L 2 U 108/99

Land
Freistaat Sachsen
Sozialgericht
Sächsisches LSG
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
2
1. Instanz
SG Leipzig (FSS)
Aktenzeichen
S 4 U 26/96
Datum
2. Instanz
Sächsisches LSG
Aktenzeichen
L 2 U 108/99
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Ein Anspruch auf Übergangsleistungen gem. § 3 BKV besteht bereits dann, wenn beim Betroffenen ein Bandscheibenleiden besteht das eine Weiterarbeit im bisherigen Beruf (nur Baumaschinist) verbietet, ohne dass es darauf ankommt, ob dieses Leiden selbst durch die (bisherige) Berufstätigkeit verursacht wurde.
I. Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Sozialgerichts Leipzig vom 24. Juni 1999 mit dem Bescheid vom 19.07.1995 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 06.12.1995 geändert. Die Beklagte wird verpflichtet, Leistungen nach § 3 Abs. 2 BKV zu erbringen. Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.
II. Die Beklagte hat dem Kläger ein Viertel seiner außergerichtlichen Kosten beider Rechtszüge zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Streitig ist die Anerkennung eines Rückenleidens als Berufskrankheit (BK), hilfsweise, die Gewährung einer Übergangsleistung nach § 3 der Berufskrankheiten-Verordnung (BKV).

Der am ...1941 geborene Kläger absolvierte von 1955 bis 1958 eine Bäckerlehre, bis 1959 arbeitete er als Geselle. Von 1959 bis 1962 war er als Bohrarbeiter im VEB B ... W ... tätig. Als Maschinist arbeitete der Kläger von 1960 bis 1966, anschließend bis 1969 als Straßenbauer. Von 1969 an wurde er als Baumaschinist beschäftigt. Ab 24.1.1995 war der Kläger (mit einer kurzen Unterbrechung) arbeitslos und bezog Arbeitslosengeld. Von November 1995 bis Oktober 1996 war der Kläger im Rahmen einer Arbeitsbeschaffungs-Maßnahme (ABM) als Baumaschinist beschäftigt und ist seitdem arbeitslos.

Am 01.03.1994 zeigte Dipl. med. Z1 ... der Beklagten eine BK an. Der Kläger leide unter Nacken- und Rückenschmerzen bei Belastung und in Ruhe. Es bestehe eine vorzeitige degenerative Veränderung am Stütz- und Bewegungsapparat. Der Kläger führe diese auf seine Arbeit als Baumaschinist bei der S ... GmbH in D ... zurück. Erstmals habe er 1961 Wirbelsäulenschmerzen verspürt. Frau Z1 ... diagnostizierte eine Bogenschlussstörung bei S 1, eine Spondylosis deformans ab L5 und eine beidseitige Spondylolyse bei L5. Der Technische Aufsichtsdienst der Beklagten berichtete am 30.03.1995, der Kläger sei im Sinne einer BK Nr. 2110, nicht jedoch nach einer BK Nr. 2108 gefährdet tätig gewesen. Dr. N ... empfahl der Beklagten in seiner gewerbeärztlichen Stellungnahme vom 16.06.1995, eine BK nach der Nr. 2110 BKV abzulehnen, da der Röntgenbefund der Lendenwirbelsäule keinen Bandscheibenschaden ausweise.

Die Beklagte entschied daraufhin mit Bescheid vom 19.07.1995, dass Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung aufgrund der Wirbelsäulenbeschwerden nicht gewährt werden könnten, denn es bestehe keine Berufskrankheit. Da der Kläger nicht in der überwiegenden Anzahl der Arbeitsschichten gefährdende Tätigkeiten im Sinne der Nr. 2108 der Anlage 1 zur BKV ausgeführt habe, sei seine Erkrankung nicht als BK anzusehen. Die Voraussetzungen für die Anerkennung einer BK nach der Nr. 2110 seien ebenfalls nicht erfüllt, da er nicht an einer bandscheibenbedingten Erkrankung leide. Den mit der Begründung eingelegten Widerspruch vom 15.08.1995, er befinde sich seit 25 Jahren in orthopädischer Behandlung, wies die Beklagte mit Bescheid vom 06.12.1995 zurück. Bandscheibenschäden im Bereich der Lendenwirbelsäule seien nicht objektivierbar. Dagegen fänden sich anlagebedingte Veränderungen im Übergangsbereich von Lendenwirbelsäule zu Steißbein, ferner eine anlagebedingte Seitverbiegung der Wirbelsäule (Skoliose).

Dagegen hat der Kläger am 03.08.1996 das Sozialgericht Leipzig (SG) angerufen. Aus einem nunmehr beigezogenen arbeitsamtsärztlichen Gutachten v. 11.10.1995 (Sachverständiger Dr. H1 ..., SG-Akte Bl. 28) ergibt sich, dass der Kläger nicht mehr für schwere körperliche Arbeiten wie Heben und Trage schwerer Lasten und Arbeiten in Körperzwangshaltungen geeignet ist, ferner sollten Erschütterungen des Bewegungsapparats und Vibrationen vermieden werden. Der Sachverständige hatte "größte Bedenken", dass das Leistungsbild noch den Anforderungen an einen Baumaschinisten entspreche. In gleichem Sinn äußerte sich DM Z1 ... im Schr. v. 4.10.1995 an das Arbeitsamt Oschatz (SG-Akten Bl. 52).

Das SG hat Prof. Dr. G1 ..., L ..., zum Sachverständigen bestellt, der im Gutachten vom 18.02.1999 zum Ergebnis gelangt, die Verschleißveränderungen im Bereich der Hals- , Brust- und der Lendenwirbelsäule seien uncharakteristisch über den gesamten Bereich verteilt, das Verteilungsbild spreche nicht für eine lokale unphysiologische Überlastung der unteren Wirbelsäule. Dieser habe möglicherweise eine tendenzielle Verschlimmerung erfahren, jedoch sei diesem Umstand bestenfalls der Charakter einer unwesentlichen Teilursächlichkeit beizumessen.

Mit Urteil vom 24.6.1999 hat das SG die Klage abgewiesen und sich zur Begründung im wesentlichen auf das Gutachten von Prof. Dr. G1 ... gestützt. Eine bandscheibenbedingte Erkrankung der Lendenwirbelsäule liege beim Kläger zwar vor. Diese sei jedoch nicht durch langjähriges Heben oder Tragen schwerer Lasten entstanden. Nach dem überzeugenden Gutachten von Dr. G1 ... beruhten die Wirbelsäulenschmerzen des Klägers auf einem allgemeinen degenerativen Verschleißprozess in allen Wirbelsäulenetagen. Die Erkrankung des Klägers sei daher anlagebedingt, in extremer Rumpfbeugehaltung habe der Kläger nicht gearbeitet, aus den genannten Gründen komme auch eine BK nach der Nr. 2110 nicht in Betracht.

Gegen das am 28.7.1999 zum Zwecke der Zustellung mit Einschreiben zur Post gegebene Urteil hat der Kläger am 12.8.1999 Berufung eingelegt. Die Körperschäden seien so stark, dass er nicht mehr als Baumaschinist arbeiten könne.

Prof. Dr. G1 ... hat dem Senat die anlagebedingten Faktoren erläutert als einen angeboren zu engen knöchernen Raum für das Rückenmark, eine Wirbelbogenstörung sowie eine dadurch bedingtes Wirbelkörpergleiten. Eine vor allem die Hals-und Brustwirbelsäulenabschnitte betreffende Osteochondrose und Spondylose hat auch Dr. B1 ... in seiner Auskunft vom 25.11.2000 beschrieben.

Auf eine Anfrage von seiten des Senats hat die Beklagte ihre Auffassung erläutert, wonach beim Kläger keine bandscheibenbedingte Erkrankung vorgelegen habe und deshalb auch keine BK-verdächtigen Veränderungen Ursache für die Rückenbeschwerden des Klägers seien. Da keine Indizien für eine Entscheidung hinsichtlich eventueller Leistungen nach § 3 BKV vorgelegen hätten, sei auch eine diesbezügliche Bescheiderteilung nicht erforderlich gewesen. Es müsse ein objektivierbares Krankheitsbild vorliegen, keinesfalls genüge es, dass von den Verhältnissen am Arbeitsplatz generell ein Gesundheitsrisiko ausgehe.

Der vom Senat zum Sachverständigen bestellte Facharzt für Orthopädie Dr. M1 ..., E ..., hat in seinem Gutachten vom 26.5.2003 berichtet, der Kläger habe auf die Frage nach Wirbelsäulenbeschwerden und -störungen auf seine Hüftgelenksentzündung links" hingewiesen, die doch von der Wirbelsäule kommen müsse. Wegen dieser Gelenkerkrankung habe er 1997 eine Kur bekommen. Dabei habe sich sein Hüftgelenk aber nicht gebessert. Er habe das Gefühl, es sei durch die Kur erst richtig aufgewühlt" worden. Derzeit habe er Schmerzen im Hüftbereich links mit starker Wetterfühligkeit. Er habe eine Beinverkürzung von 1 cm links und trage deshalb einen Ausgleich. Die Schmerzen hätten einen bohrenden, stechenden Charakter und beeinträchtigten auch den Nachtschlaf. Beim weichen Sitzen komme es zu einer Ausstrahlung des Schmerzes von der Hüfte zum Gesäß. Dabei häufig plötzliche Schmerzschüsse, bei denen er zusammenzucke. Er könne nicht mehr weitere Strecken gehen, sondern müsse schon nach zehn Minuten pausieren. Im Schultergürtel und in den Armen habe er Schweregefühl. Der Sachverständige hat folgenden Untersuchungsbefund erhoben:

Im Stand Beckentiefstand li 1 cm. Mit Längenausgleich Wirbelsäule gerade, bei Vorbeugung kein Rippen- oder Lendenwulst. Kreuzdarmbeingelenke bei Wechselbelastung re / li seitengleich mobil. Rumpfbeugung bis zu einem Fingerkuppen-Bodenabstand von 5 cm frei. Schober-Zeichen 10 / 14 cm regulär. Seitneigung rechts Fingerkuppen-Bodenabstand 64/48, links 62/47 regulär. Nacken/Schultermuskulatur hypertonisch (verspannt) Linke Schulter hängt. Arme in allen Gelenken frei beweglich, dabei leichtes Reiben im linken Schultergelenk. Nacken und Kreuzgriff beiderseits frei. Lendenwirbelsäule: Vorbeugung (=Kyphosierung) frei (FBA 5 cm) Wiederaufrichtung flüssig und schmerzfrei, auch gegen WiderStand - keine Aufrichteinsuffizienz". Rückbeugung (=Lordosierung) ausgiebig und unempfindlich. Fallstauchung aus dem Zehenstand unempfindlich. In Rückenlage indirekte Lordosierung durch gestreckte Beinhebung ("Güntz I") und durch Rumpfaufrichtung ("Güntz II") unempfindlich, ebenso die direkte Hyperlordosierung in der Bauchlage durch Anheben der Beine nach hinten oder durch maximale Kniebeugung. Auf Dornfortsatzdruck sind die unteren zwei Lumbalsegmente empfindlich mit reflektorischer Muskelspannung - sie sind im Wirbelverband aber fest (= keine tastbare Segmentlok-kerung). Der Ileo-lumbal- Winkel links ist druckempfindlich mit Angabe von Ausstrahlung ins linke Gesäß. Die Ischiasdruckpunkte ("Valleix") am Gesäß, in der Glutaealfalte und im Ober/Unterschenkelverlauf sind unempfindlich. Hüftgelenke: Frei von lokalem Druckschmerz.

Röntgenbefunde: Lendenwirbelsäule a-p und seitlich von 1993, 1995 und 1998: Die a-p-Aufnahmen sind unterschiedlich zentriert, lassen sich aber trotzdem vergleichen. Seitlich gerader Verlauf der LWS 93/95, leicht linksgekippter Ansatz über dem Kreuzbein 1998. Die Höhe des Zwischenwirbelraumes (= Bandscheibendicke) ist zwischen L IV und L V im Vergleich zu den Nachbar- Segmenten gemindert. Die Höhenminderung hat sich Von 95 zu 98 verstärkt (Seitenbild). Im a-p-Bild: Spondylotische Ossifikationen (Verknöcherungen, Zacken") der Längsbandansätze sind 1993 diskret an L IV oben beiderseits und unten links sichtbar. 1995 deutlich stärkere Ausprägung und zusätzliche Ossifikationen an L III beiderseits unten und bei L V links oben. Weitere vermehrte Ausprägung 1998 - hier ganz diskret auch eine beginnende Ossifikation L II rechts unten. Im Seitenbild wird die Ausbildung der Bandansatzossifikationen (hier nun vorderes Längsband) im Zeitablauf noch deutlicher: 1993 geringe Ausprägung L V und L IV vorne oben. 1995 stärkere Ausprägung und zusätzliche Reaktionen an L IV oben und an L III unten und oben. 1998 schließlich ausgeprägte spondylotische Zacken, die bei L IV oben schon die Form einer nach oben gebogenen Spange hat. 1998 erstmalig auch eine deutliche Sklerosierung der oberen Deckplatte von L V und der korrespondierenden unteren Deckplatte von L IV. Auf allen a-p-Bildern ein unvollständiger Bogenschluß des ersten Sakralwirbels ( Spina bifida"). Schrägaufnahmen der LWS von 1994 zeigen rechts eine eben angedeutete, links eine deutliche Ossifikationsstörung der Interarticularportion von L V = "Spondylolyse". Eine Wirbelverschiebung im Sinne eines Wirbelgleitens, also eine "Spondylolisthesis" besteht nicht. Der Abstand der Wirbelbogen-Abgangs-Ovale wird von Segment zu Segment von oben nach unten größer: L I: 24 mm; L II: 25 mm; L III: 25 mm; L IV: 27 mm; L V: 33 mm Ein "enger Spinalkanal" liegt demnach nicht vor.

Zum Krankheitsverlauf führt der Sachverständige aus, der Kläger sei von 1975 ab in fachorthopädischer behandelt worden. Das damals unklare Krankheitsbild habe eine lumbale Wurzelreizung nicht auszuschließen vermocht und eine Anzeige über eine Berufskrankheit veranlasst. Die weiter unklare Symptomatik habe 1995 zur Konsultation der Neurologin geführt, die seinerzeit eine Wurzelkompression in Erwägung gezogen habe (SG BI. 53). Bereits vorher habe ein Computer-Tomogramm eine geringfügige Bandscheibenprotrusion ergeben (SG BI. 53). Von Frau DM Z1 ... sei eine Berufsunfähigkeit als Baumaschinist festgestellt worden (SG BI. 51/52). Mitte 1997 habe die Behandlung bei Dr.sc.med.B1 ... begonnen, der ein manifestes, ausgeprägtes Wurzelkopressionssyndrom (= "Ischias" = vulgär "Bandscheibenvorfall") mit eindeutiger Symptomatik festgestellt habe mit Reflexstörung, einem sensiblen Dermatom, Empfindlichkeit der Ischias-Nervendruckpunkte und einem Ischiasdehnungsschmerz. Die Wurzelkompression sei in der Folgezeit wieder abgeklungen, was einen typischen Verlauf darstelle und sei zum Zeitpunkt der jetzigen gutachterlichen Untersuchung nur noch an der Muskelatrophie am linken Bein und einer geringen Nervendruckempfindlichkeit im oberen Abschnitt des n.ischiadicus (="Ischiasnerv") nachweisbar. Dr. M1 ... gelangt zu folgenden Diagnosen:

1. Zustand nach lumbalem Wurzelkompressionssyndrom. Geringe Restsymptomatik ohne Krankheitswert. 2. Arthrosis deformans des linken Hüftgelenkes mit geringer Beweglichkeitseinschränkung und leichtem, endgradigem Bewegungsschmerz. 3. Zustand nach Schultergelenks-Kapselschrumpfung links ("frozen shoulder") - geringe Restbeschwerden ohne nachweisbare Beweglichkeitseinschränkung. 4. Beweglichkeitseinschränkung der Halswirbelsäule. Weitere Befunde: Unvollständiger Wirbelbogenschluß S I, Ossifikationsstörung im Wirbelbogen L V ("Spondylolyse").

Der Sachverständige erläutert ferner, dass es sich bei der Spinabifida um eine - gerade im unteren Lumbalbereich häufige - Verknöcherungshemmung handelt. Seien derartige Hemmungen weit und ausgedehnt, könne im Spinalkanal das Nervengewebe beziehungsweise seine Hüllen beeinträchtigt werden ( offener Wirbelkanal"). Beim Kläger jedoch handle es sich um einen Zufallsbefund, der weder Stabilität noch Mobilität des Bewegungssegmentes beeinflusse, noch die Hüllen des Neuralrohres berühre. Dieser Befund stelle weder eine Erkrankung" dar noch mindere er die Segmentfunktion - er stelle also auch keine Krankheitspotenzial dar. Zur Spondylolyse erläutert der Sachverständige, es handele sich hierbei um eine nicht seltene Verknöcherungshemmung in Abschnitt des Wirbelbogens zwischen oberem und unterem Gelenkfortsatz. Sie könne nicht nur die Stabilität im Bewegungssegment mindern, sondern sogar zu Nervenstörungen führen. Im vorliegenden Fall jedoch sei das Wirbelsäulengefüge im betroffenen Segment über das ganze Leben intakt geblieben und es sei nicht zur Zusammenhangstrennung und zum Wirbelgleiten gekommen. Der Befund habe also im Krankheitsgeschehen keine Rolle gespielt.

Ferner weist der Sachverständige darauf hin, dass Häufigkeit und Schwere der allermeisten Wirbelsäulenstörungen mit zunehmendem Alter und stärkerer Ausprägung der Veränderungen keineswegs zunähmen, was in diesem Falle zu sehen sei. Im Bereich der Lendenwirbelsäule sei der Vorgang der Chondrosis intervertebralis" so häufig, dass von einem Lebensvorgang gesprochen werden könne: der allgemeine Rückgang des Flüssigkeitsgehaltes der Körpergewebe sei biologisch. Mit ihm nehme der Quellungsdruck des Lendenbandscheibenkernes ab, die stabilisierende Spannung im Segment lasse nach und die entspannten Bänder ossifizierten an den Ansätzen am Wirbel (=Spondylosis deformans"). Meist verlaufe dieser Prozess kompensiert, es bestehe ein Ausgleich zwischen Spannungsverlust der Bandscheibe und Verkürzung der teilweise ossifizierten Bänder - der Vorgang sei kompensiert, es komme zu keinen Krankheitssymptomen.

Zusammenfassend gelangt der Sachverständige zu dem Ergebnis, eine bandscheibenbedingte Erkrankung der LWS liege in wenig funktionseinschränkenden Restsymptomen vor (abgelaufenes Wurzelkompressionsyndrom L V / S 1 mit noch geringer Nervendruk-kempfindlichkeit und leichtem Tonus- und Umfangsverlust der Beinmuskulatur). Nach Verlauf der Erkrankung mit Entwicklung der ausgeprägten Symptomatik über Jahre hinweg sei eine wesentliche Mitbedingtheit durch die Berufsexposition anzunehmen. Nach der Beurteilung durch Frau DM Z1 ... habe Berufsunfähigkeit als Baumaschinist vorgelegen, die der weitere Verlauf als vollkommen stichhaltig bewiesen habe. Die Erkrankung habe den Kläger also zur Unterlassung aller Tätigkeiten mit einer Exposition im Sinne der BK 2110 gezwungen. Die MdE liegt derzeit unter 10 v.H., sie habe 1997/98 sicher mehr als 30 v.H. ausgemacht, eine genauere Staffelung ließen die vorliegenden Berichte jedoch nicht zu. Eine Fortsetzung der Tätigkeit als Baumaschinist hätte durchaus zu einem schlechteren Verlauf der Krankheit im Sinne einer Verschlimmerung führen können.

Dem hält die Beklagte entgegen, aus rechtlicher Sicht sei eine bandscheibenbedingte Erkrankungen im Sinne der Nr. 2110 BKV als Erkrankung zu definieren, die mit einer Bandscheibenschädigung in ursächlicher Wechselbeziehung stehe. Hierzu müsse ein Schaden am Bandscheibengewebe mit klinischer Relevanz objektiviert worden sein. Zwingend erforderlich sei dazu der bildtechnisch und klinisch dokumentierte Nachweis ei- ner segmentalen Bandscheibenveränderung, wobei dessen Folgen das altersüblich zu erwartende Ausmaß überschreiten müsse. Eine solche Erkrankung sei jedoch nicht diagnostiziert worden (Höhenminderung eines Zwischenraumes und klinischer Segmentbefund und vermehrter Muskeltonus und subjektiv: Schmerz durch Bewegung und fakultativ: Nervenwurzelreizung des gleichen Segments). Auch habe sich nach Bewertung durch den Gutachter die Höhe des Zwischenwirbelraumes L4/L5 im Vergleich der Aufnahmen von 1995 zu 1998 verschmälert. Ob dies auch den Bandscheibenraum L5/S1 betreffe, der anatomisch bedingt schon eine geringere Höhe aufweise als die übrigen Zwischenwirbelräume und der größten Belastung ausgesetzt sei, könne den Ausführungen nicht entnommen werden. In diesem Zusammenhang sei gleichfalls von Bedeutung, dass der Kläger ab dem 01.07.1994 keiner beruflichen Gefährdung mehr ausgesetzt gewesen sei. Es sei hinreichend bekannt, dass die Bandscheiben ab dem 30. Lebensjahr einem natürlichen (altersbedingten) Verschleiß unterlägen.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Leipzig vom 24.Juni 1999 mit dem Bescheid vom 19.07.1995 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 06.12.1995 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, sein Wirbelsäulenleiden als BK anzuerkennen und zu entschädigen, hilfsweise, Leistungen nach § 3 BKV zu erbringen.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Dem Senat liegen neben den Prozessakten beider Rechtszüge die Verwaltungsakten vor.

Entscheidungsgründe:

Die fristgemäß eingelegte und auch sonst zulässige Berufung des Klägers ist nur zum Teil begründet.

Unbegründet ist die Berufung, soweit sie sich gegen die Verneinung der Voraussetzungen des Bestehens einer BK nach den Nrn. 2108 oder 2110 BKV richtet. In beiden Fällen handelt es sich um bandscheibenbedingte Erkrankungen der LWS, einmal - Nr. 2108 - bedingt durch langjähriges heben oder Tragen schwerer Lasten oder durch langjährige Tätigkeiten in extremer Rumpfbeugehaltung (eine derartige Tätigkeit hat der Kläger allerdings nie ausgeübt) zum andern - Nr. 2110 - durch langjährige, vorwiegend vertikale Einwirkungen von Ganzkörperschwingungen im Sitzen. Diese letztgenannte Voraussetzungen sind zwar im Falle des Klägers erfüllt. Doch leidet der Kläger nicht an einer derartigen berufsbedingten Erkrankung.

Der Kläger hat seine langjährige Tätigkeit als Baumaschinist am 24.1.1995 aufgegeben. Eine Erkrankung im Sinne von Nr. 2108 oder Nr. 2110 BKV als Dauerzustand ist dadurch nicht entstanden. Nach dem Gutachten von Dr. M1 ... vom 26.5.2003, der den Kläger am 17.4.2003 untersuchte, fand sich im Bereich der LWS nur eine geringe Restsymptomatik nach einem im Jahre 1997 festgestellten Wurzelkompressionssyndrom, die vom Sachverständigen ausdrücklich als ohne Krankheitswert" bezeichnet wird. Die von DM Z1 ... und von Dr. M1 ... bestätigte Bogenschlussstörung bzw. Spondylolyse ist nicht bandscheibenbedingt. Auch ist von einer Verursachung durch berufliche Belastungen nichts bekannt (Rompe /Erlenkämper, Begutachtung der Haltungs- und Bewegungsorgane, 3. Aufl. 1998, S. 397). Die feststellbaren Bandansatzossifikationen haben ebenfalls keinen Krankheitswert, die Dr. M1 ... erläutert.

Zum maßgebenden Zeitpunkt der Entscheidung des Senats lässt sich deshalb schon nicht das Bestehen einer Bandscheibenerkrankung als solcher feststellen. Ob der Kläger in der Vergangenheit - zwangsläufig vorübergehend - an einer berufsbedingten Bandscheibenerkrankung gelitten hat, kann offen bleiben. Der Umstand, dass sich die LWS-Befunde auch nach Aufgabe der Berufstätigkeit verschlechtert haben, insbesondere das Wurzelkompressionssyndrom erst Mitte 1997, also ein knappes halbes Jahr nach dem Ende der belastenden Tätigkeit auftrat (und wieder abklang) sowie der Umstand, dass sich die Bandscheibenerniedrigung bis 1998 weiter verstärkte, spricht gegen ein berufsbedingtes Leiden.

Es fehlt aber für eine derartige Feststellung das Feststellungsinteresse, da nach den erhobenen Befunden die Voraussetzungen für die geltend gemachte Rentengewährung zu keinem Zeitpunkt erfüllt waren. Im Bericht von DM Z1 ... wird ein weitgehend normaler Finger-Fußbodenabstand von 0 bzw. 10 cm genannt, ebenfalls innerhalb der Norm fand sich das Schober sche Zeichen mit 10/13. Die Untersuchung durch Prof. Dr. G1 ... erbrachte keine wesentlichen Funktionseinschränkungen. Insbesondere waren die Drehbeweglichkeit und die Seitneigung des Rumpfes nicht eingeschränkt (Gutachten S. 8, SG-Akte Bl. 80). Gegenüber Dr. M1 ... hat der Kläger keine bandscheibentypischen Beschwerden angegeben. Auch dieser Sachverständige bezeichnet die einschlägigen Messdaten ausdrücklich als regulär" (S. 3, LSG-Akten Bl. 116). Dass der Kläger in der Zeit der akuten Wurzelkompressionssymptomatik zeitweise beeinträchtigt war, rechtfertigt keine Dauerleistung.

Zu Unrecht hat das SG jedoch die Klage in vollem Umfang abgewiesen, denn der angefochtene Verwaltungsakt ist nicht voll rechtmäßig. Der Kläger hat einen Anspruch auf Übergangsleistungen nach § 3 Abs. 2 BKV.

Nach § 3 Abs. 1 BKV haben die Unfallversicherungsträger, wenn für Versicherte die Gefahr besteht, dass eine BK entsteht, wiederauflebt oder sich verschlimmert, dieser Gefahr mit allen geeigneten Mitteln entgegenzuwirken. Ist die Gefahr gleichwohl nicht zu beseitigen, haben sie darauf hinzuwirken, dass die Versicherten die gefährdende Tätigkeit unterlassen. Versicherte, welche die gefährdende Tätigkeit unterlassen, weil die Gefahr fortbesteht, haben nach Abs. 2 zum Ausgleich hierdurch verursachter Minderung des Verdienstes oder sonstiger wirtschaftlicher Nachteile gegen den Unfallversicherungsträger Anspruch auf Übergangsleistungen. § 3 BKV hat eine präventive Zielrichtung, nämlich die Vermeidung von Gesundheitsschäden vor Eintritt des Versicherungsfalls (vgl. Bundessozialgericht - BSG -, Urteil vom 05.08.1993 - 2 RU 46/92 - = HV-Info 1993, 2314; Mehrtens/Perlebach, Die Berufskrankheiten-Verordnung, Kommentar, G § 3 BKV Rdnr. 1). Die Gefahr der Entstehung einer BK kommt dann in Betracht, wenn das tatbestandliche Krankheitsbild zwar noch nicht vollständig erfüllt ist, aber Symptome vorliegen, die nach medizinischen Erkenntnissen unter Berücksichtigung der festgestellten gefährdenden Einwirkung das Risiko des Eintritts dieser Erkrankung im Vergleich zu anderen Versicherten bei vergleichbarer Beschäftigung erhöhen. Die Gefahr des Eintritts der BK bei Fortsetzung der bisher ausgeübten Tätigkeit wird dann häufig zu bejahen sein (vgl. Mehrtens/Perlebach, a.a.O. Rdn. 2.2). Dabei reicht allerdings die generelle Gefahr, durch bestimmte schädigende Einwirkungen, die zur Aufnahme in die BK-Liste geführt haben, nicht aus, um ein Tätigwerden des Versicherungsträgers bzw. Leistungen nach § 3 BKV beanspruchen zu können. Erforderlich ist vielmehr, dass der Versicherte über die generelle Gefahr hinaus den besonderen schädigenden Einwirkungen durch seine Arbeit ausgesetzt ist und deswegen unter einer in zeitlich zunehmendem Maße anwachsenden, konkreten, individuellen Gefahr steht, an einer BK zu erkranken (vgl. BSG, Urteil vom 16.03.1995 - 2 RU 18/94 - = HV-Info 1995, 1505; Mehrtens/Perlebach a.a.O. Rdnr. 2.5). Notwendig ist danach, dass ein Risiko einer Schädigung für den Versicherten besteht, das über den Grad hinausgeht, der bei anderen Versicherten in vergleichbarer Beschäftigung besteht. Das bedeutet, dass der individuelle Gesundheitszustand des Versicherten den Anknüpfungspunkt für die Anwendung des § 3 Abs. 1 BKV bildet.

Hiervon ausgehend kann auch in diesem Zusammenhang offenbleiben, ob zu irgend einem Zeitpunkt beim Kläger eine BK nach Nr. 2110 der Anlage zur BKV vorlag. Zwar war der Kläger während seiner Tätigkeit als Baumaschinist nach den vorgelegten Stellungnahmen des TAD und auch der Einschätzung von Prof. Dr. G1 ... schädigenden Einwirkungen ausgesetzt, die grundsätzlich zu einer BK nach Nr. 2110 der Anlage zur BKV führen können. Die medizinische Beweisaufnahme hat auch ergeben, dass eine bandscheibenbedingte Erkrankung der LWS beim Kläger bestand. Nach dem Bericht der Radiologischen Gemeinschaftspraxis Dr. A1 ... / DM G2 ... vom 24.4.1995 ergab die computertomographische Untersuchung Protrusionen im Bereich L 4 / L 5 sowie L 5 S 1 (SG-Akten Bl. 55) Ob sie auch berufsbedingt entstanden war, kommt für die Bejahung der Voraussetzungen von § 3 BKV nicht an, da nach den vorliegenden Befunden jedenfalls für den Kläger aufgrund seines konkreten Gesundheitszustandes die Gefahr der Entstehung einer BK - in der Form der Verschlimmerung eines (u.U. berufsunabhängig entstandenen) Leidens - bestand. Es liegt auf der Hand und ist ärztlich bestätigt, dass bei einem derartigen Befund - unabhängig vom erreichten Alter - eine weitere mehrjährige Berufstätigkeit als Baumaschinist ausgeschlossen war.

Die Kritik von Dr.M1 ... am Gutachten von Prof. Dr. G1 ... überzeugt den Senat, nicht dagegen die Kritik der Beklagten an den Ausführungen Dr.M1 ... Die Feststellung von Prof. G1 ..., beim Kläger zeige sich das typische Bild eines allgemeinen degenerativen Verschleißprozesses wird den erhobenen - insbesondere auch den Röntgenbefunden - nicht gerecht. Wenn sich bei einem im Jahre 1941 geborenen Mann im Jahre 1999 teilweise "beginnende" Kantenausziehungen im BWS- Bereich finden, so besagt dies nichts über eine generalisierte WS-Erkrankung. Auch der Röntgenbefund aus dem Jahre 1993 (Bericht DM Z1 ... v. 4.10.1995) zeigt weitestgehend normale Verhältnisse. Es wird lediglich eine "diskrete" Spondylosis deformans beschrieben. Ein Jahr später ergibt eine Aufnahme der HWS annähernd regelrechte Konturen und Strukturen (SG-Akte Bl. 51). Dagegen ergab der erwähnte CT-Befund vom 24.4.1995 Protrusionen im Bereich L 4 / L 5 und L 5 / S 1 (Radiologie Dr. G2 ... , SG-Akte Bl. 55). Wenn dann die genauere Sichtung der LWS-Aufnahmen durch Dr.M1 ... eine Höhenminderung des Zwischenwirbelraumes zwischen L 4 und L 5 findet, dann lässt sich an der Tatsache einer zu diesem Zeitpunkt beim Kläger bestehenden Bandscheibenerkrankung im LWS-Bereich nicht zweifeln. Damit aber war der Kläger nicht etwa bloß abstrakt wie jedermann gefährdet, der eine Tätigkeit als Baumaschinist ausübt, sondern konkret und individuell aufgrund seines bereits ausgeprägten Bandscheibenleidens. Diese Tätigkeit war ihm nicht länger zuzumuten, wie DM Z1 ... und Dr.M1 ... übereinstimmend feststellten. Die Gefahr der berufsbedingten Verschlimmerung dieses Zustandes ist offenkundig. Dr.M1 ... hat dies sachverständig dem Senat gegenüber bestätigt. Wenn Dr. M1 ... eine konkrete Gefahr für das Entstehen einer BK nach Nr. 2110 der Anlage zur BKV beim Kläger bejaht, so überzeugt diese Risikoprognose.

Der Kläger hat auch allein wegen seines LWS-Leidens seine bisherige Tätigkeit als Baumaschinist aufgegeben; er ist seit Oktober 1996 arbeitslos. Die Bewertung von DM Z1 ..., dass der Kläger seine Tätigkeit als Baumaschinist nicht länger ausüben könne, stammt vom 4.10.1995, also noch vor Ende des Verwaltungsverfahrens, das erst mit dem Widerspruchsbescheid vom 6.12.1995 beendet wurde, der die Entscheidung der Beklagten vom 19.7.1995 bestätigte, wonach dem Kläger Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung aufgrund [seiner] Wirbelsäulenbeschwerden nicht gewährt" würden, worunter auch die Ablehnung einer Leistung nach § 3 BKV zählt, deren Voraussetzungen von Amts wegen zu prüfen ist. Wenn der Kläger beantragt hat, seine Berufskrankheit zu berenten", dann liegt darin auch das Minus einer Leistung nach § 3 BKV.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG; die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision (§ 160 SGG) liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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