S 4 U 6/06

Land
Hessen
Sozialgericht
SG Fulda (HES)
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
4
1. Instanz
SG Fulda (HES)
Aktenzeichen
S 4 U 6/06
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 3 U 56/16
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 2 U 148/20 B
Datum
Kategorie
Urteil
1. Der Bescheid der Beklagten vom 4. Mai 2004 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 5. August 2004 wird aufgehoben.

2. Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger eine Rente nach einer MdE von 20 % zu zahlen. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

3. Die Beklagte hat dem Kläger seine notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

Tatbestand:

Der Kläger begehrt die Anerkennung einer Polyneuropathie als Berufskrankheit nach Nr. 1317 der Anlage 1 zur Berufskrankheitenverordnung.

Mit Antrag vom 22. Oktober 2003 machte der Kläger, der seit 1965 nach Übernahme des elterlichen Betriebes als Selbstständiger Bodenverlegearbeiten durchführte und bei der Beklagten als Unternehmer versichert war, gegenüber der Beklagten Beschwerden in den unteren Gliedmaßen als Berufskrankheit geltend und beantragte die Zahlung einer Verletztenrente. Zuvor war ausweislich eines entsprechenden Befundberichts der Deutschen Klinik für Diagnostik vom 24. September 2003 bei dem Kläger eine leichte distal symmetrische sensible Polyneuropathie festgestellt worden. Die Genese der Polyneuropathie sei unklar.

In der Stellungnahme der Abteilung Arbeitssicherheit der Beklagten vom 1. März 2004 wurde festgestellt, dass der Kläger jedenfalls bis zum Jahr 1990 berufsbedingt gegenüber Lösungsmitteln exponiert gewesen sei. Jedoch seien ab Ende der 1980er Jahre zunehmend Dispersionsklebstoffe für die Verlegung von Bodenbelägen verwendet worden. Daher sei aus technischer Sicht festzustellen, dass eine Überschreitung des neurotoxischen Schwellenwerts der für die geltend gemachte Berufskrankheit relevanten Stoffe "zumindest bis 1990" bestanden habe.

Daraufhin lehnte die Beklagte die Anerkennung der Berufskrankheit nach Nr. 1317 der Anlage zur Berufskrankheitenverordnung mit Bescheid vom 4. Mai 2004 ab. Zur Begründung führte sie aus, beruflich bedingte Polyneuropathien entwickelten sich nur im engen zeitlichen Zusammenhang mit der Lösemittelexposition und heilten in leichten Fällen innerhalb weniger Monate sowie in schweren Fällen spätestens nach drei Jahren vollständig aus oder gingen weitestgehend zurück. Eine Überschreitung des neurotoxischen Schwellenwertes bezüglich des Klägers habe nur bis 1990 bestanden. Die neurologischen Symptome bei dem Kläger hätten sich jedoch erst seit 1998 entwickelt. Ein Zusammenhang zwischen der beruflichen Tätigkeit und der neurologischen Erkrankung besteht daher nicht.

Den hiergegen erhobenen Widerspruch wies die Beklagte mit Bescheid vom 5. August 2004 zurück. Sie wiederholte im Wesentlichen die Begründung aus dem angegriffenen Bescheid und führt ergänzend aus, dass die Bestätigung der Diagnose einer Polyneuropathie, die als Verdachtsdiagnose erstmals im Juli 1998 dokumentiert sei, erst im September 2003 erfolgt sei.

Auf einen erneuten Antrag des Klägers auf Anerkennung einer Berufskrankheit lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 8. Juni 2005 die Rücknahme der ablehnenden Entscheidung vom 4. Mai 2004 gemäß § 44 SGB X ab. Zur Begründung wiederholte sie ihre Ausführungen aus dem zur Überprüfung gestellten Bescheid und ergänzte, dass neue Erkenntnisse nicht vorlägen, die zu einer anderen Würdigung des Sachverhalts führen könnten.

Auch den hiergegen erhobenen Widerspruch wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 8. Dezember 2005 zurück. In der Begründung ging die Beklagte zwar davon aus, das lösungsmittelbedingte Polyneuropathien sich zwar vereinzelt zwei bis drei Monate nach Aufgabe der gefährdenden Tätigkeit entwickeln könnten und auch nicht selten klinisch konstant blieben oder sich gar verschlechterten. Ein erstmaliges Auftreten einer Erkrankung nach jahrelanger Expositionskarenz schließe jedoch eine Verursachung durch Lösungsmittel aus. Entsprechend könne bei dem Kläger ein Zusammenhang zwischen der versicherten Tätigkeit und der Erkrankung nicht festgestellt werden.

Mit seiner durch Schreiben vom 9. Januar 2006, das am selben Tag bei dem Sozialgericht Fulda eingegangen ist, erhobenen Klage verfolgt der Kläger sein Begehren auf Anerkennung einer Berufskrankheit weiter. Zur Begründung macht er geltend, dass er seit dem Jahr 1962 ständig und bis zur Klageerhebung unverändert in Kontakt mit verschiedensten lösungsmittelhaltigen Stoffen gekommen sei. Der Gegenstand seiner Unternehmung habe auch den Einbau von Bodenbelägen anderer Materialien als Holz umfasst (etwa PVC und Teppichboden). Ein nicht unwesentlicher Teil seiner Tätigkeit habe sich auf das Instandhalten bzw. das Instandsetzen von Estrichmaschinen und Estrichpumpen bezogen, was zu entsprechenden Hautkontakten mit Schmiermittel, Fetten sowie dem Einatmen von Lösungsmitteln geführt habe. Soweit die Beklagte davon ausgehe, dass der Kontakt zu lösungsmittelhaltigen Substanzen nur bis zum Jahr 1990 bestanden habe, gehe dies auf ein Missverständnis zurück. Tatsächlich habe er zu diesem Zeitpunkt seinen Betrieb personell verkleinert, was zu einer Zunahme des Lösungsmittelkontaktes geführt habe. Umgekehrt gehe das Jahr 1998 als chronologischer Anknüpfungszeitpunkt auf eine reine zeitliche Zufälligkeit zurück, nämlich ein konkretes Gespräch mit seinem Hausarzt. Dieser habe vor dem Hintergrund der schon länger bestehenden Beschwerden lediglich 1998 erstmals den Hinweis auf einer Polyneuropathie gegeben.

Der Kläger beantragt zuletzt sinngemäß,
den Bescheid der Beklagten vom 8. Juni 2005 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 8. Dezember 2005 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, die Gesundheitsstörung Polyneuropathie des Klägers als Berufskrankheit nach Nr. 1317 der Anlage 1 zur Berufskrankheitenverordnung als Berufskrankheit anzuerkennen und einer Verletztenrente nach einer MdE von mindestens 50% ab dem 1. Januar 1999 zu zahlen.

Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.

Zur Begründung bezieht sie sich zunächst im Wesentlichen auf den Inhalt der angegriffenen Bescheide.

Das Gericht hat auf Antrag des Klägers nach § 109 SGG Beweis erhoben durch Einholung eines arbeitsmedizinischen Sachverständigengutachtens des Dr. C., C-Stadt, das dieser unter dem 18. November 2007 erstattet hat. Darin kommt der Sachverständige zu dem Ergebnis, dass bei dem Kläger eine leichte bis mittelschwere sensomotorische, vorwiegend axonal demyelisierende Polyneuropathie der Beine vorliege. Insgesamt spreche dabei mehr für als gegen eine berufliche Verursachung dieser Erkrankung. Zum Einen liegen nämlich eine langjährige Exposition gegenüber Lösemitteln und Lösemittelgemischen als eindeutig gesichert vor. Insofern seien bis 1990 Überschreitungen der entsprechenden Grenzwerte bestätigt. Außerdem sei aufgrund der Angaben des Klägers bis Mitte/Ende der 1990er Jahre von einer relevanten Exposition gegenüber potentiellen neurotoxischen organischen Lösemitteln im Rahmen des Umgangs mit Klebstoffen und Voranstrichen auszugehen. Dabei sei bekannt, dass sich die Wirkung von organischen Lösemitteln potenzieren könne, selbst wenn für die einzelnen Substanzen die jeweiligen Grenzwerte eingehalten würden. Die Begrenzung solcher Einwirkungen bis zum Jahr 1990, wie sie der Technische Aufsichtsdienst der Beklagten vorgenommen habe, sei aufgrund der glaubhaften Schilderungen des Klägers nicht nachvollziehbar. Zudem spreche die Tatsache, dass die Polyneuropathie auch nach der Reduktion der Lösemittelbelastung weiterbestehe und subjektiv sogar eine geringe Besserung eingetreten sei, für eine berufliche Verursachung. Hinzu komme, dass durch umfangreiche Untersuchungen der Universitätsklinik Würzburg und auch bei der Untersuchung durch den Gutachter selbst außerberufliche Faktoren weitestgehend ausgeschlossen werden konnten. Daher empfehle er die Anerkennung der geltend gemachte Berufskrankheit.

Hiergegen bekräftigte die Präventionsabteilung der Beklagten unter dem 5. Dezember 2007 ihre Einschätzung, dass der Kläger nach 1990 keinen neurotoxischen Stoffen mehr ausgesetzt gewesen sei. Hierzu beruft sie sich auf den BK-Report 2/2007 zur BK 1317, S. 42, wonach toluolhaltige Bodenbelagsklebstoffe Anfang der 1990er Jahre weitgehend vom Markt verschwunden sein. Zu einer genauen Prüfung der weiteren Exposition des Klägers sei daher die genaue Angabe der von Ihnen verwendeten Produkte erforderlich.

Nachdem der Kläger hierzu weiter vorgetragen hatte, führte die Präventionsabteilung der Beklagten unter dem 15. Oktober 2009 ergänzend aus, dass sich aus den vorgelegten Unterlagen keine neue Erkenntnisse ergäben, die die Verwendung von neurotoxischen Lösungsmitteln nach 1990 bestätigen würden. Daher verbleibe es bei den bereits abgegebenen Stellungnahmen.

Daraufhin holte die Kammer ein Gutachten des Sachverständigen Dr. D., Sachverständigenbüro für Chemische Analytik und Toxikologie, D-Stadt, ein, dass dieser unter dem 10. März 2010 erstattet hat. Dieser führt aus, dass es infolge von Klassifizierungsmaßnahmen betreffend die Verwendung von Lösemitteln in Produkten (auch) der Berufsgruppe der Bodenverleger, insbesondere GISCODE, und durch die Einführung der wasserlöslichen Dispersionsklebstoffe zu einer deutlichen Reduzierung der lösungsmittelhaltigen Produktpalette an kommerziell angebotenen Verlegerwerkstoffen und der damit verbundenen Lösungsmittelemissionen gekommen sei. Ungeachtet dessen würden bis zur Gegenwart noch eine Vielzahl von Verlegewerkstoffen und bauchemischen Spezialprodukten angeboten, die noch erhebliche Mengen an Lösungsmittel enthielten und die eine neurotoxische Relevanz im Sinne der BK 1317 aufwiesen. Daher könne entgegen der Einschätzung der Beklagten kein genereller Ausschluss der Verwendung organischer Lösungsmittel oder deren Gemische nach 1990 angenommen werden. So seien etwa im Jahr 2003 noch mindestens zwei Drittel der verlegten Parkettflächen mit Kunstharzklebstoffen geklebt worden. 2008 sei dieser Anteil auf etwa ein Drittel zurückgegangen, was aber immer noch einem Verbrauch von 5000 bis 6000 t in Deutschland entsprochen habe. Dies entspreche mehr als 1000 t reinen Lösungsmitteln.

Zwar könne der Einschätzung des Präventionsdienstes der Beklagten vom 15. Oktober 2009 in Grundzügen zugestimmt werden, jedoch gehe diese nicht ausreichend auf die Komplexität der Tätigkeiten des Klägers ein. Daher seien andere Schlussfolgerungen erforderlich, die für eine Exposition des Klägers gegenüber neurotoxischen Stoffen sprächen.

Insgesamt sei belegt, dass auch nach 1990 bis zur Gegenwart noch Lösemittel mit neurotoxischer Wirkung in branchenüblichen Materialien enthalten waren und vom deutschen Handel für das Boden- und Parkettverlegerhandwerk angeboten wurden. Auf der Grundlage der Berufsanamnese des Klägers bis zum Jahr 2005 sei daher davon auszugehen, dass im Zuge der Ausübung einer beruflichen Tätigkeit auch im Zeitraum nach 1990

a) eine Exposition mit neurotoxischen und anderen Lösungsmitteln aus Verlegewerkstoffen, Baustoffen und andere Arbeitsmaterialien weiterhin gegeben gewesen sei;

b) eine differenzierte Gefährdungsbeurteilung sich aus den genannten Arbeitsanteilen von Estricharbeiten einerseits und Boden- und Parkettverlegung andererseits ableitet, wobei aus gutachterlichers Sicht der höhere Expositionsgrad sich aus Boden- und Parkettlegearbeiten und weniger aus Estrich- bzw. Betonarbeiten ergebe;

c) die Belastungsdosis mit hoher Wahrscheinlichkeit aber 1990 geringer ausfalle durch das statistisch höhere Angebot an lösungsmittelärmeren und -freien Verlegewerkstoffen und durch die verminderte Arbeitszeit als Fußboden- und Parkettkläger nach 2005.

An dieser Einschätzung ändere sich nichts dadurch, dass für einzelne Produktlinien der Verlegewerkstoffe in den 1990er Jahren nachweislich der Lösemittelanteil reduziert oder im Falle der entwickelten wässrigen Dispersionen für Bodenbelagsklebstoffe weitestgehend ausgeschlossen werden konnte. Es verbliebenen aus dem Umfeld der zu betrachtenden Berufsbranche des Klägers noch genügend Ausnahmesituationen oder auch Produktlinien, von denen bis zur Gegenwart noch Lösemittelexpositionen im Sinne der BK 1317 ausgehen könnten. Ebenso treffe die Einschätzung des Präventionsdienstes der Beklagten nicht zu, dass wegen der Tatsache, dass ab 1995 fast nur noch toluolfreie Klebstoffen im Fußboden- und Parkettlegehandwerk eingesetzt worden sind, damit gänzlich die Belastung durch andere neurotoxischen Lösungsmitteln ausgeschlossen werden könne.

Dem trat der Präventionsdienst der Beklagten seiner Stellungnahme vom 27. April 2010 entgegen. Im Wesentlichen beruhen die Einwendungen darauf, dass das Gutachten des Sachverständigen D. keinen Nachweis für die Überschreitung der neurotoxischen Schwellenwerte belegen könne. Die herangezogenen Datenblätter spiegelten die Vielfalt der lösemittelhaltigen Produkte für den Tätigkeitsbereich des Klägers, könnten aber nicht für eine Expositionsbeurteilung hinsichtlich der BK 1317 herangezogen werden. Eine Nennung der von dem Kläger nach 1999 verwendeten Produkte stehe nach wie vor aus. Zudem sei nicht jedes Lösemittel auch neurotoxisch, was aber erforderlich sei, um es im Hinblick auf die streitgegenständliche Berufskrankheit zu berücksichtigen.

In seiner ergänzenden Stellungnahme vom 26. Juli 2010 führt der Sachverständige D. diesbezüglich sodann aus, dass aus dem konkreten unmittelbaren Berufsfeld des Klägers keine arbeitsplatzbezogenen Emissionsmessungen vorlägen, so dass spezifische Quantifizierungen der relevanten neurotoxischen Einzelstoffe hinsichtlich ihrer Expositionsdauer und -konzentration nicht möglich seien. Daher sei eine generelle lösemittelbedingte Exposition nur abschätzbar und für den Berufsstand der Fußboden- und Parkettverleger auch nachgewiesen.

Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme sowie wegen des Vorbringens der Beteiligten im Einzelnen wird auf die in Bezug genommenen Gutachten sowie die eingereichten Schriftsätze nebst Anlagen verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Klage ist begründet. Der Bescheid vom 4. August 2004 erweist sich als rechtswidrig, weil mit ihnen zu Unrecht die Anerkennung der geltend gemachten Berufskrankheit sowie eine Rentenzahlung abgelehnt worden ist.

Als entschädigungspflichtiger Versicherungsfall gilt nach § 7 Abs. 1 SGB VII auch eine Berufskrankheit. Eine solche Berufskrankheit ist gemäß § 9 Abs. 1 SGB VII gegeben, wenn sie durch die Bundesregierung durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates als Berufskrankheit bezeichnet ist und ein Versicherter infolge einer den Versicherungsschutz nach den §§ 2, 3 oder 6 SGB VII begründenden Tätigkeit hieran erkrankt. Bei einer so genannten Listen-Berufskrankheit, die in der Anlage 1 zur Berufskrankheitenverordnung enthalten ist, müssen folgende Tatbestandsmerkmale vorliegen: Die Verrichtung einer – grundsätzlich – versicherten Tätigkeit (sachlicher Zusammenhang) muss zu Einwirkungen von Belastungen, Schadstoffen oder Ähnlichem auf den Körper geführt haben (Einwirkungskausalität), und die Einwirkungen müssen eine Krankheit verursacht haben (haftungsbegründende Kausalität). Die Tatbestandsmerkmale "versicherte Tätigkeit", "Verrichtung", "Einwirkungen" und "Krankheit" müssen im Sinne des Vollbeweises, also mit an Gewissheit grenzender Wahrscheinlichkeit, vorliegen. Für die nach der Theorie der wesentlichen Bedingung zu beurteilenden Ursachenzusammenhänge genügt die hinreichende Wahrscheinlichkeit, nicht allerdings die bloße Möglichkeit (vgl. BSG, Urteile vom 27. Juni 2006 – B 2 U 20/04 RSozR 4-2700 § 9 Nr. 7 und vom 9. Mai 2006 - B 2 U 1/05 RSozR 4-2700 § 8 Nr. 17). Ein Zusammenhang ist hinreichend wahrscheinlich, wenn nach herrschender ärztlich-wissenschaftlicher Lehrmeinung mehr für als gegen ihn spricht und ernste Zweifel an einer anderen Ursache ausscheiden.

Liegt demnach ein Versicherungsfall vor, haben Versicherte, deren Erwerbsfähigkeit infolge eines Versicherungsfalls über die 26. Woche hinaus um wenigstens 20 % gemindert ist, gemäß § 56 Abs. 1 S. 1 SGB VII Anspruch auf Verletztenrente.

Gemessen an diesen Maßstäben ist die Kammer zu der Überzeugung gelangt, dass bei dem Kläger eine Berufskrankheit nach Nr. 1317 der Anlage 1 zur Berufskrankheitenverordnung, nämlich eine Polyneuropathie durch organische Lösungsmittel oder deren Gemische, vorliegt, wegen deren Folgen der Kläger eine Rente beanspruchen kann.

An der Verrichtung während versicherter Tätigkeit bestehen keine Zweifel. Ebenso gewiss leidet der Kläger an einer Polyneuropathie; dies wurde bereits durch Vorbefunde belegt und sodann durch den Sachverständigen C. unzweifelhaft bestätigt. Daher bedarf es insoweit keiner weiteren Ausführungen.

Allein fraglich und im vorliegenden Rechtsstreit daher von zentraler Bedeutung ist die Voraussetzung der Anerkennung der Erkrankung als Berufskrankheit, dass die Polyneuropathie des Klägers mit hinreichender Wahrscheinlichkeit durch Lösemittel verursacht worden ist. Hiervon geht der Sachverständige C. im Ergebnis aus, wenn er mit nach Abwägung der erhobenen Befunde ausführt, es spreche mehr für als gegen eine berufliche Verursachung der klägerischen Polyneuropathie. Dem schließt sich die Kammer im Ergebnis an.

Allerdings beruht die Einschätzung des Sachverständigen auf einer aus den Angaben des Klägers gefolgerten Lösemittelexposition des Klägers über das Jahr 1990 hinaus, die die Einschätzung des Präventionsdienstes der Beklagten für den Sachverständigen als nicht nachvollziehbar erscheinen lassen. Diese Zweifel an der Einschätzung des Präventionsdienstes der Beklagten werden sodann grundlegend durch den Sachverständigen D. bestätigt, der unter Berücksichtigung der Tätigkeits- und Arbeitsplatzbeschreibung des Klägers von einer bis zur erstmaligen Diagnosestellung bezüglich der Polyneuropathie anhaltenden Exposition des Klägers gegenüber Lösemitteln ausgeht. Die Kammer folgt den beiden Sachverständigen in ihrer Einschätzung, was zentral auf folgenden Umständen beruht:

1. Es bestehen angesichts seiner detaillierten Ermittlungen keine Zweifel daran, dass der Sachverständige D. die gewöhnlichen Arbeitsbedingungen der Berufsbranche, in der der Kläger tätig war, für die Zeit nach 1990 zutreffend bestimmt hat. Der "durchschnittliche" im Verlegehandwerk Tätige war demnach auch nach 1990 noch toxischen Lösemitteleinwirkungen ausgesetzt.

2. Diese allgemeinen Arbeitsbedingungen treffen nach der eingehenden Anamneseerhebung durch den Sachverständigen D. – in Parallelität zur Einschätzung des Sachverständigen C., der in diesem Zusammenhang auf die schlechten arbeitshygienischen Bedingungen betreffend den Kläger hinweist – auch auf die Situation des Klägers nach 1990 zu.

Diese sachverständige Einschätzung wird auch durch eine Plausibilitätserwägung gestützt: Der Kläger führt(e) seit den 1960er Jahren seinen Handwerksbetrieb nach herkömmlichen Prinzipien in einem Kleinbetrieb; später erfolgte eine weitere Personalreduzierung. Es ist angesichts dieser Unternehmensstruktur davon auszugehen, dass der Kläger dem typischen Tätigkeitsprofil seines Handwerks unterfällt und auch nach 1990 an seiner Arbeitsweise festhielt, somit nicht unmittelbar nach Einführung lösemittelreduzierter Werkstoffe sofort vollständig auf diese umstieg. Vielmehr ist davon auszugehen, dass er seine traditionelle Arbeitsweise fortsetzte, auch was die Auswahl der Arbeitsmaterialien anbelangte. Es wäre eher ungewöhnlich, wenn eine über mehrere Jahrzehnte tradierte Praxis des kleinen klägerischen Unternehmens radikal umstrukturiert worden wäre.

Demgegenüber überzeugen die Einwendungen der Beklagten nicht. Die allgemeine Reduzierung der Lösemittel im Bereich des Verlegehandwerks haben, wie der Sachverständige D. aufgezeigt hat, eine völlig lösemittelfreie Arbeitswelt nicht schaffen können. Auf dieser faktischen Annahme basiert aber die Einschätzung des Präventionsdienstes – ergänzt um Folgendes: Der Präventionsdienst meint, eine Lösemittelexposition des Klägers nach 1990 nicht zugrunde legen zu können, weil der Kläger die im Einzelnen verwendeten Produkte nicht benannt hat. Insofern stimmt dem auch der Sachverständige D. zu und räumt in seiner ergänzenden Stellungnahme ein, dass eine Beurteilung anhand konkreter Expositionsdaten nicht möglich sei.

Dies ist nach Auffassung der Kammer aber auch nicht erforderlich. Angesichts der vorstehenden Erwägungen und der durch den Sachverständigen D. vermittelten Sachkunde steht zur Überzeugung des Gerichts fest, dass der Kläger als "durchschnittlicher" Fußbodenverleger auch nach 1990 gegenüber toxischen Lösemitteln exponiert war. Es sind keinerlei Anhaltspunkte ersichtlich, die es nahelegen könnten, dass der Kläger sich diesbezüglich in einer Sondersituation befunden haben könnte.

Dabei ist auch zu beachten, dass der Sachverständige C. ausdrücklich darauf hingewiesen hat, dass sich die Wirkung organischer Lösemittel potenzieren kann, auch wenn für die einzelne Substanz ein etwaiger Grenzwert eingehalten wird. Gleichzeitig hat der Sachverständige C. protokolliert, dass der Kläger bereits seit Anfang der 1990er Jahre polyneuropathische Beschwerden beschrieben habe. Hierauf hat dieser auch gegenüber dem Gericht hingewiesen. Daher ist davon auszugehen, dass sich bereits in kurzem zeitlichem Abstand zum Jahr 1990 klinische Symptome der Polyneuropathie des Klägers manifestiert hatten. Bis 1990 geht aber auch die Beklagte von einer deutlichen Überschreitung der toxischen Grenzwerte aus. Die nachfolgende Exposition musste daher die bestehende Vergiftung des Klägers "nur" noch aufrechterhalten.

Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass der BK-Report 2/2007, S. 138, betreffend die BK 1317 im Gegensatz zu früheren Auffassungen ausführt, dass "als zentrale Aussage der vorliegenden Untersuchungen" festzustellen sei, "dass eine toxische Polyneuropathie nach Expositionsende zeitlich begrenzt über wenige Monate eine Verschlechterung der Symptomatik zeigen kann, dass es jedoch langfristig nicht zu einer weiteren Verschlechterung, sondern zu einer weitestgehenden Ruckbildung der klinischen und neurophysiologischen Symptomatik kommt, wobei im Einzelfall Reststörungen insbesondere bei anfangs schwer betroffenen Patienten auch dauerhaft persistieren können". Ein grundsätzliche Besserung hat auch der Sachverständige C. beschrieben und insofern als Indiz für die berufsbedingte Verursachung der klägerischen Erkrankung gewertet.

Es bedarf daher nach alledem an dieser Stelle keiner Entscheidung, ob der in der Wissenschaft vertretenen Auffassung gefolgt werden kann, dass im Falle einer langjährigen Lösemittelexposition eine "endogene Reexposition" auch nach äußerem Expositionsende anzunehmen ist, die die toxische Einwirkung auf einen Erkrankten aus körperinternen Tiefenspeichern aufrecht erhält. Dies hat die Kammer in ihrem Urteil vom 19. Januar 2010 (S 4 U 173/03) für zutreffend erachtet. Legte man diese zugrunde, könnte eine Polyneuropathie-Erkrankung auch mehrere Jahre nach dem Ende der äußeren Einwirkung noch ausbrechen, so dass selbst bei einem Expositionsende um das Jahr 1990 herum – wie seitens der Beklagten behauptet – für die Mitte der 1990er Jahre eine Kausalität mit dem bloßen Argument dieses Expositionsendes nicht in Abrede gestellt werden. Hierauf kommt es vorliegend jedoch nicht an, weil die Kammer aufgrund der sachverständigen Feststellungen von einer berufsbedingten toxischen Einwirkung auf den Kläger bis zum Ende seiner Tätigkeit ausgeht und sodann mit dem Sachverständigen Buchte die Kausalität dieser Einwirkung für die bejaht.

Auf dieser Basis schließt sich die Kammer sodann auch hinsichtlich der Einschätzung der MdE dem Sachverständigen C. an und hält eine MdE von 20 % für angemessen. Eine MdE von 50 %, wie beantragt, ist nicht zu begründen.

Nach alledem lagen entgegen der in den angegriffenen Bescheiden zum Ausdruck gekommenen Auffassung der Beklagten die Voraussetzungen des § 44 Abs. 1 SGB X vor, so dass unter Rücknahme der Ausgangsbescheide die begehrte Anerkennung der Berufskrankheit sowie die Rentenzahlung zu erfolgen hat. Dabei konnte die Aufhebung der ursprünglichen Bescheide direkt erfolgen, auch wenn diese im Antrag der Kläger als solche nicht bezeichnet waren. Es war aber das offensichtliche Rechtsschutzziel des Klägers, nicht (nur) die Entscheidung über den Antrag nach § 44 SGB X zu beseitigen, sondern direkt das ursprüngliche Begehren durchzusetzen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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