S 7 AY 6/19 ER

Land
Hessen
Sozialgericht
SG Fulda (HES)
Sachgebiet
Sozialhilfe
Abteilung
7
1. Instanz
SG Fulda (HES)
Aktenzeichen
S 7 AY 6/19 ER
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 4 AY 14/19 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
1. Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, dem Antragsteller ab 18.11.2019 bis 30.04.2020 vorläufig Leistungen nach § 2 Abs. 1 AsylbLG in der bis zum 20.08.2019 geltenden Fassung in gesetzlicher Höhe zu erbringen.

2. Der Antragsgegner hat dem Antragsteller die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Rechtsstreits zu erstatten.

Gründe:

I.

Die Beteiligten streiten um die Gewährung von Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG).

Der 1972 geborene Antragsteller ist US-amerikanischer Staatsangehöriger und hält sich - mit einer Unterbrechung in dem Zeitraum 30.01.1994 bis 22.12.1994 - seit Mai 1991 in der Bundesrepublik auf. Mit Bescheid vom 17.01.2019 lehnte die Ausländerbehörde des Antragsgegners einen bereits am 28.07.2005 von dem Antragsteller gestellten Antrag auf Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis ab und forderte den Antragsteller unter Fristsetzung bis zum 19.04.2019 sowie unter Androhung der Abschiebung in die Vereinigten Staaten von Amerika zur umgehenden Ausreise aus der Bundesrepublik Deutschland auf. Der Antragsteller wurde daneben aufgefordert, seinen Pass bis zum 31.01.2019 vorzulegen. Der sich anschließende Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes wurde mit Beschluss des Verwaltungsgerichts Kassel vom 05.07.2019 (Aktenzeichen 4 L 1343/19.KS) abgelehnt.

Mit Bescheid des Antragsgegners - Kommunales Kreisjobcenter - vom 16.04.2019 wurden die dem Antragsteller bis dahin gewährten Leistungen nach dem SGB II ab dem 01.04.2019 eingestellt, indem die bisherige Leistungsbewilligung gemäß § 48 Abs. 1 S. 1 SGB X ab dem vorgenannten Datum aufgehoben wurde. Zur Begründung wurde ausgeführt, dass der Antragsteller aufgrund der Ablehnung der Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis vom 17.01.2019 nicht mehr zum leistungsberechtigten Personenkreis nach dem SGB II gehöre. Ebenfalls am 16.04.2019 beantragte der Antragsteller bei dem Antragsgegner die Gewährung von Leistungen nach dem AsylbLG.

Mit interner Mail der Ausländerbehörde des Antragsgegners an die dortige, Leistungen nach dem AsylbLG bewilligende Stelle vom 25.04.2019 wurde mitgeteilt, dass der Antragsteller weder seinen Pass abgegeben habe, noch ausgereist sei. Er sei damit seiner Mitwirkungspflicht nicht nachgekommen. Der Antragsgegner wandte sich daraufhin mit Schreiben vom selben Tag an den Antragsteller und hörte diesen zu einer beabsichtigten Leistungskürzung nach dem AsylbLG an. Der Antragsteller erwiderte hierauf mit E-Mail vom 29.04.2019, dass er seinen Pass seit Monaten suche. Er bewahre seinen Pass immer entweder in einer seiner Jacken oder im Rucksack auf, könne diesen aber nicht finden. Er könne auch keinen neuen Pass beantragen da dies Kosten im Umfang von 200 EUR verursache.

Mit Bescheid des Antragsgegners vom 05.07.2019 wurden dem Antragsteller ab dem 01.02.2019 eingeschränkte Leistungen nach § 1a Abs. 3 AsylbLG in Höhe von 519,12 EUR monatlich bewilligt. Zur Begründung der Leistungseinschränkung führte der Antragsgegner aus, dass der Antragsteller durch die Ausländerbehörde mit Bescheid vom 17.01.2019 aufgefordert worden sei, seinen Nationalpass bis zum 31.01.2019 vorzulegen, allerdings weder dieser Aufforderung noch der Ausreiseaufforderung nachgekommen sei. Er verstoße daher gegen seine Mitwirkungspflicht bezüglich der Beschaffung eines Passersatzpapieres sowie der Ausreisepflicht. Weiterhin wurde darauf hingewiesen, dass es der Antragsteller laut Mitteilung der Ausländerbehörde zu vertreten habe, dass aufenthaltsbeendende Maßnahmen nicht hätten vollzogen werden können, da der Antragsteller bis zum heutigen Tag seinen Nationalpass nicht vorgelegt habe und keine ernsthaften Bemühungen gezeigt habe, sich ein Ausreisedokument zu beschaffen. Demnach gehe der Antragsteller seiner Mitwirkungspflicht bezüglich Passbeschaffung weiterhin nicht nach und erhalte ab dem 01.02.2019 lediglich Geldleistungen zur Deckung des notwendigen Bedarfs gemäß § 1a Abs. 3 AsylbLG. Der Antragsgegner befristete die Dauer der Leistungseinschränkung auf sechs Monate bis zum 31.07.2019 und wies darauf hin, dass die Leistungseinschränkung entsprechend verlängert werde, sofern zu diesem Zeitpunkt die gesetzlichen Voraussetzungen weiterhin vorlägen.

Mit E-Mail vom 15.08.2019 wandte sich der Antragsteller an den Antragsgegner und legte eine ab dem 09.08.2019 angekündigte Stromliefersperre seines Energieversorgers, der D. GmbH, vom 02.08.2019 vor, welche darauf zurückging, dass der Antragsteller die gezahlten Abschläge für Strom für die Zeit seit 01.04.2019 nicht zahlte und dementsprechend eine Gesamtforderung einschließlich Mahngebühren von 307 EUR entstanden war. Der Antragsteller beantragte in diesem Zusammenhang die Gewährung eines Darlehens zur Tilgung der Stromrückstände gemäß § 37 SGB XII, was der Antragsgegner mit Bescheid vom 19.08.2019 ablehnte. Der Antragsteller wandte sich daraufhin mit einem Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes an das Sozialgericht Fulda (Aktenzeichen: S 7 AY 5/19 ER), woraufhin das Gericht den Antragsgegner mit Beschluss vom 27.08.2019 im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtete, dem Antragsteller vorläufig ein Darlehen in Höhe von 307 EUR zur Tilgung der bei der D. GmbH entstandenen Stromrückstände zu gewähren. Die hiergegen eingelegte Beschwerde des Antragsgegners hat das Hessische Landessozialgericht mit Beschluss vom 30.08.2019 als unzulässig verworfen (Aktenzeichen: L 4 AY 11/19 B ER).

Ab August 2019 wurden die dem Antragsteller nach dem AsylbLG zustehenden Leistungen zunächst nicht ausdrücklich weiterbewilligt, sondern unregelmäßig und in Teilzahlungen in bar ausgezahlt. Zur Begründung wies der Antragsgegner den Antragsteller telefonisch oder im Rahmen von Vorsprachen des Antragstellers darauf hin, dass die Auszahlung der Leistungen lediglich in bar erfolgen könne, da der Antragsteller zurzeit kein gültiges Ausweisdokument (Duldung) besitze und zu einem Termin zur Rückkehrberatung sowie zur Verlängerung seiner bis zum 30.09.2019 geltenden Duldung bei der Ausländerbehörde nicht erschienen sei (vgl. Bl. 139, 158, 205, 209, 217 der Verwaltungsakte des Antragsgegners).

Mit Bescheid vom 25.10.2019 wurden dem Antragsteller nach vorheriger Anhörung für den Zeitraum November 2019 bis April 2020 weiterhin Leistungen nach § 1a Abs. 3 AsylbLG in Höhe von 770,64 EUR monatlich bewilligt. Diese Summe setzt sich ausweislich des Berechnungsbogens zu dem vorgenannten Bescheid aus dem Regelbedarf nach § 1a Abs. 3 AsylbLG in Höhe von 183,00 EUR, einem zusätzlichen Bedarf für Strom in Höhe von 37,60 EUR, Kranken und Pflegeversicherungsbeiträge in Höhe von 206,04 EUR, der Kaltmiete in Höhe von 260,00 EUR, Heizkosten in Höhe von 34,00 EUR und weiteren Nebenkosten in Höhe von 50,00 EUR zusammen. Im Hinblick auf die verfügte Leistungseinschränkung führte der Antragsgegner zur Begründung aus, dass der Antragsteller aufgrund des versäumten Termins bei der Rückkehrberatung der Ausländerbehörde des Antragsgegners am 17.04.2019 erneut für den 20.08.2019 vorgeladen worden sei und auch zu diesem Termin nicht erschienen sei. Auch sei der Antragsteller am 23.08.2019 zu einem Termin zwecks Duldungserteilung bei der Ausländerbehörde nicht erschienen. Daneben habe der Antragsteller wiederholt die Möglichkeit der Finanzierung von Passersatzpapieren nicht wahrgenommen, obwohl er von dieser Möglichkeit spätestens in einem Telefonat mit der Ausländerbehörde am 14.08.2019 Kenntnis gehabt habe. Zwar sei der Antragsteller dann am 30.08.2019 zwecks Duldungserteilung bei der Ausländerbehörde erschienen, allerdings einem weiteren Termin am 15.10.2019 zwecks Duldungsverlängerung über den 30.09.2019 hinaus unentschuldigt ferngeblieben. Der Antragsteller besitze daher derzeit selbstverschuldet kein gültiges Ausweisdokument; Bemühungen zur Passabgabe bzw. -Beschaffung und somit die Erfüllung seiner Mitwirkungspflicht habe der Antragsteller auch weiterhin nicht gezeigt. Demnach lägen die Voraussetzungen des § 1a Abs. 3 AsylbLG weiterhin vor. Gemäß § 14 Abs. 1 AsylbLG werde die Dauer der Leistungseinschränkung auf sechs Monate, somit bis zum 30.04.2020 befristet. Sollten zu diesem Zeitpunkt die gesetzlichen Voraussetzungen weiterhin vorliegen, werde die Leistungseinschränkung entsprechend verlängert. Daneben führte der Antragsgegner aus, dass die dem Antragsteller zustehende Regelleistung als Barauszahlung erfolge, da der Antragsteller wiederholt Termine in der Ausländerbehörde versäumt habe, so dass er aktuell kein gültiges Ausweisdokument (Duldung) besitze. Da die Leistungsgewährung monatlich im Voraus erfolge, sei eine Abholung der Anordnung zur Auszahlung der Leistung am letzten Werktag des Monats möglich. Dieser Termin sei mit den jeweiligen Terminen zur Duldungsausstellung bei dem Fachdienst Ausländerwesen des Antragsgegners verbunden, da die Auszahlung nur in Verbindung mit einem gültigen Ausweisdokument erfolgen könne. Die Kosten der Unterkunft und der Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträge würden per Überweisung direkt an die betreffenden Zahlungsempfänger ausgezahlt. Zudem erfolgte die Zahlung der Stromabschläge ab dem 01.10.2019 unmittelbar an den Energieversorger, um Stromrückstände zu verhindern. Da die Kosten für Strom bereits in dem Regelbedarf berücksichtigt seien, werde der Stromabschlag von der Leistung des Antragstellers in Abzug gebracht.

Ebenfalls am 25.10.2019 wandte sich der Antragsteller telefonisch an den Antragsgegner und erkundigte sich nach den Leistungen für den Monat Oktober 2019. Darüber hinaus machte der Antragsteller in diesem Telefonat sowie in einem weiteren Telefonat am 28.10.2019 deutlich, dass er auf Überweisung der Leistungen bestehe (vergleiche Bl. 241, 242). Am 29.10.2019 wurde dem Antragsteller eine bis zum 28.01.2020 gültige weitere Duldung erteilt (Bl. 244 ff.). Der Antragsgegner teilte dem Antragsteller daraufhin in einem Telefonat am 29.10.2019 mit, dass der Antragsteller verpflichtet sei, die gültige Duldung dort vorzulegen und erst nach Vorlage die Leistung für Oktober 2019 in bar und für die Zukunft für den Zeitraum der Gültigkeit der Duldung der Überweisung gezahlt werden könne (Bl. 248). Am 30.10.2019 entschied der Antragsgegner, die Leistungen für Oktober und November 2019 nun doch per Überweisung an den Antragsteller auszuzahlen (Bl. 249).

Am 25.11.2019 erhob der Antragsteller Widerspruch gegen den Bescheid vom 25.10.2019. Das Widerspruchsverfahren ist noch nicht abgeschlossen.

Bereits am 18.11.2019 wandte sich der Antragsteller mit dem vorliegenden Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes an das Sozialgericht. Zur Antragsbegründung trägt der Antragsteller vor, dass nach mehreren Vorsprachen keine Einigung mit dem Antragsgegner habe erzielt werden können. Es bestehe Eilbedürftigkeit, da ansonsten eine Unterversorgung mit Nahrungsmitteln zu einer weiteren Gewichtsabnahme (aktuell bereits -7 kg) drohe. Weiterhin trägt der Antragsteller vor, dass die Leistungen für Dezember 2019 wieder nicht überwiesen worden seien.

Der Antragsteller beantragt (wörtlich),

den Bescheid vom 25.10.2019 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ungekürzte Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz zu gewähren.

Der Antragsgegner beantragt,

den Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes abzulehnen.

Zur Begründung vertieft der Antragsgegner seine Ausführungen aus dem Bescheid vom 25.10.2019. Der Antragsgegner ist der Auffassung, dass die Voraussetzungen für eine Gewährung von Leistungen nach § 1a Abs. 3 AsylbLG weiterhin vorliegen. Die regelmäßige Überprüfung nach § 14 AsylbLG habe ergeben, dass der Antragsteller trotz Kenntnis der Sachlage nicht mitwirke und bislang weder seine Passpapiere vorgelegt, noch das Angebot zur Unterstützung bei der Beschaffung neuer Passersatzpapiere angenommen habe. Dies sei ausdrücklich durch die Ausländerbehörde des Antragsgegners sowie das Regierungspräsidium in Kassel bestätigt worden. Aufenthaltsbeendende Maßnahmen könnten daher nicht durchgeführt werden. Der Antragsteller halte sich zurzeit illegal in der Bundesrepublik auf. Er habe jederzeit die Möglichkeit zur Mitwirkung, die er bislang konsequent verweigere. Es sei nicht ersichtlich, dass er an einer Mitwirkung gehindert wäre. Die Vorlage der Passpapiere oder Beschaffung von Ersatzpapieren sei ihm jederzeit möglich, worüber er zudem hinreichend informiert worden sei. Es stehe die Vermutung im Raum, dass der Antragsteller durch die fehlende Mitwirkung verhindern wolle, dass er die Bundesrepublik Deutschland verlassen müsse. Dass diese aufenthaltsrechtliche Maßnahme anstehe, rechtfertige jedoch nicht, die erforderliche Mitwirkung zu verweigern. Vorliegend sei dem Antragsteller die volle Verantwortung für die fehlende Mitwirkung zuzuordnen. Daneben entspreche auch der Vortrag des Antragstellers zur Begründung des Antrages auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes nicht den tatsächlichen Geschehnissen. Schließlich ist der Antragsgegner der Auffassung, dass hier keine Eilbedürftigkeit bestehe. Leistungen gemäß § 1a Abs. 3 AsylbLG inklusive der Unterkunftskosten würden aktuell gewährt; damit sei die Deckung der Grundbedürfnisse des Antragstellers sichergestellt. § 1a Abs. 3 S. 1 AsylbLG siehe vor, dass die Leistungen bei vorwerfbarem Verhalten zur Verhinderung aufenthaltsbeendender Maßnahmen auf das physische Existenzminimum abgesenkt würden. Diese Entscheidung des Gesetzgebers sei als verfassungsgemäß zu bewerten, so dass keine Unterversorgung des Antragstellers drohe.

Für das weitere Vorbringen der Beteiligten wird auf die Gerichtsakte sowie auf die beigezogene Verwaltungsakte des Antragsgegners verwiesen.

II.

Das Gericht wertet den vorliegenden Antrag dahingehend, dass der Antragsteller die ihm nach dem AsylbLG zustehenden Leistungen in voller Höhe und nicht etwa lediglich ungekürzte Grundleistungen nach § 3 AsylbLG begehrt. Der so verstandene Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes ist zulässig und begründet. Der Antragsteller hat aktuell einen Anspruch auf Gewährung von Leistungen nach § 2 Abs. 1 AsylbLG (in der bis zum 20.08.2019 geltenden Fassung) in Verbindung mit § 15 AsylbLG.

Nach § 86 b Abs. 2 S. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) kann das Gericht auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte (Sicherungsanordnung). Einstweilige Anordnungen sind nach Satz 2 dieser Bestimmung auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint (Regelungsanordnung). Bildet ein Leistungsbegehren des Antragstellers den Hintergrund für den begehrten einstweiligen Rechtsschutz, ist dieser grundsätzlich im Wege der Regelungsanordnung gemäß § 86 b Abs. 2 Satz 2 SGG zu gewähren. Danach muss die einstweilige Anordnung erforderlich sein, um einen wesentlichen Nachteil für den Antragsteller abzuwenden. Ein solcher Nachteil ist nur anzunehmen, wenn einerseits dem Antragsteller gegenüber dem Antragsgegner ein materiell-rechtlicher Leistungsanspruch in der Hauptsache zusteht (Anordnungsanspruch) und es ihm andererseits nicht zuzumuten ist, die Entscheidung über den Anspruch in der Hauptsache abzuwarten (Anordnungsgrund). Das Abwarten einer Entscheidung in der Hauptsache darf nicht mit wesentlichen Nachteilen verbunden sein. Es muss daher eine dringliche Notlage vorliegen, die eine sofortige Entscheidung erfordert (HessLSG, Beschluss vom 18.06.2008, Aktenzeichen: L 6 AS 41/08 B ER m.w.N.). Eine solche Notlage ist vor allem bei einer Gefährdung der Existenz oder erheblichen wirtschaftlichen Nachteilen zu bejahen (Keller in: Meyer-Ladewig, SGG, § 86 b, Rn. 28). Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund stehen dabei in einer Wechselbeziehung zueinander, nach der die Anforderungen an den Anordnungsanspruch mit zunehmender Eilbedürftigkeit bzw. Schwere des drohenden Nachteils zu verringern sind und umgekehrt. Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund bilden aufgrund ihres funktionalen Zusammenhangs ein bewegliches System (HessLSG, a. a. O.; Keller a. a. O., Rn. 27 u. 29 m.w.N.). Wäre eine Klage in der Hauptsache offensichtlich unzulässig oder unbegründet, so ist der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ohne Rücksicht auf den Anordnungsgrund grundsätzlich abzulehnen, weil ein schützenswertes Recht nicht vorhanden ist. Wäre eine Klage in der Hauptsache dagegen offensichtlich begründet, so vermindern sich die Anforderungen an den Anordnungsgrund, auch wenn in diesem Fall nicht gänzlich auf einen Anordnungsgrund verzichtet werden kann (HessLSG, a. a. O.). Bei offenem Ausgang des Hauptsacheverfahrens, wenn etwa eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich ist, ist im Wege einer Folgenabwägung zu entscheiden. Soweit existenzsichernde Leistungen im Streit stehen und schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Beeinträchtigungen entstehen können, die durch das Hauptsacheverfahren nicht beseitigt werden können, darf die Sach- und Rechtslage nicht nur summarisch, sondern muss abschließend geprüft werden. Ist dem Gericht in derartigen Fällen eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich, so ist ebenfalls anhand einer Folgenabwägung zu entscheiden, wobei allerdings die grundrechtlichen Belange des Antragstellers umfassend in die Abwägung einzustellen sind (BVerfG, Beschluss vom 12.05.2005, NVwZ 2005, 927-929).

Gemessen an diesen Anforderungen hat der Antragsteller sowohl das Bestehen eines Anordnungsanspruchs als auch das Bestehen eines Anordnungsgrundes glaubhaft gemacht. Der Antragsteller hat einen Anspruch auf Gewährung von Leistungen nach § 2 Abs. 1 AsylbLG (in der bis zum 20.08.2019 geltenden Fassung) in Verbindung mit § 15 AsylbLG.

Nach der Übergangsregelung des § 15 AsylbLG ist für Leistungsberechtigte des Asylbewerberleistungsgesetzes, auf die bis zum 21. August 2019 gemäß § 2 Absatz 1 des Asylbewerberleistungsgesetzes das Zwölfte Buch Sozialgesetzbuch entsprechend anzuwenden war, § 2 des Asylbewerberleistungsgesetzes in der Fassung der Bekanntmachung vom 5. August 1997 (BGBl. I S. 2022), das zuletzt durch Artikel 4 des Gesetzes vom 17. Juli 2017 (BGBl. I S. 2541; 2019 I S. 162) geändert worden ist, weiter anzuwenden. Diese Voraussetzungen liegen hier vor. Es wird insoweit auf die Entscheidungsgründe in dem Beschluss des Gerichts vom 27.08.2019 zu dem Aktenzeichen S 7 AY 5/19 ER verwiesen.

Nach § 2 Abs. 1 AsylbLG (in der bis zum 20.08.2019 geltenden Fassung) ist abweichend von den §§ 3 und 4 sowie 6 bis 7 das Zwölfte Buch Sozialgesetzbuch auf diejenigen Leistungsberechtigten entsprechend anzuwenden, die sich seit 15 Monaten ohne wesentliche Unterbrechung im Bundesgebiet aufhalten und die Dauer des Aufenthalts nicht rechtsmissbräuchlich selbst beeinflusst haben. Die Voraussetzungen des § 2 Abs. 1 AsylbLG sind vorliegend erfüllt. Der Antragsteller besitzt eine Duldung nach § 60a des Aufenthaltsgesetzes und ist dementsprechend leistungsberechtigt im Sinne des § 1 Abs. 1 Nr. 4 AsylbLG. Auch hält sich der Antragsteller seit mindestens 15 Monaten ohne wesentliche Unterbrechung im Bundesgebiet auf. Dabei ist es, worauf bereits der Wortlaut der Norm hindeutet, für die Anwendbarkeit des § 2 Abs. 1 AsylbLG unerheblich, dass der Antragsteller vor dem 01.02.2019 keine Leistungen nach dem AsylbLG (insbesondere nach § 3 AsylbLG) bezog. Denn von dem Anwendungsbereich des § 2 Abs. 1 AsylbLG sind auch solche Ausländer erfasst, die ihren gesicherten Aufenthaltsstatus nach einem zuvor rechtmäßigen Aufenthaltsstatus verlieren und dadurch erstmals ausreisepflichtig werden (Oppermann in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XII, 2. Aufl. 2014, § 2 AsylbLG 1. Überarbeitung, Rn. 34).

Daneben ist für das Gericht auch nicht erkennbar, dass der Antragsteller die Dauer seines Aufenthalts im Bundesgebiet rechtsmissbräuchlich selbst beeinflusst hat. Dem - die Beeinflussung der Aufenthaltsdauer dienenden - Rechtsmissbrauch liegt der Gedanke zu Grunde, dass sich niemand auf eine Rechtsposition berufen darf, die er selbst treuwidrig herbeigeführt hat. Demgegenüber genügt - anders als bei § 1a AsylbLG - nicht, dass die Dauer des Aufenthalts auf Gründen beruht, die in der Verantwortungssphäre des Hilfesuchenden liegen. In objektiver Hinsicht setzt der Rechtsmissbrauch vielmehr ein unredliches, von der Rechtsordnung missbilligtes Verhalten voraus. Der Ausländer soll danach von Analog-Leistungen ausgeschlossen sein, wenn die von § 2 AsylbLG vorgesehene Vergünstigung andernfalls auf gesetzwidrige oder sittenwidrige Weise erworben wäre. Der Ausländer darf sich also nicht auf einen Umstand berufen, den er selbst treuwidrig herbeigeführt hat. Dabei genügt angesichts des Sanktionscharakters des § 2 AsylbLG nicht schon jedes irgendwie zu missbilligende Verhalten. Art, Ausmaß und Folgen der Pflichtverletzung wiegen für den Ausländer so schwer, dass auch der Pflichtverletzung im Rahmen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes ein erhebliches Gewicht zukommen muss. Daher führt nur ein Verhalten, das unter jeweiliger Berücksichtigung des Einzelfalls, der besonderen Situation eines Ausländers in der Bundesrepublik Deutschland und der besonderen Eigenheiten des AsylbLG unentschuldbar ist (Sozialwidrigkeit), zum Ausschluss von Analog-Leistungen (vgl. zum Ganzen: BSG, Urteil vom 17. Juni 2008 – B 8/9b AY 1/07 R –, BSGE 101, 49-70, SozR 4-3520 § 2 Nr 2, juris, Rn. 32 ff.). Soweit es das Tatbestandsmerkmal "Beeinflussung der Dauer des Aufenthalts" betrifft, ist auf den gesamten Zeitraum des Aufenthalts des Leistungsberechtigten in Deutschland abzustellen. Insoweit reicht eine typisierende, also generell-abstrakte Betrachtungsweise hinsichtlich des Zusammenhangs zwischen dem vorwerfbaren Verhalten und der Beeinflussung der Dauer des Aufenthaltes aus, es ist also kein Kausalzusammenhang im eigentlichen Sinn erforderlich (BSG, Urteil vom 17. Juni 2008 – B 8/9b AY 1/07 R –, BSGE 101, 49-70, SozR 4-3520 § 2 Nr 2, juris, Rn. 40, 43).

Ein sozialwidriges Verhalten des Antragstellers im vorgenannten Sinne vermag das Gericht nicht zu erkennen. Dem Antragsteller wird von dem Antragsgegner zum Vorwurf gemacht, dass er trotz entsprechender Aufforderung der Ausländerbehörde bislang weder seinen Pass vorgelegt habe, noch der Ausreiseaufforderung nachgekommen sei und auch kein Passersatzpapier beschafft habe. Dass dieses behauptete Fehlverhalten ganz offensichtlich nicht genügen kann, ein sozialwidriges Verhalten im vorgenannten Sinne zu begründen, liegt auf der Hand, da in der gesamten Verwaltungsakte kein Anhaltspunkt dafür ersichtlich ist, dass der Vortrag des Antragstellers, wonach er seinen Pass nicht mehr auffinden könne, nicht der Wahrheit entspricht. Der Antragsgegner unterstellt lediglich, dass der diesbezügliche Vortrag des Antragstellers unzutreffend ist, ohne dass für diese Vermutung zumindest ein Indiz, geschweige denn ein Beleg ersichtlich wäre. Weiterhin teilte der Antragsteller bereits am 28.04.2019 unwidersprochen mit, dass die Beschaffung eines Passersatzes mit Kosten von ca. 200 EUR verbunden sei. Es erscheint offensichtlich, dass der Antragsteller, dem in der Zeit von Anfang April 2019 bis Anfang Juli 2019 keinerlei Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts und in der Folgezeit weiterhin (unregelmäßig) gekürzte Leistungen nach § 1a Abs. 3 AsylbLG gewährt wurden, finanziell nicht in der Lage ist, diese Kosten für die Beschaffung eines Passersatzes aufzubringen. Soweit der Vortrag des Antragsgegners dahin zu verstehen ist, dass das dem Antragsteller vorgeworfene sozialwidrige Verhalten darin zu sehen sein soll, dass er seine Aufenthaltsdauer rechtsmissbräuchlich beeinflusst, indem er zu den wenigen Vorsprachen zur Rückkehrberatung bei der Ausländerbehörde bislang nicht erschienen ist, vermögen auch diese wenigen Pflichtverletzungen angesichts des jahrzehntelangen Aufenthalts des Antragstellers in der Bundesrepublik Deutschland die Versagung von Analog-Leistungen nicht zu rechtfertigen. Dies gilt erst recht in Anbetracht des Umstandes, dass das Regierungspräsidium Kassel ohnehin die Passersatzpapierbeschaffung betreibt (vergleiche dortige E-Mail vom 17.09.2019, Bl. 198 der Verwaltungsakte). Zum anderen wurden dem Antragsteller in der Vergangenheit noch nicht einmal die gekürzten Leistungen nach § 1a AsylbLG in voller Höhe zeitnah angewiesen, sondern die Auszahlung ohne erkennbare Rechtsgrundlage davon abhängig gemacht, dass der Antragsteller zunächst zwecks Vorsprache bei der Ausländerbehörde bzw. Erteilung einer Duldung oder gar Vorlage einer Duldung, welche bereits in den Akten enthalten war, bei dem Antragsgegner persönlich erscheint. Bei einem derartigen Vorgehen des Antragsgegners verwundert es nicht, dass sich der Antragsteller nicht kooperativ zeigt. Weitere Anhaltspunkte, welche den Schluss auf ein rechtsmissbräuchliches Verhalten des Antragstellers im vorgenannten Sinne zuließen, sind nicht erkennbar.

Ungeachtet des Umstandes, dass die Anwendbarkeit des § 2 Abs. 1 AsylbLG ohnehin der Anwendbarkeit des § 1a AsylbLG entgegenstehen dürfte (vgl. SG Landshut, Beschluss vom 28. Februar 2018 – S 11 AY 66/18 ER –, juris, Rn. 107; Oppermann in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XII, 2. Aufl. 2014, § 1a AsylbLG 2. Überarbeitung, Rn. 21), vermag das Gericht angesichts des konkreten Sachverhalts auch nicht zu erkennen, inwieweit hier die Voraussetzungen für eine Leistungseinschränkung nach § 1a Abs. 3 i.V.m. Abs. 1 AsylbLG vorliegen sollten. Nach § 1a Abs. 3 S. 1 AsylbLG erhalten Leistungsberechtigte nach § 1 Absatz 1 Nummer 4 und 5, bei denen aus von ihnen selbst zu vertretenden Gründen aufenthaltsbeendende Maßnahmen nicht vollzogen werden können, ab dem auf die Vollziehbarkeit einer Abschiebungsandrohung oder Vollziehbarkeit einer Abschiebungsanordnung folgenden Tag nur Leistungen entsprechend Absatz 1. Auch wenn § 1a Abs. 3 AsylbLG, im Gegensatz zu § 2 Abs. 1 AsylbLG im subjektiven Bereich kein persönliches Verschulden, sondern lediglich ein Vertretenmüssen des Ausländers voraussetzt (Oppermann in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XII, 2. Aufl. 2014, § 1a AsylbLG 2. Überarbeitung, Rn. 9), ist der Umstand, dass vorliegend keine aufenthaltsbeendenden Maßnahmen vollzogen werden konnten und können, aus den oben genannten Gründen nicht dem Antragsteller zuzurechnen.

Da mithin aus den vorgenannten Gründen die Tatbestandsvoraussetzungen des § 2 Abs. 1 AsylbLG erfüllt sind, ist vorliegend das SGB XII entsprechend anzuwenden, soweit die Normen des SGB XII den Besonderheiten des Asylbewerberleistungsgesetzes hinreichend Rechnung tragen und nicht anderweitige Regelungen im AsylbLG vorrangige Anwendung finden (Oppermann in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XII, 2. Aufl. 2014, § 2 AsylbLG 1. Überarbeitung, Rn. 118). Entsprechende anderweitigen Regelungen im AsylbLG, die hier vorrangig anzuwenden wären, sind nicht ersichtlich, so dass dem Antragsteller in entsprechender Anwendung des SGB XII Leistungen in Höhe der Leistungen der Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem Dritten Kapitel des SGB XII im Umfang der Regelleistungen, der angemessenen Kosten der Unterkunft und Heizkosten sowie der Bedarfe für die Kranken- und Pflegeversicherung zu gewähren sind.

Der Anordnungsgrund für den Erlass der begehrten einstweiligen Anordnung wurde daneben auch hinreichend glaubhaft gemacht und liegt aufgrund der monatelangen Bedarfsunterdeckung auf der Hand.

Das Gericht erachtet es vorliegend für angemessen, den Antragsgegner zu verpflichten, dem Antragsteller zunächst bis zum 30.04.2020 Leistungen nach § 2 Abs. 1 AsylbLG (in der bis zum 20.08.2019 geltenden Fassung) zu erbringen, da davon auszugehen ist, dass ein eventuelles Beschwerdeverfahren bis dahin abgeschlossen sein wird.

Die Verpflichtung des Antragsgegners im Wege der einstweiligen Anordnung hat in der Regel erst ab Eingang des Eilantrages bei Gericht, hier also ab 18.11.2019, zu erfolgen (Keller in: Meyer-Ladewig, SGG, § 86b, Rn. 35a m.w.N.); ein besonderer Nachholbedarf, welcher eine Verpflichtung zu Leistungen für die Zeit vor Antragseingang bei Gericht rechtfertigen würde, ist nicht ersichtlich.

Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung von § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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