L 3 B 188/02 AL

Land
Freistaat Sachsen
Sozialgericht
Sächsisches LSG
Sachgebiet
Arbeitslosenversicherung
Abteilung
3
1. Instanz
SG Chemnitz (FSS)
Aktenzeichen
S 6 AL 767/01
Datum
2. Instanz
Sächsisches LSG
Aktenzeichen
L 3 B 188/02 AL
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
1. Ein Rechtsschutzbedürfnis zur Klageerhebung kann auch dann gegeben sein, wenn der streitige Bescheid eventuell nicht zugegangen ist, die Beklagte jedoch den Rechtsschein eines Zugangs setzt.
2. Die Zugangsfiktiktion nach § 37 Abs. 1 SGB X setzt die Dokumentation der Aufgabe zur Post durch datierten Absendevermerk des zuständigen Sachbearbeiters voraus.
Der Beschluss des Sozialgerichts Chemnitz vom 11. November 2002 wird abgeändert: Die Beklagte hat der Klägerin die notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

Gründe:

I.

Streitig ist zwischen den Beteiligten nunmehr noch, ob die Beklagte der Klägerin die not-wendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten hat. Im Hauptsacheverfahren war zwischen den Beteiligten die teilweise Aufhebung von Ar-beitslosengeld (Alg) und Unterhaltsgeld (Uhg) betreffend die Zeiträume vom 01.01.1998 bis zum 03.05.1998 und vom 04.05.1999 bis zum 09.09.1999 sowie die Erstattung des sich hieraus ergebenden überzahlten Betrages streitig.

Am 13.08.2001 hat die Klägerin gegen Rücknahme- und Erstattungsbescheide mit Datum vom 22.06.2000 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12.07.2001 Klage erho-ben. Sie hat geltend gemacht, auf ihre Stellungnahme zum Anhörungsschreiben vom 30.05.2000 sei – trotz mehrfacher Anfragen – keine Reaktion der Beklagten mehr erfolgt. Am 04.05.2001 habe ihr Prozessbevollmächtigter eine telefonische Mitteilung der Sach-bearbeiterin der Beklagten erhalten, dass bereits ein Bescheid zu Ungunsten der Klägerin ergangen sei.

Der in der Akte befindliche Bescheidentwurf, datiert vom 22.06.2000, sei jedoch weder dem Prozessbevollmächtigten noch der Klägerin selber jemals zugegangen.

Mit Schreiben vom 07.08.2001 habe die Beklagte ihr Zahlungsmitteilungen betreffend die fällig gewordenen Erstattungsforderungen u. a. zu Alg und Uhg mit einem Gesamtbetrag von 6.581,20 DM zugesandt.

Ausweislich der Leistungsakte hatte der Prozessbevollmächtigte noch am 04.05.2001 ge-gen die Ablehnungsentscheidung vorsorglich Widerspruch eingelegt.

Mit Widerspruchsbescheid vom 17.12.2001 verwarf die Beklagte den Widerspruch wegen Verfristung als unzulässig.

Am 13.08.2001 hat sich die Klägerin an das Sozialgericht Chemnitz (SG) gewandt. Mit Bescheid vom 17.05.2002 hat die Beklagte die streitgegenständlichen Bescheide zu-rückgenommen und die geltend gemachte Forderung storniert. Daraufhin hat die Klägerin die Klage am 10.06.2002 zurückgenommen. Da die Beklagte nicht bereit war, die außergerichtlichen Kosten der Klägerin zu erstatten, hat sie beim SG beantragt, die Beklagte zur Erstattung der Kosten zu verpflichten.

Dem ist die Beklagte entgegengetreten. Der Widerspruch sei verfristet gewesen. Beide Aufhebungsbescheide (sowohl hinsichtlich Alg als auch Uhg) seien in der Verwaltungsak-te enthalten. Sie seien am 22.06.2000 abgesandt worden. Da kein Postrücklauf erfolgt sei, sei von einem Zugang auszugehen.

Mit Beschluss vom 11.11.2002 hat das SG den Kostenerstattungsantrag zurückgewiesen. Der Widerspruch vom 04.05.2001 sei – unabhängig von einem Zugang – in jedem Fall unzulässig gewesen. Im Falle des Zugangs sei er nicht innerhalb der einmonatigen Widerspruchsfrist erfolgt. Für den Fall des fehlenden Zugangs habe noch kein wirksamer Bescheid vorgelegen, so dass kein Rechtsschutzbedürfnis gegeben sei. Richtigerweise hätte die Klägerin von der Beklagten eine "nochmalige" Zusendung der Bescheide fordern müssen. Gegen diesen Beschluss hat die Klägerin am 18.11.2002 Beschwerde eingelegt. Das SG hat dieser nicht abgeholfen und die Akten dem Sächsischen Landessozialgericht (LSG) zur Entscheidung vorgelegt.

Hierzu hat die Klägerin ausgeführt, auf Grund des Telefonats vom 04.05.2001 habe sich durchaus ein Rechtsschein ergeben, welcher zur Einlegung des Widerspruchs berechtigt habe. Der Prozessbevollmächtigte habe nicht sicher sein können, dass ungeachtet seiner Bevollmächtigung dennoch der Klägerin selber zu irgendeinem Zeitpunkt ein Bescheid zugegangen sei.

Die Klägerin beantragt daher sinngemäß,

den Beschluss des Sozialgerichts Chemnitz vom 11. November 2002 abzuändern und die Beklagte zu verpflichten, ihr die notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

Die Beklagte beantragt sinngemäß,

die Beschwerde zurückzuweisen.

Sie führt hierzu aus, auch wenn man dem Vortrag der Klägerin folgte, sei kein Rechtsschein gegeben gewesen. Es habe insbesondere keinen sachlichen Grund gegeben, noch am Tag des Telefonats "auf Verdacht" einen Widerspruch einzulegen. Zumindest wäre dieser später zurückzunehmen und eine Übersendung der bekannt gegebenen Entscheidung zu fordern gewesen. II.

Die Beschwerde ist zulässig gemäß §§ 172, 173 Sozialgerichtsgesetz (SGG).

Sie ist auch in der Sache begründet.

Entgegen dem Beschluss des Sozialgerichts Chemnitz (SG) vom 11. November 2002 hat die Beklagte der Klägerin die notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

Der Antrag auf Kostenerstattung ist zulässig gemäß § 193 Abs. 1 SGG. Grundsätzlich hat das Gericht im Urteil zu entscheiden, ob und in welchem Umfang die Beteiligten einander die Kosten zu erstatten haben, § 193 Abs. 1 Satz 1 SGG. Da dieses Verfahren jedoch durch die Erledigungserklärung der Klägerin ohne gerichtliche Entschei-dung beendet wurde, hat das Gericht auf Antrag hin durch Beschluss über die Kostener-stattung zu entscheiden, § 193 Abs. 1 Satz 3 SGG.

Maßstab für die Entscheidung über die Kostenlast ist, ohne dass eine Bindung des Gerichts an die Anträge der Beteiligten besteht, eine Verteilung unter Berücksichtigung des in den §§ 91a ff. ZPO zum Ausdruck kommenden Rechtsgedankens. Das Gericht hat folglich das Ergebnis des Rechtsstreits unter Einbeziehung des sich aus den Akten ergebenden Sach- und Streitstandes nach billigem Ermessen zu würdigen.

Nach dem bisher vorliegenden Sach- und Streitstand hätte die Klägerin in der Hauptsache obsiegt, denn eine Bekanntgabe und damit ein Wirksamwerden der streitigen Bescheide kann nach Aktenlage nicht festgestellt werden, §§ 37 Abs. 1 und 2, 29 Abs. 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X). Zunächst war die Klage zulässig. Es fehlte hierfür nicht das Rechtsschutzbedürfnis. Dies gilt auch dann, wenn man – wie die Klägerin – von einem fehlenden Zugang der Bescheide ausginge. Es lag hier – jedenfalls unter Berücksichtigung der an sie in der Folgezeit ergan-genen "Zahlungsmitteilungen" vom 07.08. 2001 – ein von der Beklagten veranlasster Rechtsschein vor, der zur Einlegung des Widerspruchs berechtigte. Anlass zur – im Er-gebnis sachlich erfolgreichen – Klage war der abschlägige Widerspruchsbescheid.

Zwar ist der Beklagten zuzugeben, dass die sofortige Einlegung des Widerspruchs – aus-schließlich auf Grund einer telefonischen Erklärung – zunächst nur "auf Verdacht" erfolg-te. Dennoch war auch dieser Widerspruch durch die Vorgehensweise der Beklagten veran-lasst, denn der Prozessbevollmächtigte konnte grundsätzlich auf die Erklärung der Sach-bearbeiterin der Beklagten vertrauen und daher davon ausgehen, dass zu einem ihm nicht näher bekannten Zeitpunkt bereits ein ablehnender Bescheid ergangen war und somit um-gehend – soweit dies noch möglich wäre – der Eintritt der Rechtskraft zu verhindern sei. Die Klägerin hat mit ihrem Vorbringen im Verwaltungs- und Klageverfahren den Erlass eines solchen Bescheides – als solchen – nicht bezweifelt. Mit dem – sinngemäßen – Bestreiten des Erhalts eines solchen Bescheides hat sie aber die Zugangsfiktion des § 37 Abs. 2 SGB X beseitigt. Dem hat die Beklagte durch die im Widerspruchsbescheid vom 12.07.2001 genannten Gründe nicht Rechnung getragen, in welchem sie gerade betont, dass der Bescheid vom 22.06.2000 als bekannt gegeben gelte. Zudem verfestigte die Be-klagte den Rechtsschein auch durch die Zahlungsmitteilung vom 07.08.2001. Danach musste die Klägerin davon ausgehen, dass die Beklagte von ihr wirksam bekannt gegebe-nen Bescheiden ausging, so dass die darin enthaltenen Zahlungsforderungen nunmehr fäl-lig seien.

Nach den bei Verfahrensbeendigung bestehenden Erkenntnissen wäre die Klage auch be-gründet gewesen, denn es kann nicht festgestellt werden, dass die Bescheide vom 22.06.2000 tatsächlich bekannt gegeben und damit wirksam geworden sind im Sinne von § 39 Abs. 1 Satz 1 i. V. m. § 37 Abs. 1 und 2 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X). Die Beklagte stützt sich hierzu auf die Vermutungswirkung nach § 37 Abs. 2 erster Halb-satz SGB X. Diese Vermutungswirkung greift hier jedoch nicht ein auf Grund des Bestrei-tens der Klägerin. Die Beklagte hat den Zugang der Bescheide vom 22.06.2000 nicht nachgewiesen. Die Klägerin bestreitet deren Zugang. Aus der Verwaltungsakte der Beklagten lässt sich nicht entnehmen, dass die Bescheide vom 22.06.2000 überhaupt abgesandt wurden. Die dort enthaltenen Bescheidtexte sind vielmehr als "Entwurf" bezeichnet. Um die Zusendung zu dokumentieren wäre ein Absendevermerk des zuständigen Sachbearbeiters auf der Durch-schrift unter Angabe des Datums der Aufgabe zur Post vorzunehmen gewesen. Ohne eine solchen Absendevermerk, der den Aussteller erkennen lassen muss, kann nicht festgestellt werden, ob und insbesondere wann ein Verwaltungsakt auch tatsächlich zur Post aufgege-ben wurde (vgl. hierzu Urteil des VG Bremen vom 17.10.1995, Az. 2 A 95/94, JURIS, S. 3). Die objektive Beweislast hinsichtlich der Nichterweislichkeit des Umstandes der Bekannt-gabe musste zu Lasten der Beklagten gehen.

Der Beschluss ist abschließend, § 177 SGG. Er ergeht gemäß § 193 SGG kostenfrei.
Rechtskraft
Aus
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