernommen. Für eine erheblichere Verletzung sprechen aber doch wichtige Hinweise: die Bewusstlosigkeit dauerte länger als 15 Minuten und vegetative wie vestibuläre Zeichen waren nachweisbar (vgl. Venzlaff/Förster, psychiatrische Begutachtung, 3. Auflage 2000, S. 152). Eine Bewusstlosigkeit von 30 Minuten ist unstreitig; davon abgesehen ist es auch unwahrscheinlich, dass die anschließende längere Bewusstlosigkeit allein Folge der Schmerzmittelgabe war; die an der "Ansprechbarkeit" festgemachte Feststellung des Endes einer posttraumatischen Bewusstlosigkeit übersieht, dass auf dem Wege von Bewusstlosigkeit zum normalen Bewusstseinszustand eine Bewusstseinsverfassung in der Regel durchlaufen wird, in welcher der Patient "besinnungslos" war, eine Zeit, für die später jede Erinnerung fehlt (vgl. Schimrigk/Trabert/Schrappe a. a. O., S. 622). Die Auffassung, dass röntgenologische Veränderungen gewissermaßen notwendige Bedingungen für die Anerkennung von Spätfolgen aus dem Unfallgeschehen seien, ist gleichfalls nicht haltbar, und zwar aus mehreren Gründen: Zunächst einmal handelt es sich bei den röntgenologisch abgebildeten Strukturen um grobe Strukturen, die einen direkten Zusammenhang zu der geklagten Symptomatik ohnehin nicht haben und einen mittelbaren auch nicht immer haben müssen. Von einem Wirbelkörper kann eine Ecke fehlen oder sich eine zusätzliche gebildet haben (Spondylophyten), ohne dass dies irgendwelche Auswirkungen auf das Wohlbefinden des Menschen hätte oder dass man von Krankheit sprechen könnte. Dies gilt auch für andere röntgenologisch sichtbar zu machende Strukturen. Ohne dass dies explizit gesagt wird, spielen diese röntgenologischen Indizien oft die Rolle der Hilfstatsache, d. h. es wird - implizit - von der Schwere der Verletzung auf die Intensität des Verletzungsgeschehens zurückgeschlossen. Auch dies mag generell eine zulässige Methode sein; im Einzelfall ist sie aber insbesondere in negativer Hinsicht, also für den Ausschluss relevanter Verletzungen, unbrauchbar. Nun gibt es mittlerweile feinere bildgebende Verfahren, die im Gegensatz zur Röntgenaufnahme auch Kontusionsnarben, Blutreste, Hydrozephalus, Hirnatrophie, Gefäßläsionen und Liquorfistel sichtbar machen können (vgl. Becker, Relevanz der Medizintechnik für die medizinische Begutachtung aus Sicht eines Radiologen, MedSach 1999, 43, 44, entsprechendes gilt bei Verletzungen im Halswirbelsäulenbereich). Allerdings muss generell gesagt werden, dass nicht nur objektivierbar ist, was mittels bildgebender Verfahren bewiesen werden kann (vgl. Senn, das Schleudertrauma der Halswirbelsäule, Bemerkungen zum Stand der Diskussion, SZS [schweizerische Zeitung für Sozialversicherung und berufliche Vorsorge] 1996, 314, 320 mit Hinweis auf eine Entscheidung des eidgenössischen Versicherungsgerichts vom 20.10.1994).
Allgemein gilt, dass bildgebende Verfahren vielleicht einen "Einblick" in bestimmte physiologische Zusammenhänge und Funktionsweisen des Körpers geben können; eine lückenlose Darstellung der Lebensprozesse als Ausdruck von erkannten Zwangsläufigkeiten ist jedoch bisher nicht gelungen. Es ist aber auch nicht Voraussetzung für den Nachweis eines Schadens in einem System, dass dieses System vollständig erklärt werden kann. Auch ist eine vollständige "Materialisierung" nicht erforderlich. Der Gleichgewichtssinn ist in diesem Sinne ein System, dem nicht so einfach ein Organ zugeordnet werden kann, wie dies beispielsweise bei Augen und Ohren der Fall ist. Zwar spielt hier das Labyrinth die Rolle eines materiellen Korrelats, allerdings ist bei dem Gleichgewichtssinn - wie übrigens auch bei dem "Muskelsinn" genannten propriorezeptiven System deutlicher als beispielsweise bei Auge und Ohr, dass es sich um ein sehr komplex sich regelndes System handelt, welches durchaus nicht sich auf die Aufgabe beschränkt, irgendwelche Informationen an die "Zentraleinheit" zur Weiterverarbeitung zu melden. Diese Sichtweise wäre im Übrigen auch bei dem Gesichtssinn und dem Gehörsinn verkürzt, wird doch ständig das Wahrgenommene mit Aktionen verbunden, überprüft und auch verändert.
Eine Begutachtung kommt daher dann der in der Unfallversicherung ohnehin allein einschlägigen Funktionsbegutachtung am nächsten, wenn sie sich von der Betrachtung der Gegenstände löst und das Augenmerk auf die Funktionsstörungen richtet. Dies sind die Vorzüge des Gutachtens von Dr. M ... Durch die vorgenommenen Untersuchungen wurden Störungen des vestibulo-spinalen, vestibulo-okulären, propriorezeptiven und des okulomotorischen Systems sowie der zentralen Gleichgewichtsverarbeitung festgestellt, letzteres besonders im Bereich des Stammhirns, welches pathologische Potenziale aufwies. Bei den vorgenommenen Untersuchungen handelt es sich keineswegs um Außenseitermethoden. Die frühen akustisch evozierten Potenziale werden in der Standardliteratur empfohlen (Müller, Funktionsprüfung des Nervensystems, in: Fritze, Die ärztliche Begutachtung, 5. Auflage 1996, S. 302; vgl. zur Diagnose von Schädigungen im Bereich des Hirnstammes durch otoakustisch evozierte Emissionen: Bericht über Referat von Dr. N ..., Göttingen beim Symposion über neurootologische Leiden in Bad Kissingen, LVA-Mitteilung Württenberg, 1997, 177 f.). Die Kritik an den Nystagmus-Testen wiegt nicht schwer. Es trifft zu, dass hier Fehler auftreten können, darauf weist auch Feldmann (Fehler bei der Begutachtung von Hals-Nasen-Ohren Krankheiten, MedSach 89 [1993], 163, 167) hin; dass solche Fehler im konkreten Fall aufgetreten sind, ist allerdings äußerst unwahrscheinlich, denn es gibt keine sich widersprechenden Ergebnisse. In den kritischen Stellungnahmen zum Gutachten M ... wurde denn auch nur auf die Fehleranfälligkeit hingewiesen, jedoch kein konkreter Fehler benannt.
Der Kläger weist im Übrigen eine ganz spezifische und einschlägige Symptomatik auf. Der Senat ist davon überzeugt, dass insofern keine Simulation vorliegt; eine "unbewusste" Simulation auf Grund psychischer Probleme könnte auch kaum das exakte Beschwerdebild treffen.
Häufige Folgen des HWS-Traumas mit oder ohne Schädelbeteiligung sind - auch ohne röntgenologisch fassbare Wirbelsäulenschäden - hartnäckige Beschwerden wie Cervicobrachialgien oder auch Kopfschmerzen, Schwindel, Ohrensausen, Konzentrationsschwäche, Merkfähigkeitsstörungen, unter Umständen sogar Depressionen (vgl. Delank, Traumatische und posttraumatische Schädigungen des Nervensystems, in: Fritze, Die ärztliche Begutachtung, 5. Auflage 1996, S. 683). Auch die Sehbeschwerden sind typisch. Eine Untersuchung von Zihl/Prosiegel (Sehstörungen und HWS-Schleudertrauma, in: Traumatologie Aktuell, Band 14, Stuttgart/ New York 1994, 91 bis 99) zeigt, dass verschwommen Sehen bzw. unscharf Sehen sich bei entsprechend Traumatisierten objektivieren lässt und dass insbesondere das Vorliegen eines Rentenbegehrens keinen Einfluss auf das Vorhandensein dieser Störung hat. Allgemein bekannt ist, dass dieser Symptomenkomplex, also dieses Syndrom in zehn bis 20 Prozent der Fälle zur Prolongation neigt (vgl. Bresser, Ph., Die Beurteilung der sogenannten traumatischen Hirnleistungsschwäche, Fortschr. Neurol. Psychiat. 1961, 29, 33 bis 55). Aufgefallen war dieses Syndrom schon in den 50er Jahren (J. R. Gay/K. H. Abbot, Common Whiplash Injury of the Neck, Journal of the American Medical Association, 29.08.1953, 1698). Viele Studien zeigen auch, dass chronische Schmerzen über Jahre andauern können und nicht mit einer so genannten Begehrensneurose erklärbar sind (vgl. R. W. Evans, Some Observations on Whiplash Injuries, Neurologic Clinics 10 [1992] Nr. 985 m. w. N.). Auffällig ist, das nach einer leichten Gehirnverletzung chronische Schmerzen häufiger sind als nach schwerer Gehirnverletzung. Auch posttraumatische Symptome treten eher nach milden Kopftrauma als nach Kopftrauma schwerwiegenden Ausmaßes auf (vgl. R. C. Packard, R. Weaver, L. P. Ham, Cognitive symptoms in patients with posttraumatic headache, Headache Management and Neurology 33 [1993], 356 bis 368). Typisch für Patienten mit dem so genannten "Postconcussion syndrome", das sowohl eine Folge einer Gehirnschädigung als auch einer Beschleunigungsbewegung der Halswirbelsäule sein kann (vgl. Queller/Chibnall/Duckro, Headache 34 [1994] 503 bis 507), ist eine Tendenz zur Dissimulation in der Anfangsphase. Nach einer Untersuchung von Fellmann (Isabel Fellmann, Neuropsychiologische Folgen bei HWS-Traumen in: Proceedings, Folgen von HWS-Traumen und ihre Beurteilung, Arbeitstagung der SVNP, Bern, Juni 1995, 26) bagatellisieren HWS-Patienten selber ihre Einschränkungen anfänglich und es braucht eine gewisse Zeit, bis sie realisieren, dass ihre eigene Einschätzung falsch ist. Wenn dann die Ressourcen (Freizeit) aufgebraucht sind, braucht es nur noch eine kleine äußerliche Überforderung und das mühsam aufrecht erhaltene System bricht zusammen. Das beim Kläger vorhandene ganz typische Beschwerdebild (vgl. hierzu auch Kortschot/Oosterveld, Otoneurologische Störungen nach HWS-Schleudertrauma, Orthopädie 23 [1994] S. 275 bis 277 und Eichhorn, Das "typische" Beschwerdebild [Folgeschäden] des so genannten Schleudertraumas der HWS aus Sicht der Hals-Nasen-Ohren Heilkunde, in: Traumatologie Aktuell, Band 14 Stuttgart/New York 1994, S. 85 bis 90) lässt es dem Senat ausgeschlossen erscheinen, dass Hintergrund lediglich eine psychogene Störung ist. Es wäre nicht erklärbar, warum bei zehn Prozent der leicht Verletzten mit HWS- und Hirnbeteiligung eine ganz spezifische Symptomatik auftritt, und diese Symptomatik psychogener Ursache sein soll, obwohl doch diese Gruppe nur das Trauma gemeinsam hat, die psychische Konstitution bzw. Prädisposition aber durchaus nicht. Dem Senat erscheint daher auch der Begriff "pseudoneurasthenisches Syndrom", der das gemeinsame Auftreten von bestimmten Symptomen bedeutet, die man einer Nervenschwäche (Neurasthenie) zuordnen könnte, aber nicht möchte (pseudo), weder als Diagnose aussagekräftig noch geeignet, einen Rentenanspruch zu verneinen. Entsprechendes gilt für Attribute wie "psychogen" oder "Somatisierungstendenz". Für all diese Diagnosen fehlt es an der entsprechenden Exploration; im Übrigen deutet bei dem Kläger nichts auf einen so genannten "Krankheitsgewinn". Erst nach völligem Ausscheiden aus dem Berufsleben wegen Erwerbsunfähigkeit stellt sich die Unfallrente als ein "Gewinn" dar; die Symptome waren allerdings auch schon vorhanden, als es für den Kläger zweifelsohne günstiger gewesen wäre, auf die Rente zu verzichten und Betriebsleiter zu bleiben.
Der Senat folgt Dr. M ... nicht hinsichtlich der Minderung der Erwerbsfähigkeit. Dr. M ... errechnet eine Gesamt-MdE von 40 % auf HNO-ärztlichen Fachgebiet, wobei er irrtümlicherweise einen Tinnitus mit einer Einzel-MdE von 10 % und eine Trigeminusirritation mit einer Einzel-MdE von 5 % gewissermaßen auf die ansonsten festgestellte MdE von 30 % heraufschlug. Es kann dahingestellt bleiben, ob diese Störungen überhaupt als Unfallfolge in Betracht kommen, jedenfalls erhöhen sie die MdE nicht. Die weitere Heraufsetzung der MdE (konsequenterweise nicht auf HNO-Fachgebiet) auf 60 % wurde dann allerdings nicht weiter begründet. Die "schwere, die gesamten zentral verarbeitenden Strukturen betreffende Störung" kann sich auch nur auf die Gleichgewichtsfunktionsstörung mit ihren Auswirkungen beziehen, welche - beschränkt auf das HNO-ärztliche Fachgebiet - allgemein "vegetative Begleiterscheinungen" genannt wurden. Der Rombergsche Stehversuch und der Unterbergersche Tretversuch erbrachten nach der Tabelle in Mehrhoff/Muhr (Unfallbegutachtung 10. Auflage 1999, S. 140) lediglich Unsicherheiten, nicht aber Schwierigkeiten, mit geschlossenen Augen zu gehen oder zu stehen, so dass ohne die vegetativen Begleiterscheinungen nur eine MdE von 20 % angebracht wäre, mit den vegetativen Begleiterscheinungen also 30 %.
Der Beginn der Rente ergibt sich aus § 580 Abs. 2 RVO.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG; Gründe für die Zulassung der Revision nach § 160 Abs. 2 SGG sind nicht ersichtlich, da sich auch eine eventuelle grundsätzliche Bedeutung nicht auf vom Gericht zu entscheidende Rechtsfragen stützen könnte, sondern nur auf die Beurteilungen in tatsächlicher Hinsicht.
III. Die Beklagte wird verpflichtet, dem Kläger wegen der Folgen des Arbeitsunfalls vom 16.11.1990 Rente aus der gesetzlichen Unfallversicherung nach einer MdE um 30 % zu bewilligen.
IV. Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Rechtsstreits für beide Instanzen zu erstatten.
V. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Streitig sind die Folgen eines Arbeitsunfalls.
Der am ... geborene Kläger erlitt am 16.11.1990 auf dem Weg von seiner Arbeitsstelle zu einem auswärtigen Termin (Dienstfahrt) einen Verkehrsunfall, als der Anhänger eines entgegenkommenden Lkw ins Schleudern geriet, umkippte und dabei den Pkw des Klägers rammte und teilweise unter sich begrub. Der Kläger erlitt eine Schädel- und Thoraxprellung, eine Prellung der linken Schulter sowie zahlreiche Schnittverletzungen, insbesondere im Gesicht. Es bestand eine Bewusstlosigkeit von 30 Minuten. Der Kläger war für 45 Minuten in seinem Fahrzeug eingeklemmt und musste befreit werden.
Sein Hausarzt traf ihn an der Unfallstelle ansprechbar an und verabreichte ihm ein starkes Schmerzmittel, worauf der Kläger wieder in einer längeren Bewusstlosigkeit versank und erst in der Röntgenstation des Chirurgischen Krankenhauses ... wieder erwachte. Schon während seines dann drei Wochen dauernden Krankenhausaufenthalts klagte er über Kopfschmerzen, Übelkeit, Schmerzen in der linken Gesichtshälfte, im linken Brustbereich, im linken Arm, beim Öffnen des Mundes und über Probleme des Stütz- und Bewegungsapparates. Am Entlassungstag konnte er nicht Treppen steigen und bedurfte der Hilfe des Taxifahrers. Von den behandelnden Ärzten Dr. L ... und Dr. T ... war dem Kläger mitgeteilt worden, dass sich diese Beschwerden wieder legen würden. Doch auch in der Folgezeit litt er unter Kopf- und Nackenschmerzen, Drehschwindel und Brechreiz. Es traten Konzentrations- und Kommunikationsprobleme auf, das Lesen und Fernsehen bereitete dem Kläger ebenfalls Schwierigkeiten, da alles vor seinen Augen verschwamm. Das Bewegen der Augen von links nach rechts war auch mit Problemen verbunden. Nachdem sich der Zustand wider Erwarten nicht besserte, bat er seinen Hausarzt Dr. H ... um Überweisung zu einem Facharzt. Die Behandlung bei dem Orthopäden Dr. B ... im Februar 1991 führte eine vorübergehende Besserung des Befindens herbei. Es handelte sich dabei um Extensionsbehandlungen, um eine chiropraktische Behandlung von Blockierungen verschiedener Segmente der Halswirbelsäule. Seine Arbeit trat der Kläger auf eigenen Wunsch am 16.03.1991 wieder an, da in seinem Betrieb eine Terminsaufgabe zu erledigen war. Aber bereits einen Tag später musste er die Arbeit wegen Übelkeit unterbrechen, seit dem 18.03.1991 kam es dann regelmäßig zu morgendlicher Übelkeit mit Erbrechen. Dieser Zustand änderte sich nicht bis August 1991, als in seinem Betrieb Kurzarbeit angeordnet wurde.
Im September 1991 erfolgte die Überweisung in die Nervenklinik ... zur stationären Behandlung. Die verordneten Medikamente (Pangrol, Disotat, Corinfer, Rökan, Urobenol, Cerebroforte, Dogmatil) nahm der Kläger auch nach der Entlassung am 27.09.1991 weiter ein, setzte sie jedoch wegen der darauf zurückzuführenden Gewichtszunahme im Dezember 1991 ab und teilte dies dem Stationsarzt Dr. G ... brieflich mit und bat um Beratung. Es erfolgte dann die Weiterbehandlung bei dem Neurologen Dr. W ... Ab Anfang 1992 wurde er nicht mehr als Betriebs-, sondern nur noch als Brigadeleiter eingesetzt. Zum 25.03.1993 wurde er wieder arbeitsunfähig. Es erfolgte die Bewilligung von BU-Rente durch die Bundesknappschaft.
Mit Schreiben vom 11.12.1992 hatte der Kläger zuvor schon bei der Beklagten Unfallrente beantragt. Die Beklagte holte daraufhin Befundberichte bei den behandelnden Ärzten ein. Dr. B ... äußerte den Verdacht nervöser Störungen (unter Hinweis auf den stationären Aufenthalt in der Nervenklinik), Dr. W ... nannte Verspannungen der HWS sowie ein neurasthenisches Syndrom bei beruflicher Belastung, am Rande wurden jedoch auch Störungen der hinteren Strombahn erwähnt, welche bei akustisch evozierten Hirnpotenzialen aufgefallen waren. Im Gegensatz zu der ersten "kurzen Krankheitsauskunft" vom 22.04.1991, in welcher Dr. Hirth von einem Schädel-Hirn-Traum 1. Grades ausgegangen war, welches im Übrigen "folgenlos abgeheilt" sei, formulierte Dr. W ... nunmehr die Diagnose als SHT 1. bis 2. Grades und im gleichen Satz "vonotus mattutitus", womit nur "vomitus matutinus", also das morgendliche Erbrechen gemeint gewesen sein kann.
Mit der Erstellung eines kurzen Rentengutachtens beauftragt, beschrieb OMR Buschbeck noch einmal detailliert die Blockierungsneigungen in der HWS, welche er als Unfallfolge ansah, wies auf die durch einen Neurologen abzuklärenden Konzentrationsmängel hin und schätzte die unfallbedingte MdE mit 30 % ein. Bis zum 25.02.1991 habe die MdE 100 % betragen, danach bis zum 07.06.1993 (Tag der Untersuchung) 30 bis 50 %.
Dieser Einschätzung widersprach Prof. D ..., der anschließend von der Beklagten mit einer gutachterlichen Stellungnahme beauftragt worden war, entschieden. Zwar sei es grundsätzlich möglich, dass nach einer verletzungsbedingten Instabilität ein Kompensationsprozess einsetze, der nun seinerseits degenerative Veränderungen durch die damit verbundene Fehlbelastung und -beanspruchung auslöse. Auch sei es natürlich möglich, dass - röntgenologisch nicht erkennbare - Verletzungen an den nicht knöchernen Strukturen der Wirbelsäule - wie Gelenkkapseln, Bandapparat, Zwischenwirbelscheiben, Diskuiden der Zwischenwirbelgelenke - entstünden und ihrerseits einen Kompensationsprozess auslösten. Bei dem Kläger lägen allerdings nur geringe Degenerationserscheinungen an der HWS vor, die Wirbelgelenkblockierungen seien überdies bei einem 54-Jährigen altersadäquat. Es ergebe sich also überhaupt keine unfallbedingte MdE.
Dies ist auch das Ergebnis eines Gutachtens vom 23.08.1994 der Orthopäden Dres. T ... und S ..., Institut für medizinische Begutachtung, ... In der Anamnese werden die Begriffe "Blockierungen", "Schocksituation" wie auch "Einrenken" immer in Anführungsstrichen gesetzt, der Kläger habe eine eingeschränkte Beweglichkeit der Halswirbelsäue "gezeigt", im Übrigen hätten so genannte Blockierungen ohnhin eine fragwürdige Krankheitsrelevanz, schon weil sie praktisch immer entstehen könnten und ein Unfallgeschehen somit nur Gelegenheitsursache sein könne.
Es gelte grundsätzlich, dass bei einer Kontaktverletzung des Schädels, welche hier ja stattgefunden habe, auch eine Abknickverletzung der HWS in Betracht komme. Allerdings gebe es dann nur zwei Alternativen: Die Verletzung sei entweder eine Fraktur oder harmlos. Beim Kläger könne aber eine Fraktur der HWS mit Sicherheit ausgeschlossen werden. Vielmehr seien nur diskrete Abrundungen der seitlichen Hakenfortsätze an den unteren Halswirbelkörpern zu beobachten, also eine Verplumpung ähnlich der Unkovertebralarthrose. Dies könne sich aber nicht in der relativ kurzen Zeit seit dem Unfall entwickelt haben. "Blockierungen" als traumatisch bedingt anzusehen, entspreche der "hypothetischen Denkweise seitens der Manualmedizin". Es gelte die "unstreitige traumatologische Regel", dass strukturelle Verletzungen unmittelbar nach dem Schadensereignis die ausgeprägtesten Beschwerden verursachten. Bei dem Kläger sei daher in erster Linie an ein depressives bzw. pseudoneurasthenisches Syndrom zu denken. Es werden allgemeine Ausführungen zur Rentenneurose gemacht und im speziellen wird darauf hingewiesen, dass Nackenbeschwerden ("Nackenschläge") meist psychogen seien, der musculus trapezius als der Aufrichter des Nackens sei ein "typisches Erfolgsorgan". Man müsse also von Fehlentwicklungen im subjektiven Beschwerdeerleben sprechen, die ihren Grund in der Persönlichkeitsstruktur des Klägers hätten.
Insoweit geht auch der Neurologe und Psychiater mit den Vorgutachtern konform, als er es für möglich hält, dass die beim Kläger aufgetretenen Schluckstörungen neurotischer Genese sind (den beruflichen Misserfolg nicht "schlucken" können). Andererseits widerspricht er aber seinen Vorgutachtern hinsichtlich der Diagnose: Beim Kläger liege ein psychovegetatives Syndrom vor. Dies habe mit einem pseudoneurasthenischen Syndrom nichts zu tun. Anders als T .../S ..., die von einer somatoformen Schmerzstörung ausgegangen waren, bejaht Dr. W ... die Übereinstimmung von Klagen und Befund. Es bestehe auch kein Anhalt für Aggravation oder ein psychotisches Geschehen. Die Kopfschmerzen seien - wie auch das Erbrechen - Ausdruck eines "Migränekopfschmerzes". Die Diagnosen von Frau Dr. C ... und Frau Dr. F ..., welche "symptomatischer Morbus Meniere" bzw. "oro-faciale Regulationsstörungen" lauten, werden ohne eigene Stellungnahme lediglich referiert. Die Einschränkungen der Merkfähigkeit, Lernfähigkeit und der kognitiven Umstellungsfähigkeit werden von Dr. W ... konstatiert, können aber nicht mit der - übernommenen - Diagnose "SHT 1. Grades" in Einklang gebracht werden. Insgesamt glaubt Dr. W ..., die Erscheinungen beim Kläger auf eine unfallunabhängige "Störung des Lebensnervensystems" zurückführen zu können.
Den Ablehnungsbescheid vom 12.01.1994 hatte die Beklagte allein auf das Gutachten des Prof. D ... gestützt und darauf, dass die Leiden schicksalsmäßig bedingt seien, dem Widerspruchsbescheid vom 12.01.1995 legte sie auch die erwähnten Gutachten der Dres. S .../T ... und W ... bei.
Auf die Klage zum SG Chemnitz hat dieses den Orthopäden Dr. P ... mit der Erstellung eines ärztlichen Sachverständigengutachtens beauftragt. Dieser wies darauf hin, dass der Unfall sowohl eine Gehirnerschütterung wie auch ein Hyperflexionstrauma habe hervorrufen können. Wahrscheinlich sei die Gehirnerschütterung. Hinsichtlich der HWS liege keine richtunggebende, sondern nur eine vorübergehende Verschlechterung vor, da röntgenmorphologische Veränderungen fehlten. Im Übrigen erlaube er sich als Orthopäde keine Beurteilung der Symptome Kopfschmerzen, Übelkeit und sonstige cerebrale Probleme. Diese Symptome hätten bei dem Kläger offensichtlich im Vordergrund gestanden.
Der daraufhin zu Rate gezogene Neurologe und Psychiater Prof. R ... erklärte die Symptome - Mund kann nicht vollständig geöffnet werden, - stechende Kopfschmerzen, - morgendliche Übelkeit, - dauerhafte Schmerzen in der linken Gesichtshälfte in erster Linie als psychoreaktive bzw. psychogene Erscheinungen eines ehrgeizigen Mannes in einer Umbruchsituation. Die gleichzeitig vorhandene Verlangsamung der Denkabläufe und Herabsetzung der Merkfähigkeit führte er auf eine anlässlich akustisch evozierter Potenziale festgestellte Pons-Mittelhirn-Störung r. zurück, deren Ursache er allerdings nicht in dem Unfallgeschehen, sondern in einem langjährigen Bluthochdruck des Klägers ausmachte. Eine HWS-Distorsion 1. Grades habe vorgelegen, hiervon könnten jedoch nur ganz ausnahmsweise Spätfolgen verblieben. Voraussetzungen seien im Allgemeinen: - eine Distorsion III. Grades - 4-6 wöchige Bettlägerigkeit - eine schmerzhafte Bewegungseinschränkung von Kopf und Hals - eine totale Haltungsinsuffizienz - Verletzungsmerkmale im Röntgenbild. All dies sei bei dem Kläger nicht dokumentiert. Durch den Unfall seien also - über den 15.11.1991 hinaus - keine Gesundheitsstörungen verursacht, mitverursacht oder verschlimmert worden. Für das erste halbe Jahr nach dem Unfall habe die MdE 20 % betragen, danach noch ein weiteres halbes Jahr 10 %.
Auf Antrag der Klägers hat das SG den HNO-Facharzt Dr ..., Soltau gem. § 109 SGG gutachterlich gehört. Dr. M ... stellte Unregelmäßigkeiten fest bei - frühen akustisch evozierten Potenzialen - visuell evozierten Potenzialen - dem Rombergschen Stehversuch - dem Unterbergschen Tretversuch sowie einen ab 60° hochpathologischen Cervikal-Nystagmus. Die Gleichgewichts-Funktionsteste erbrachten darüber hinaus objektivierbare Störungen der - vestibulo-spinalen - vestibulo-okulären - propriorezeptiven und okulomotorischen Systeme. Dr. M ... schloss auf Schäden im Bereich des Hirnstamms und zählte folgende Beschwerden des Klägers auf, die vor dem Unfallereignis nicht bestanden: 1. Gleichgewichtsstörungen, Übelkeit, Schwankschwindel, Erbre chen und Kopfschmerzen, 2. Rechtsseitiger stechender Gesichtsschmerz, 3. Schluckbeschwerden, 4. Sehstörungen, 5. Hirnleistungsstörungen, 6. Parästhesien der Finger und des Armes.
Dr. M ... berief sich auf Prof. C ..., welcher auf dem 32. Deutschen Verkehrsgerichtstag (1994) in Goslar die "funktionsorientierte neurootologische medizinische Begutachtung von Verkehrsunfallopfern nach einem HWS-Schleudertrauma" vorgestellt hatte. Dort heißt es: Der Traumamechanismus des HWS-Schleudertrauma setzt mit seinen im Wesentlichen wirksamen Hyperflektions- und Hyperestensionsschlägen von weniger als 50 ms Dauer sehr mannigfaltige makroskopische und mikroskopische Schäden im HWS-, Muskel-, Gefäß- und Sensorbereich, im Bereich der Halsnerven, des Rückenmarks und des Hirnstammes. Das beobachtbare Krankheitsbild zerfällt in zwei Hauptgruppen, nämlich das obere HWS-Schädigungsmuster im Sinne des cervico-cephalen Syndromes und das untere im Sinne des cervico-brachialen Syndromes. Meist erst nach einem Intervall bildet sich innerhalb von Stunden bis Tagen das eigentliche Beschwerdebild heraus, welches bei ca. 80 % der Betroffenen kurzfristig ausheilt und bei 15 bis 20 % zu langfristigen Leiden führt. Nackenschmerzen, Kopfschmerzen und Kopfsinnesstörungen wie Schwindel, Hörstörungen, Ohrgeräusche, vegetative Beschwerden, Sehstörungen wie auch Hirnleistungsstörungen treten in der Folge eines solchen HWS-Schleudertraumas regelmäßig auf. Dr. Kortmann wies darauf hin, dass das geschilderte Beschwerdebild mit dem des Klägers übereinstimme. Der Kläger sei in seiner Erwerbsfähigkeit durch die Unfallfolgen Kombinierte zentral-periphere Gleichgewichtsfunktionsstörung mit labyrinthär ausgelöster Übelkeit bei objektivierbarer vestibulo-okulärer Schädigung, zentral-vestibulärer Störung, Störung der Optokinetik, Tinnitus aureum, Trigeminusirritation links, Nacken und Kopfschmerzen, vertebragen ausgelöste Gleichgewichtsstörung, Schwere, die gesamten zentral verarbeitenden Strukturen betreffende Störung um 60 % gemindert. Das so genannte Erdmann-Schema, dessen Anwendung die Vorgutachter zu einer Ablehnung einer unfallbedingten MdE veranlasst habe, sei veraltet.
Gegen diese Schlussfolgerungen haben sich die Vorgutachter verwahrt: Sie verweisen auf die Kritik Feldmanns an der neurootologischen Methode und vertreten die Ansicht, prolongierte Beschwerden nach HWS-Trauma träten in Ländern, in denen es keine Entschädigungen gibt, nicht auf. Prof. D ... wies noch einmal darauf hin, dass in den bildgebenden Verfahren keine Verletzung sichtbar sei. Dres. T .../S ... betonten dies auch und wiesen darauf hin, dass ihrer Ansicht nach die Hypothesen der Manualmedizin nicht belegt seien, "cervikalen Schwindel" gebe es ebenso wenig wie eine vertebragen ausgelöste Gleichgewichtsstörung. Prof. C ... sei nicht seriös, man habe - leider vergeblich - versucht, sein Auftreten auf dem Verkehrsgerichtstag zu unterbinden; leider sei auch ein diese Vorgänge betreffender Leserbrief Dr. S ... an die ADAC-Motorwelt bezeichnenderweise nicht abgedruckt worden. Der Kläger sei nur "relativ bescheidenen" Beschleunigungseinwirkungen ausgesetzt gewesen und wenn bei 10 bis 20 % die entsprechende Symptomatik nicht ausheile, müsse das gar nichts heißen, schließlich könne eine ähnliche Symptomatik auch beispielsweise bei Milzverlust auftreten.
Das SG hat mit Urteil vom 06.11.1998 die Klage abgewiesen.
Hiergegen richtet sich die Berufung des Klägers.
Er beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Chemnitz vom 06.11.1998 sowie den Bescheid der Beklagten vom 12.01.1994 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12.01.1995 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, wegen der Folgen des Arbeitsunfalls vom 16.11.1990 Rente aus der gesetzlichen Unfallversicherung nach einer MdE von mindestens 20 % zu zahlen.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Berufung ist auch begründet.
Der Kläger ist wegen der Folgen des Arbeitsunfalls vom 16.11.1990 über die 13. Woche hinaus (§ 580 RVO in der bis zum 31.12.1991 geltenden Fassung i. V. m. § 1150 Abs. 2 RVO) in seiner Erwerbsfähigkeit um 30 % gemindert. Es besteht somit Anspruch auf Teilrente in der entsprechenden Höhe gem. § 581 Abs. 1 Satz 2 i. V. m. Abs. 2, § 1154 Abs. 1 Satz 2 RVO, § 215 Abs. 1 SGB VII. Die entgegenstehenden Bescheide der Beklagten und das Urteil des SG Chemnitz vom 06.11.1998 waren daher aufzuheben.
Der Senat ist nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Beweiswürdigung (§ 128 Abs. 1 Satz 1 SGG) zu der Überzeugung gelangt, dass eine überwiegende Wahrscheinlichkeit für einen Kausalzusammenhang zwischen den - unstreitig - vorhandenen Gesundheitsstörungen, die eine MdE von 30 % bedingen, und dem Arbeitsunfall vom 16.11.1990 besteht. Es spricht mehr dafür, dass die vom Kläger auch noch 10 Jahre nach dem Unfall geklagten Beschwerden Folgen dieses Unfalls sind. Fest steht das Unfallereignis als solches, dies wird auch von der Beklagten nicht bestritten (BSGE 58, 80, 82, BSG SozR 3 2200 § 548 Nr. 19). Fest steht auch, dass der Kläger durch diesen Unfall einen im Übrigen nicht unerheblichen - Gesundheitsschaden erlitten hat (vgl. BSGE 58, 80, 83, BSG SozR 548 Nr. 84). Ein Gesundheitsschaden ist auch im Kopf-/Halsbereich eingetreten. Dies beweisen schon die Verletzungen. Der Vollbeweis ist allerdings nicht erforderlich für jede einzelne Teildiagnose. Es muss nicht nachträglich mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit feststehen, was sich genau im Körper des Verunfallten während des Unfalls abgespielt hat. Die Führung eines solchen Beweises dürfte in der Regel unmöglich sein. Hiervon zu trennen ist die Frage, inwiefern Erfahrungssätze darüber, welche Arten von Verletzungen welche Arten von Spätfolgen auslösen können, im Rahmen der gesamten Beweiswürdigung eine Rolle spielen. Die Anwendung solcher Erfahrungssätze kann nicht nachträglich die Beweisanforderungen für den Zustand unmittelbar nach dem Unfall heraufsetzen, vielmehr ist auch in diesem Zusammenhang eine Gesamtwürdigung vorzunehmen, ohne dass Rückschlüsse aus entsprechenden Erfahrungssätzen schon deswegen unzulässig wären, weil nicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit bewiesen ist, welche - unter Umständen mikroskopischen - Verletzungen an dem Gesamtschadensbild wesentlichen Anteil hatten. Auch ist eine lückenlose, gewissermaßen hunderprozentige Aufklärung des Unfallgeschehens - auch dieses dürfte praktisch nicht möglich sein - nicht Prämisse für jede weitere Schlussfolgerung; auch hier gilt, dass eine Aufklärung nur soweit zu erfolgen hat, wie sie für die entsprechenden Schlussfolgerungen notwendig ist. Wahlfeststellungen sind möglich. Darüber hinaus gilt, dass nach der Rechtsprechung des BSG die Anforderungen an den Beweis des Ursachenzusammenhanges bei einer unfallbedingten Erinnerungslücke des Verletzten herabgesetzt sind. Dies bedeutet praktisch, dass das Tatsachengericht schon auf Grund weniger tatsächlicher Anhaltspunkte von einem bestimmten Geschehensablauf überzeugt sein kann (vgl. BSG, Urt. v. 12.06.1990, HVBG-Info 1990, 2064, BSGE 24, 25, 29).
Der Senat ist davon überzeugt, dass der Körper des Klägers bei dem Frontalzusammenstoß aus einer Geschwindigkeit mit 50 km/h (eine reflektorische Bremsung mit eingerechnet) erheblichen Beschleunigungskräften ausgesetzt war. Dies gilt insbesondere für den Moment des Kopfanschlages. In einer Studie wurden Akzelerationskräfte auf den Kopf von 5 g während 35 msec bei einer Aufprallgeschwindigkeit 8 mpH gemessen (J. J. Mathewson Severy, CAN. Services. Med. J. 11 [1955, 27]). Bei 6 g kommt es beim Kampfpiloten zum so genannten "grey out". Bei einer 15 mpH Heckkollision beschleunigt sich der Kopf mit 10 g (T.A. Blakely, D. E. Harrington Med. Sci. Law 33 [1993] Nr. 3). Ein derlei kombiniertes Kontakt-/Nonkontakttrauma bewirkt in der Regel eine Zerrung im Hirnstamm sowie einen Anprall der verschiedenen Hirnlappenpole gegen das Schädelkalotteninnere. Durch komplizierte Innenkopftraumata können beschleunigungsbedingte Masseverschiebungen des Gehirns im Schädelinneren entstehen. Diese äußern sich unter anderen in messbaren Hirnstammversagenszuständen (vgl. Claussen, Mitteilungen der LVA Württenberg 1997, 179). Beim Kläger wurde durch Prof. R ... eine Pons-Mittelhirn-Störung rechts festgestellt. Diese ist in der Lage, die beim Kläger beobachtete Trigeminusproblematik zu erklären (vgl. Pschyrembel, 258. Auflage, S. 674). Der Senat verkennt nicht, dass der logische Schluss "post hoc ergo propter hoc" nicht zulässig ist; im Rahmen der Gesamtwürdigung muss aber festgestellt werden, dass die von Prof. Reichel in diesem Zusammenhang als wahrscheinlich ins Spiel gebrachte Deutung, die Störungen seien vasculärer Ursache und mit dem langjährigen Bluthochdruck des Klägers in Zusammenhang zu bringen, nicht erklärt, warum diese geradezu typische Symptomatik im Zusammenhang mit dem Unfall auftrat. Für die im Gutachten Prof. Reichel angebotenen Erklärungsmuster, es handele sich dabei um psychoreaktive bzw. psychogene Erscheinungen, fehlt es an einer entsprechenden Exploration des Klägers. Darüber hinaus betrachtet der Senat auch die von Prof. R ... ausdrücklich als "im Allgemeinen geltende" Voraussetzungen für Spätfolgen, jedenfalls insofern als überholt, als sie nur "im Allgemeinen" gelten, also eine gewisse statistische Validität haben, für den Einzelfall aber gerade nicht den Zusammenhang ausschließende Folgerungen zulassen. Die Validität der von Prof. R ... genannten Kriterien besteht darin, dass bei Vorliegen dieser Kriterien in der Regel mit Spätfolgen gerechnet werden kann und bei Nichtvorliegen in der Regel damit gerechnet werden kann, dass Spätfolgen ausbleiben. Dies gilt nach wie vor. Im Einzelfall kann aber, um ein Bild aus der Kriminalistik zu gebrauchen, sehr wohl derjenige der Täter sein, der sich überhaupt nicht verdächtig gemacht hat. Davon abgesehen sind auch die von Prof. R ... benannten Gesichtspunkte kritisch zu durchleuchten. Auch das SG hat seine Entscheidung darauf gestützt, dass der Kläger "ansprechbar" am Unfallort vorgefunden worden sei und somit nur ein Schädelhirntrauma ersten Grades in Betracht komme. Hierzu führen aber schon Schimrigk/Trabert/Schrappe (Neurologische und psychiatrische Erkrankungen, in: Marx, Medizinische Begutachtung, 1992, S. 587, 621) aus, dass die mühsame Zuwendung eines Benommenen auf Zuruf seines Namens zwar "Ansprechbarkeit" beweise, im Übrigen aber diese Reaktion über die augenblickliche cerebrale Funktion überhaupt nichts aussage. Um brauchbare Ergebnisse zu erhalten, sei es erforderlich, der Untersuchungsperson einfache Aufträge zu erteilen, wie "Zunge herausstrecken", "Augen schließen", "Faust machen" etc. Auch sei die Orientierung nach Zeit (Datum und Wochentag) und Ort zu überprüfen. Dergleichen ist beim Kläger nicht erfolgt. Die Diagnose SHT 1. Grades wurde gleichwohl von den Gutachtern aus den Akten und dort aus dem Unfallbericht übernommen. Für eine erheblichere Verletzung sprechen aber doch wichtige Hinweise: die Bewusstlosigkeit dauerte länger als 15 Minuten und vegetative wie vestibuläre Zeichen waren nachweisbar (vgl. Venzlaff/Förster, psychiatrische Begutachtung, 3. Auflage 2000, S. 152). Eine Bewusstlosigkeit von 30 Minuten ist unstreitig; davon abgesehen ist es auch unwahrscheinlich, dass die anschließende längere Bewusstlosigkeit allein Folge der Schmerzmittelgabe war; die an der "Ansprechbarkeit" festgemachte Feststellung des Endes einer posttraumatischen Bewusstlosigkeit übersieht, dass auf dem Wege von Bewusstlosigkeit zum normalen Bewusstseinszustand eine Bewusstseinsverfassung in der Regel durchlaufen wird, in welcher der Patient "besinnungslos" war, eine Zeit, für die später jede Erinnerung fehlt (vgl. Schimrigk/Trabert/Schrappe a. a. O., S. 622). Die Auffassung, dass röntgenologische Veränderungen gewissermaßen notwendige Bedingungen für die Anerkennung von Spätfolgen aus dem Unfallgeschehen seien, ist gleichfalls nicht haltbar, und zwar aus mehreren Gründen: Zunächst einmal handelt es sich bei den röntgenologisch abgebildeten Strukturen um grobe Strukturen, die einen direkten Zusammenhang zu der geklagten Symptomatik ohnehin nicht haben und einen mittelbaren auch nicht immer haben müssen. Von einem Wirbelkörper kann eine Ecke fehlen oder sich eine zusätzliche gebildet haben (Spondylophyten), ohne dass dies irgendwelche Auswirkungen auf das Wohlbefinden des Menschen hätte oder dass man von Krankheit sprechen könnte. Dies gilt auch für andere röntgenologisch sichtbar zu machende Strukturen. Ohne dass dies explizit gesagt wird, spielen diese röntgenologischen Indizien oft die Rolle der Hilfstatsache, d. h. es wird - implizit - von der Schwere der Verletzung auf die Intensität des Verletzungsgeschehens zurückgeschlossen. Auch dies mag generell eine zulässige Methode sein; im Einzelfall ist sie aber insbesondere in negativer Hinsicht, also für den Ausschluss relevanter Verletzungen, unbrauchbar. Nun gibt es mittlerweile feinere bildgebende Verfahren, die im Gegensatz zur Röntgenaufnahme auch Kontusionsnarben, Blutreste, Hydrozephalus, Hirnatrophie, Gefäßläsionen und Liquorfistel sichtbar machen können (vgl. Becker, Relevanz der Medizintechnik für die medizinische Begutachtung aus Sicht eines Radiologen, MedSach 1999, 43, 44, entsprechendes gilt bei Verletzungen im Halswirbelsäulenbereich). Allerdings muss generell gesagt werden, dass nicht nur objektivierbar ist, was mittels bildgebender Verfahren bewiesen werden kann (vgl. Senn, das Schleudertrauma der Halswirbelsäule, Bemerkungen zum Stand der Diskussion, SZS [schweizerische Zeitung für Sozialversicherung und berufliche Vorsorge] 1996, 314, 320 mit Hinweis auf eine Entscheidung des eidgenössischen Versicherungsgerichts vom 20.10.1994).
Allgemein gilt, dass bildgebende Verfahren vielleicht einen "Einblick" in bestimmte physiologische Zusammenhänge und Funktionsweisen des Körpers geben können; eine lückenlose Darstellung der Lebensprozesse als Ausdruck von erkannten Zwangsläufigkeiten ist jedoch bisher nicht gelungen. Es ist aber auch nicht Voraussetzung für den Nachweis eines Schadens in einem System, dass dieses System vollständig erklärt werden kann. Auch ist eine vollständige "Materialisierung" nicht erforderlich. Der Gleichgewichtssinn ist in diesem Sinne ein System, dem nicht so einfach ein Organ zugeordnet werden kann, wie dies beispielsweise bei Augen und Ohren der Fall ist. Zwar spielt hier das Labyrinth die Rolle eines materiellen Korrelats, allerdings ist bei dem Gleichgewichtssinn - wie übrigens auch bei dem "Muskelsinn" genannten propriorezeptiven System deutlicher als beispielsweise bei Auge und Ohr, dass es sich um ein sehr komplex sich regelndes System handelt, welches durchaus nicht sich auf die Aufgabe beschränkt, irgendwelche Informationen an die "Zentraleinheit" zur Weiterverarbeitung zu melden. Diese Sichtweise wäre im Übrigen auch bei dem Gesichtssinn und dem Gehörsinn verkürzt, wird doch ständig das Wahrgenommene mit Aktionen verbunden, überprüft und auch verändert.
Eine Begutachtung kommt daher dann der in der Unfallversicherung ohnehin allein einschlägigen Funktionsbegutachtung am nächsten, wenn sie sich von der Betrachtung der Gegenstände löst und das Augenmerk auf die Funktionsstörungen richtet. Dies sind die Vorzüge des Gutachtens von Dr. M ... Durch die vorgenommenen Untersuchungen wurden Störungen des vestibulo-spinalen, vestibulo-okulären, propriorezeptiven und des okulomotorischen Systems sowie der zentralen Gleichgewichtsverarbeitung festgestellt, letzteres besonders im Bereich des Stammhirns, welches pathologische Potenziale aufwies. Bei den vorgenommenen Untersuchungen handelt es sich keineswegs um Außenseitermethoden. Die frühen akustisch evozierten Potenziale werden in der Standardliteratur empfohlen (Müller, Funktionsprüfung des Nervensystems, in: Fritze, Die ärztliche Begutachtung, 5. Auflage 1996, S. 302; vgl. zur Diagnose von Schädigungen im Bereich des Hirnstammes durch otoakustisch evozierte Emissionen: Bericht über Referat von Dr. N ..., Göttingen beim Symposion über neurootologische Leiden in Bad Kissingen, LVA-Mitteilung Württenberg, 1997, 177 f.). Die Kritik an den Nystagmus-Testen wiegt nicht schwer. Es trifft zu, dass hier Fehler auftreten können, darauf weist auch Feldmann (Fehler bei der Begutachtung von Hals-Nasen-Ohren Krankheiten, MedSach 89 [1993], 163, 167) hin; dass solche Fehler im konkreten Fall aufgetreten sind, ist allerdings äußerst unwahrscheinlich, denn es gibt keine sich widersprechenden Ergebnisse. In den kritischen Stellungnahmen zum Gutachten M ... wurde denn auch nur auf die Fehleranfälligkeit hingewiesen, jedoch kein konkreter Fehler benannt.
Der Kläger weist im Übrigen eine ganz spezifische und einschlägige Symptomatik auf. Der Senat ist davon überzeugt, dass insofern keine Simulation vorliegt; eine "unbewusste" Simulation auf Grund psychischer Probleme könnte auch kaum das exakte Beschwerdebild treffen.
Häufige Folgen des HWS-Traumas mit oder ohne Schädelbeteiligung sind - auch ohne röntgenologisch fassbare Wirbelsäulenschäden - hartnäckige Beschwerden wie Cervicobrachialgien oder auch Kopfschmerzen, Schwindel, Ohrensausen, Konzentrationsschwäche, Merkfähigkeitsstörungen, unter Umständen sogar Depressionen (vgl. Delank, Traumatische und posttraumatische Schädigungen des Nervensystems, in: Fritze, Die ärztliche Begutachtung, 5. Auflage 1996, S. 683). Auch die Sehbeschwerden sind typisch. Eine Untersuchung von Zihl/Prosiegel (Sehstörungen und HWS-Schleudertrauma, in: Traumatologie Aktuell, Band 14, Stuttgart/ New York 1994, 91 bis 99) zeigt, dass verschwommen Sehen bzw. unscharf Sehen sich bei entsprechend Traumatisierten objektivieren lässt und dass insbesondere das Vorliegen eines Rentenbegehrens keinen Einfluss auf das Vorhandensein dieser Störung hat. Allgemein bekannt ist, dass dieser Symptomenkomplex, also dieses Syndrom in zehn bis 20 Prozent der Fälle zur Prolongation neigt (vgl. Bresser, Ph., Die Beurteilung der sogenannten traumatischen Hirnleistungsschwäche, Fortschr. Neurol. Psychiat. 1961, 29, 33 bis 55). Aufgefallen war dieses Syndrom schon in den 50er Jahren (J. R. Gay/K. H. Abbot, Common Whiplash Injury of the Neck, Journal of the American Medical Association, 29.08.1953, 1698). Viele Studien zeigen auch, dass chronische Schmerzen über Jahre andauern können und nicht mit einer so genannten Begehrensneurose erklärbar sind (vgl. R. W. Evans, Some Observations on Whiplash Injuries, Neurologic Clinics 10 [1992] Nr. 985 m. w. N.). Auffällig ist, das nach einer leichten Gehirnverletzung chronische Schmerzen häufiger sind als nach schwerer Gehirnverletzung. Auch posttraumatische Symptome treten eher nach milden Kopftrauma als nach Kopftrauma schwerwiegenden Ausmaßes auf (vgl. R. C. Packard, R. Weaver, L. P. Ham, Cognitive symptoms in patients with posttraumatic headache, Headache Management and Neurology 33 [1993], 356 bis 368). Typisch für Patienten mit dem so genannten "Postconcussion syndrome", das sowohl eine Folge einer Gehirnschädigung als auch einer Beschleunigungsbewegung der Halswirbelsäule sein kann (vgl. Queller/Chibnall/Duckro, Headache 34 [1994] 503 bis 507), ist eine Tendenz zur Dissimulation in der Anfangsphase. Nach einer Untersuchung von Fellmann (Isabel Fellmann, Neuropsychiologische Folgen bei HWS-Traumen in: Proceedings, Folgen von HWS-Traumen und ihre Beurteilung, Arbeitstagung der SVNP, Bern, Juni 1995, 26) bagatellisieren HWS-Patienten selber ihre Einschränkungen anfänglich und es braucht eine gewisse Zeit, bis sie realisieren, dass ihre eigene Einschätzung falsch ist. Wenn dann die Ressourcen (Freizeit) aufgebraucht sind, braucht es nur noch eine kleine äußerliche Überforderung und das mühsam aufrecht erhaltene System bricht zusammen. Das beim Kläger vorhandene ganz typische Beschwerdebild (vgl. hierzu auch Kortschot/Oosterveld, Otoneurologische Störungen nach HWS-Schleudertrauma, Orthopädie 23 [1994] S. 275 bis 277 und Eichhorn, Das "typische" Beschwerdebild [Folgeschäden] des so genannten Schleudertraumas der HWS aus Sicht der Hals-Nasen-Ohren Heilkunde, in: Traumatologie Aktuell, Band 14 Stuttgart/New York 1994, S. 85 bis 90) lässt es dem Senat ausgeschlossen erscheinen, dass Hintergrund lediglich eine psychogene Störung ist. Es wäre nicht erklärbar, warum bei zehn Prozent der leicht Verletzten mit HWS- und Hirnbeteiligung eine ganz spezifische Symptomatik auftritt, und diese Symptomatik psychogener Ursache sein soll, obwohl doch diese Gruppe nur das Trauma gemeinsam hat, die psychische Konstitution bzw. Prädisposition aber durchaus nicht. Dem Senat erscheint daher auch der Begriff "pseudoneurasthenisches Syndrom", der das gemeinsame Auftreten von bestimmten Symptomen bedeutet, die man einer Nervenschwäche (Neurasthenie) zuordnen könnte, aber nicht möchte (pseudo), weder als Diagnose aussagekräftig noch geeignet, einen Rentenanspruch zu verneinen. Entsprechendes gilt für Attribute wie "psychogen" oder "Somatisierungstendenz". Für all diese Diagnosen fehlt es an der entsprechenden Exploration; im Übrigen deutet bei dem Kläger nichts auf einen so genannten "Krankheitsgewinn". Erst nach völligem Ausscheiden aus dem Berufsleben wegen Erwerbsunfähigkeit stellt sich die Unfallrente als ein "Gewinn" dar; die Symptome waren allerdings auch schon vorhanden, als es für den Kläger zweifelsohne günstiger gewesen wäre, auf die Rente zu verzichten und Betriebsleiter zu bleiben.
Der Senat folgt Dr. M ... nicht hinsichtlich der Minderung der Erwerbsfähigkeit. Dr. M ... errechnet eine Gesamt-MdE von 40 % auf HNO-ärztlichen Fachgebiet, wobei er irrtümlicherweise einen Tinnitus mit einer Einzel-MdE von 10 % und eine Trigeminusirritation mit einer Einzel-MdE von 5 % gewissermaßen auf die ansonsten festgestellte MdE von 30 % heraufschlug. Es kann dahingestellt bleiben, ob diese Störungen überhaupt als Unfallfolge in Betracht kommen, jedenfalls erhöhen sie die MdE nicht. Die weitere Heraufsetzung der MdE (konsequenterweise nicht auf HNO-Fachgebiet) auf 60 % wurde dann allerdings nicht weiter begründet. Die "schwere, die gesamten zentral verarbeitenden Strukturen betreffende Störung" kann sich auch nur auf die Gleichgewichtsfunktionsstörung mit ihren Auswirkungen beziehen, welche - beschränkt auf das HNO-ärztliche Fachgebiet - allgemein "vegetative Begleiterscheinungen" genannt wurden. Der Rombergsche Stehversuch und der Unterbergersche Tretversuch erbrachten nach der Tabelle in Mehrhoff/Muhr (Unfallbegutachtung 10. Auflage 1999, S. 140) lediglich Unsicherheiten, nicht aber Schwierigkeiten, mit geschlossenen Augen zu gehen oder zu stehen, so dass ohne die vegetativen Begleiterscheinungen nur eine MdE von 20 % angebracht wäre, mit den vegetativen Begleiterscheinungen also 30 %.
Der Beginn der Rente ergibt sich aus § 580 Abs. 2 RVO.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG; Gründe für die Zulassung der Revision nach § 160 Abs. 2 SGG sind nicht ersichtlich, da sich auch eine eventuelle grundsätzliche Bedeutung nicht auf vom Gericht zu entscheidende Rechtsfragen stützen könnte, sondern nur auf die Beurteilungen in tatsächlicher Hinsicht.
Rechtskraft
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