L 2 U 161/03 LW

Land
Freistaat Sachsen
Sozialgericht
Sächsisches LSG
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
2
1. Instanz
SG Chemnitz (FSS)
Aktenzeichen
S 8 U 100/02 LW
Datum
2. Instanz
Sächsisches LSG
Aktenzeichen
L 2 U 161/03 LW
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Chemnitz vom 29. Oktober 2003 wird mit der Maßgabe zurückgewiesen, dass beim Kläger eine Berufskrankheit nach Nr. 2110 der Anlage zur Berufskrankheiten-Verordnung vorliegt.
II. Die Beklagte trägt auch die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers für das Berufungsverfahren.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten darüber, ob es sich bei dem Wirbelsäulenleiden des Klägers um eine Berufskrankheit (BK) handelt.

Der am ... geborene Kläger erlernte vom 01.09.1966 bis 31.08.1969 den Beruf des Agrotechnikers und arbeitete bis 30.11.1969 in diesem Beruf. Danach war er vom 01.12.1969 bis 31.08.1972 als Soldat auf Zeit tätig, bevor er vom 18.09.1972 bis 22.10.1995 als Traktorist in verschiedenen landwirtschaftlichen Betrieben beschäftigt war. Nach dem Bezug von Krankengeld im Zeitraum vom 23.10.1995 bis März 1997 erhält er seither Leistungen des Arbeitsamtes (ab 01.01.2004: Arbeitsagentur).

Nach der Expositionsanalyse des Technischen Aufsichtsdienstes der Beklagten (TAD) vom 08.12.2000 habe der Kläger bereits als 15-Jähriger täglich vor und nach der Lehrausbildung bei seinem Verwandten Gogolin in der privaten Landwirtschaft, die 20 ha Land und 12 Kühe umfasst habe, mitgearbeitet. So habe er Ställe ausmisten, die Tiere füttern, Kartoffeln legen, Körbe tragen, an der Getreide- und Kartoffelernte teilnehmen sowie Getreide dreschen müssen. Ein regelmäßiges Heben und Tragen von Lasten über 25 kg habe jedoch zu keinem Zeitpunkt seines Berufslebens vorgelegen. Ebenso hätten die arbeitstechnischen Voraussetzungen einer BK nach Nr. 2109 der Anlage zur Berufskrankheiten-Verordnung (im Folgenden: BK-Nr. 2109 BKV) zu keinem Zeitpunkt vorgelegen. Der Kläger sei jedoch während seiner Tätigkeit in der Landwirtschaft über einen Zeitraum von ca. 187 Monaten hinweg erheblichen Belastungen durch Ganzkörperschwingungen ausgesetzt gewesen. Daher sei die haftungsbegründende Kausalität für eine BK-Nr. 2110 BKV gegeben.

Der Kläger gibt an, er leide seit etwa dem 17. Lebensjahr unter belastungsabhängigen Schmerzen im Bereich der Lendenwirbelsäule (LWS) und später auch der Halswirbelsäule (HWS). Ärztliche Behandlungen erfolgten deswegen ausweislich seiner Sozialversicherungsausweise jedoch nicht. In der ersten Hälfte der 90er Jahre nahmen die Wirbelsäulenbeschwerden, die zunächst insbesondere den Bereich des Übergangs von der unteren Brustwirbelsäule (BWS) zur oberen LWS betrafen, in ihrer Intensität zu und führten im Mai 1993 zu einer (ersten) Arbeitsunfähigkeitschreibung für 10 Tage wegen "BWS-Zerrung". In einem Arztbericht vom 13.12.1994 stellte der Orthopäde Dr. F ... die Diagnose "Funktionsstörung des thorako-lumbalen Übergangs bei Zustand nach Morbus Scheuermann mit sekundärer Osteochondrose der unteren BWS. Pseudoradikuläres thorakales Schmerzsyndrom". Der Röntgenbefund der LWS vom 12.12.1994 wurde wie folgt beschrieben: "WS gerade. Osteochondrose L4/5 und D12/L1 mit ventralen Spondylophyten der Finalplatten. Spongiosastruktur und Transparenz sind regelrecht. ZWR nicht höhengemindert." Im Befundbericht vom 20.03.1996 berichtete der Allgemeinmediziner M ... von seit Ende 1994 bestehenden zunehmenden Lumboischialgien sowie einem Zervikalsyndrom.

Am 22.10.1995 kam es bei der Arbeit durch das Tragen von Sandsäcken zu einer akuten Schmerzattacke in der Wirbelsäule und den Beinen verbunden mit Schwäche und Schüttelfrost. Ab dem Folgetag, dem 23.10.1995, war der Kläger dauernd bis 21.04.1997 arbeitsunfähig geschrieben. Das Ergebnis der Kernspintomographie (MRT) vom 21.10.1996 beurteilte der Radiologe Dr. R ... wie folgt: "Umlaufende BS-Protrusionen in Höhe L5/S1 mit erheblicher Bedrängung des intraforaminalen Wurzelverlaufs L5, insbesondere links, geringe Dilatierung auch der Wurzel L5 rechts. Zugleich Tangierung der Wurzel S1 links im Wurzelursprung. Mediane Protrusion in Höhe L4/5 mit Pelottierung des Duralschlauches. Facettenarthrosen in der caudalen LWS." Am 29.11.1996 unterzog sich der Kläger einer laserchirurgischen Bandscheibenoperation bei Prof. Dr. H ... in M ... Dadurch konnten seine Beschwerden erheblich gebessert, jedoch nicht völlig beseitigt werden.

Mit Schreiben vom 01.11.1997 wandte sich der Kläger an die Beklagte und beantragte, sein Wirbelsäulenleiden als BK anzuerkennen. Er habe fast 30 Jahre in der Landwirtschaft gearbeitet und leide unter einem doppelten Bandscheibenvorfall.

Die Beklagte zog die Akten der LVA Sachsen bei, in der sich - Befundberichte des Allgemeinmediziners K ... vom 20.03.1996 und 03.12.1996 (in denen seit Ende 1994 zunehmende Lumboischialgien links betont und Zervikalsyndrome, ferner ein chronisches lumbales Schmerzsyndrom mit Pseudoradikulärsyndrom links bei Bandscheibenprotrusion L5/S1 ausgewiesen wurden), - der Entlassungsbericht der Rehabilitationsklinik B ... vom 06.08.1996 (chronisches lumbales Schmerzsyndrom mit pseudoradikulärer Ausstrahlung nach links bei Funktionsstörung im linken Illeosakralgelenk, Zervikobrachialsyndrom), - das Gutachten von Dr. Sch ... vom 14.01.1997 (Zustand nach operiertem Bandscheibenschaden im Bereich der LWS, Skoliose der WS, Gonarthrose), - ein Arztbrief des Neurologen und Psychiaters L ... vom 17.09.1996 (Radikulärsyndrom L5 und S1 links), - ein Befundbericht des Orthopäden F ... vom 05.11.1996 und 28.08.1996 (Bandscheibenprotrusion L5/S1 mit erheblicher Bedrängung des intraforaminalen Wurzelverlaufs L5, Protrusion L4/5), - ein Arztbrief des Radiologen H ... vom 28.08.1996 (medianer Bandscheibenprolaps L4/5; Protrusion der Bandscheibe L5/S1), - ein Befundbericht der Orthopäden L ... und P ... vom 26.02.1996 und - ein Arztbrief des Orthopäden Prof. Dr. H ... vom 30.11.1996 (Operation am 29.11.1996; postoperatives Lasègue-Zeichen sofort 70° rechts und 50° links) befanden.

In den Stellungnahmen vom 07.04.1999 stellte die Gewerbeärztin G ... fest, zwar liege keine Expositionsanalyse des TAD vor, aus den Erfahrungen an vergleichbaren Arbeitsplätzen sei jedoch bei 23-jähriger Tätigkeit des Versicherten als Traktorist von einer ausreichenden Belastung mit grenzüberschreitenden Ganzkörpervibrationen in Sitzhaltung auszugehen. Die haftungsbegründende Kausalität für eine BK-Nr. 2110 BKV sei daher gegeben. Jedoch liege die haftungsausfüllende Kausalität sowohl für eine BK-Nr. 2110 BKV als auch für eine BK-Nr. 2108 BKV nicht vor. Gegen eine berufsbedingte Verursachung des Wirbelsäulenleidens sprächen das Betroffensein auch nicht wesentlich beruflich belasteter Abschnitte des Skelettsystems (HWS, BWS, Knie- und Hüftgelenke), das Vorliegen einer Scheuermannschen Erkrankung, einer Skoliose und einer verstärkten Brustkyphose sowie eine Erniedrigung lediglich des Zwischenwirbelraums L5/S1. Sie empfahl, die BK-Nrn. 2110 und 2108 BKV ohne weitere Ermittlungen und ohne gutachterliche Untersuchung abzulehnen. Für eine BK-Nr. 2109 BKV sei bereits die haftungsbegründende Kausalität zu verneinen.

Die Beklagte lehnte mit Bescheid vom 20.07.2000 das Vorliegen einer BK der Wirbelsäule nach den Nummern 2108 bis 2110 BKV sowie einer BK-Nr. 2102 BKV und bezüglich der Hüfterkrankung eine Anerkennung wie eine BK ab. Für eine BK-Nr. 2108 und 2109 BKV lägen bereits die arbeitstechnischen Voraussetzungen nicht vor. Zwar seien diese für die BK-Nr. 2110 BKV gegeben, weil der Kläger langjährig unter grenzüberschreitenden Ganzkörpervibrationen in Sitzhaltung gearbeitet habe, jedoch liege bezüglich dieser BK die haftungsausfüllende Kausalität nicht vor. Die Beklagte stütze sich diesbezüglich auf die von der Gewerbeärztin formulierten Argumente.

Auf den Widerspruch des Klägers beauftragte sie Medizinalrat Dr. O ... mit der Erstellung eines Gutachtens. Aufgrund der ambulanten Untersuchung am 15.02.2001 kam Dr. O ... im Gutachten vom 19.02.2001 zu dem Ergebnis, eine BK-Nr. 2110 BKV sei wegen der starken degenerativen Veränderungen in den Segmenten C5/6 und Th12/L1 sowie der im Bereich der BWS vorhandenen Dysostose (Reifungsstörung Morbus Scheuermann) abzulehnen. Zudem leide der Kläger etwa seit dem 17. Jahr unter belastungsabhängigen Schmerzen der LWS und HWS. Diesem Urteil schloss sich die Gewerbeärztin in ihren Stellungnahmen vom 22.03.2001 an. Am 10.04.2002 erließ die Beklagte einen ablehnenden Widerspruchsbescheid.

Mit seiner am 17.04.2002 beim Sozialgericht Chemnitz (SG) eingelegten Klage hat der Kläger sein Begehren weiter verfolgt. Das SG hat zunächst die für das Arbeitsamt und die Krankenkasse gefertigten Gutachten beigezogen und einen Befundbericht von Dr. K ... eingeholt. In dem für das Arbeitsamt gefertigten Gutachten vom 04.06.1997 hat die Arbeitsmedizinerin E ... einen Zustand nach operiertem Bandscheibenschaden im Bereich der LWS, eine Wirbelsäulenverkrümmung und einen Verschleißprozess im linken Kniegelenk ohne Funktionseinschränkungen diagnostiziert. In dem für die Krankenkasse erstellten Gutachten vom 19.02.1996 hat Dr. v ... K ... eine links betonte chronische Lumboischialgie bei nachweisbarer Osteochondrose und Spondylose bei Morbus Scheuermann, eine Kyphosierung sowie eine deutliche Skoliose der BWS bei einem Lasègue-Zeichen links von 10° diagnostiziert. Der Allgemeinmediziner K ... hat im Befundbericht vom 29.11.2002 ein chronisches rezidivierendes vertebragenes Schmerzsyndrom festgestellt.

Im auf Veranlassung des SG nach ambulanter Untersuchung am 14.05.2003 am 30.05.2003 erstellten Gutachten hat Dr. P ..., Oberarzt an der Orthopädischen Klinik des Krankenhauses D ...-F ..., degenerative Veränderungen des thorakolumbalen Übergangs und der unteren LWS, einen Morbus Scheuermann, eine deutlich verstärkte Kyphosierung der BWS mit Einbeziehung der oberen LWS und eine links-rechtskonvexe Skoliose diagnostiziert. Das Lasègue-Zeichen sei negativ. Beim Kläger sei eine bandscheibenbedingte Erkrankung der Wirbelsäule gegeben. Die 23-jährige Exposition der vorgeschädigten BWS und LWS sei mit Wahrscheinlichkeit eine Teilursache des Bandscheibenschadens. Auch seien die Scheuermannsche Erkrankung der BWS und LWS sowie der Rundrücken und die Skoliose an der Entstehung des Gesundheitszustandes ursächlich beteiligt. Er neige dazu, diese Vorschädigung als überwiegende Teilursache für die bandscheibenbedingte Erkrankung des Klägers im Bereich seiner LWS anzunehmen. Aber auch die festgestellte 23-jährige Exposition der vorgeschädigten BWS und LWS durch die starke Ganzkörpervibration sei mit Wahrscheinlichkeit für diese Bandscheibenschäden teilursächlich gewesen. Seit der Stabilisierung der Folgen der Laser-Operation zweier Bandscheiben, spätestens ab 01.01.1997, liege keine Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) in rentenberechtigendem Umfang mehr vor.

Das SG hat mit Urteil vom 29.10.2003 den Bescheid der Beklagten vom 20.07.2000 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10.04.2002 aufgehoben und festgestellt, dass die bandscheibenbedingte Erkrankung des Klägers im Bereich der LWS eine Berufskrankheit sei, und im Übrigen die Klage abgewiesen. Die trotz der Bandscheiben-Operation vom 30.11.1996 fortbestehende schmerzhafte Funktionseinschränkung im Bereich der LWS sei Folge einer Berufskrankheit. Der Kläger sei während seines gesamten Berufslebens von 1972 bis 22.10.1995 der Einwirkung von Ganzkörperschwingungen im Sitzen ausgesetzt gewesen. Zusätzlich habe er nach seinen glaubhaften Angaben in unregelmäßigem Umfang (saisonbedingt) auch häufig schwere Lasten heben und tragen müssen, z.B. Sand- oder Futtersäcke. Zu beachten sei zudem, dass der Kläger besonders in den letzten Jahren seiner Erwerbstätigkeit in erheblichem Umfang Überstunden habe ableisten müssen. Die bandscheibenbedingte Erkrankung bestehe in dem seit 1995 vorhandenen Austreten des Bandscheibengewebes im Bereich der beiden untersten LWS-Segmente aus dem Wirbelkörperzwischenraum und der damit verbundenen Reizung von Nervengewebe. Hierdurch sei die Operation vom 30.11.1996 notwendig geworden. Die beim Kläger auch nach der Operation fortbestehenden Beschwerden seien Folge der durch diese Bandscheibenschäden und die Operation hervorgerufenen anatomischen Veränderungen. Die bandscheibenbedingte Erkrankung des Klägers sei rechtlich wesentlich durch die berufliche Belastung des Klägers verursacht. Zwar liege beim Kläger eine anlagebedingte Wirbelsäulenveränderung im Sinne des Morbus Scheuermann vor. Jedoch sei der Nachweis einer Scheuermannschen Erkrankung kein Ausschluss-, sondern lediglich ein Abwägungskriterium. Dies folge bereits aus dem Grundsatz, dass jeder Versicherte in dem Zustand in der gesetzlichen Unfallversicherung versichert sei, in dem er sich bei Aufnahme der Tätigkeit befunden habe. Die Kammer schließe sich der Einschätzung des Sachverständigen Dr. P ... an, wonach die berufliche Belastung des Klägers mit Wahrscheinlichkeit eine Teilursache für dessen bandscheibenbedingte Erkrankung im Bereich der LWS darstelle, die nicht von so untergeordneter Bedeutung für die Entstehung sei, dass sie als rechtlich unwesentlich betrachtet werden könne. Zwar seien am Achsenorgan des Klägers in erheblichem Umfang typische Veränderungen im Sinne einer Scheuermannschen Erkrankung festzustellen. Auch seien erste Beschwerden bereits in der Lehrzeit aufgetreten. Andererseits sei das Ausmaß der beruflichen Belastung der LWS des Klägers durch Ganzkörperschwingungen aber auch durch Heben und Tragen schwerer Lasten keineswegs als grenzwertig anzusehen. Die Erkrankung sei an den beiden untersten LWS-Segmenten im Oktober 1995 erstmalig nachweisbar aufgetreten. Noch ausweislich des Arztberichtes vom 13.12.1994 habe der Kläger an einer Funktionsstörung lediglich des Übergangs zwischen LWS und BWS gelitten, die allein Folge der Scheuermannschen Erkrankung sei. An der unteren LWS, die typischerweise durch die beruflichen Einwirkungen in besonderem Maße gefährdet sei, sei zum damaligen Zeitpunkt noch kein krankheitswertiger Befund erhoben worden. Erhebliche Beschwerden hätten damals nicht bestanden. Dies zeigten fehlende Arbeitsunfähigkeitszeiten. Die Zwischenwirbelräume seien nicht höhengemindert gewesen. Da die untere LWS trotz der Schadensanlage in Form des Morbus Scheuermann am Übergang zwischen LWS und BWS den beruflichen Einwirkungen deutlich über 20 Jahre standgehalten habe, ohne dass sich dort eine bandscheibenbedingte Erkrankung entwickelt habe, könne die berufliche Belastung nicht als rechtlich unwesentliche Ursache für die Erkrankung bewertet werden. Es sei zur Vorwölbung zweier Bandscheiben gekommen. Darüber hinaus hätten sich zwischen dem 4. LWK und dem Kreuzbein belastungsadaptive Reaktionen in Form von Sklerosierung der Grund- und Deckplatten (Osteochondrose) sowie knöchernen Anbauten (Spondylosis deformans) entwickelt. Diese zeigten, dass hier langzeitige degenerative Prozesse an den Bandscheiben abgelaufen seien, die bis zum Oktober 1995 klinisch stumm, also ohne Krankheitswert, geblieben seien und zu diesem Zeitpunkt in einen akuten, dann chronischen, Krankheitsprozess eingemündet seien. Zwar fänden sich auch an anderen Bereichen der Wirbelsäule Umbauprozesse. Das altersübliche Maß wesentlich überschreitende Bandscheibenschädigungen seien jedoch ansonsten lediglich am Segment C5/C6 zu finden. Der Kläger sei schließlich ab dem 23.10.1995 aufgrund der bandscheibenbedingten Erkrankung dauerhaft gezwungen gewesen, seine bandscheibenbelastende Tätigkeit aufzugeben. Da an der LWS des Klägers lediglich verhältnismäßig geringfügige Funktionseinschränkungen erhoben werden könnten, bestehe ein Rentenanspruch derzeit nicht.

Die Beklagte hat gegen das ihr ausweislich des Empfangsbekenntnisses am 26.11.2003 zugestellte Urteil am 17.12.2003 Berufung eingelegt. Bezüglich des für die nachgewiesene berufliche Belastung charakteristischen Schadensbildes sei den Ausführungen des SG nicht zu folgen. Das Schadensbild an der unteren LWS lasse sich nicht deutlich vom Schadensbild im Bereich der HWS und BWS abgrenzen. So führe Dr. O ... in seinem Gutachten hinsichtlich der Röntgenbefunde aus, dass sich an der HWS eine hochgradige Verschmälerung des Bandscheibenabstandes C5/6 mit fortgeschrittener Spondylarthrose sowie Spondylosis deformans finde. Im Bereich der BWS zeige sich eine erhebliche Osteoporose, eine verstärkte Kyphose mit Keilform der im Kyphosescheitelpunkt gelegenen BWK sowie eine stark wellige Konturierung der Grund- und Deckflächen mit leichter bis mäßiggradiger spondylotischer Kantenreaktion im mittleren/unteren Abschnitt. Im Bereich der LWS sei eine leichte Osteoporose, eine verstärkte Lordose, mäßiggradige spondylotische Kantenreaktionen an L4 und L5, eine starke Verschmälerung des Bandscheibenabstandes im Segment Th12/L1 mit fortgeschrittener Spondylosis deformans vorhanden. Auch Dr. P ... führe in seinem Gutachten vom 30.05.2003 aus, im Bereich der unteren HWS zeige sich eine Spondylose, im Bereich der BWS eine Fehlform bei Zustand nach Morbus Scheuermann mit leichten degenerativen Veränderungen und schließlich im Bereich der LWS ein Zustand nach Morbus Scheuermann sowie degenerativen Veränderungen des thorakolumbalen Übergangs und der unteren LWS. Im Ergebnis seien alle drei Abschnitte der Wirbelsäule des Klägers geschädigt. Insbesondere liege jedoch ein Morbus Scheuermann vor. Dr. P ... führe aus, dass neben den deutlichen Zeichen an BWS und LWS auch die Formveränderung des 6. HWK mit Abnutzung des Bandscheiben-Segments C5/C6 auf die Scheuermannsche Erkrankung zurückgehen könne. Das Argument der späten Manifestation der bandscheibenbedingten Erkrankung beim Kläger im Oktober 1995 wiege nicht in dem Maße, wie es das SG ausgeführt habe, denn zum einen habe der Kläger bereits in der Lehrzeit Beschwerden an der Wirbelsäule gehabt. Zum anderen sei die zeitliche Manifestation gerade von Erkrankungen der Wirbelsäule eher zufällig. Sie könnten lange klinisch stumm bleiben.

Auf Veranlassung des Senats hat sich Dr. P ... am 16.06.2004 ergänzend dahin geäußert, die berufliche Einwirkung einer 23-jährigen Tätigkeit als Traktorist mit Ganzkörperschwingungen und das beruflich veranlasste Heben und Tragen von Lasten stelle mit überwiegender Wahrscheinlichkeit eine wesentliche Teilursache für die beim Kläger vorliegende bandscheibenbedingte Erkrankung dar. Die berufsfremde Ursache für die Schädigung der Wirbelsäule (Morbus Scheuermann) sei nicht die alleinige wesentliche Ursache für den vorhandenen Wirbelsäulenschaden. Vielmehr sei dieser durch das Zusammentreffen von verminderter konstitutioneller Belastbarkeit und hoher beruflicher Belastung verursacht worden. Die Schadensanlage in Form des Morbus Scheuermann sei nicht so stark ausgeprägt gewesen, dass die bandscheibenbedingte Erkrankung ohne die langjährige berufliche Belastung in dem vorhandenen Ausmaß aufgetreten wäre. Zwar habe der Kläger am 22.10.1995 schwere Säcke getragen. Es seien hiernach eine Schwäche und ein Schüttelfrost eingetreten. Die Einwirkungen durch die Ganzkörperschwingungen seien aber dennoch als wesentliche Teilursache für den Eintritt des Gesundheitsschadens an den beiden unteren LWS-Segmenten anzusehen. So seien bereits 1993 schwere Wirbelsäulenschädigungen dokumentiert. Auch wisse er aus seiner Erfahrung, dass orthopädische Erkrankungen bei Auftreten zusätzlicher Infektionskrankheiten gelegentlich nicht mehr "dekompensiert" werden könnten und stärker manifest würden.

Auf Nachfrage des Senats hat der Kläger mit Schreiben vom Juni 2004 angegeben, er habe bereits seit dem 17. Lebensjahr unter belastungsabhängigen Beschwerden der LWS gelitten und Kopien der medizinischen Teile seiner Sozialversicherungsausweise übersandt.

In der mündlichen Verhandlung vom 30.07.2004 hat die Beklagtenvertreterin die Auffassung vertreten, in der ergänzenden Stellungnahme von Dr. P ... vom 16.06.2004 stünden die Antworten auf Fragen 1 bis 3 in Widerspruch zum letzten Satz der Antwort auf Frage 4.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des SG Chemnitz vom 29.10.2003 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er erachtet das erstinstanzliche Urteil für zutreffend.

Dem Senat liegen die Verfahrensakten beider Instanzen sowie die Verwaltungsakte der Beklagten vor.

Entscheidungsgründe:

Die statthafte (§§ 143, 144 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz - SGG -) sowie form- und fristgerecht eingelegte Berufung (§ 151 SGG) ist zulässig, in der Sache jedoch nicht begründet. Zu Recht hat das SG Chemnitz mit Urteil vom 29.10.2003 den Bescheid der Beklagten vom 20.07.2000 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10.04.2002 aufgehoben und festgestellt, dass die bandscheibenbedingte Erkrankung des Klägers im Bereich der LWS eine Berufskrankheit darstellt und im Übrigen die Klage abgewiesen.

Da der Kläger gegen dieses Urteil keine Berufung eingelegt hat, ist Prüfungsgegenstand im Berufungsverfahren lediglich die Frage, ob die beim Kläger vorliegende bandscheibenbedingte Erkrankung der unteren LWS-Segmente eine Berufskrankheit darstellt, nicht jedoch, ob und ggf. ab welchem Zeitpunkt dem Kläger deshalb eine Verletztenrente zusteht.

Beim Kläger liegt der Versicherungsfall einer Berufskrankheit nach Nr. 2110 der Anlage zur Berufskrankheiten-Verordnung vor. Bandscheiben-Vorfälle des Klägers an den Segmenten L4/L5 und L5/S1 sowie die nach der Operation fortbestehenden Beschwerden an diesen Segmenten sind Folge dieser Berufskrankheit.

Vorliegend ist die BK-Nr. 2110 BKV in Verbindung mit § 551 Abs. 2 Reichsversicherungsordnung (RVO) maßgeblich, weil der Versicherungsfall am 22.10.1995, mithin vor dem 01.01.1997 und damit noch unter Geltung der RVO, eingetreten ist.

Eingetreten ist der Versicherungsfall einer Berufskrankheit zu dem Zeitpunkt, zu dem sich die Gefährdungen realisiert haben, vor denen die gesetzliche Unfallversicherung Schutz gewähren soll, somit zu dem Zeitpunkt des Eintritts des Gesundheitsschadens, der die gesetzlichen Tatbestandsmerkmale einer Berufskrankheit erfüllt (Mehrtens/Perlebach, Die Berufskrankheiten-Verordnung, Kommentar, Stand: Januar 2004, § 9 Rn. 42). Diese sind gegeben, wenn die schädigende Einwirkung einen regelwidrigen Körper- oder Geisteszustand verursacht hat, der die Krankheitsmerkmale eines Berufskrankheiten-Tatbestandes erfüllt und wenn gegebenenfalls erforderliche besondere Merkmale, insbesondere die Unterlassung aller gefährdenden Tätigkeiten, vorliegen (Bereiter-Hahn/Mehrtens, Gesetzliche Unfallversicherung, Stand: Juni 2004, Rn. 7 zu § 9).

Das Merkmal des Unterlassens aller gefährdenden Tätigkeiten setzt in der Regel voraus, dass die Tätigkeit, die zu einer Erkrankung geführt hat, aus arbeitsmedizinischen Gründen nicht mehr ausgeübt werden soll und dass der Versicherte die schädigende Tätigkeit und solche Tätigkeiten, die für die Entstehung, die Verschlimmerung oder das Wiederaufleben der Krankheit ursächlich sein können, tatsächlich objektiv aufgegeben hat, wobei es auf das Motiv des Versicherten nicht ankommt. Zu berücksichtigen ist des Weiteren, dass das Merkmal der Aufgabe der belastenden Tätigkeit erst dann erfüllt ist, wenn alle belastenden Tätigkeiten in vollem Maße aufgegeben worden sind (Bundessozialgericht - BSG -, Urteil vom 22.06.2000, Az.: B 2 U 34/99 R).

Der Kläger hat die gefährdende Tätigkeit am 23.10.1995 völlig aufgegeben. Ab diesem Zeitpunkt war er arbeitsunfähig erkrankt und hat hiernach auch nicht wieder eine wirbelsäulenbelastende Tätigkeit ausgeübt, so dass als Zeitpunkt des Eintritts des Versicherungsfalls nur der 23.10.1995 in Betracht kommt.

Eine Berufskrankheit nach BK-Nr. 2110 BKV liegt vor, wenn der Versicherte an einer bandscheibenbedingten Erkrankung der LWS leidet, die durch langjährige vorwiegend vertikale Einwirkung von Ganzkörperschwingungen im Sitzen verursacht worden ist, und der Versicherte durch die Erkrankung gezwungen wird, alle Tätigkeiten zu unterlassen, die ursächlich für die Entstehung oder die Verschlimmerung dieser Erkrankung waren oder noch sein können.

Für das Vorliegen des Tatbestands der Berufskrankheit ist ein ursächlicher Zusammenhang zwischen der versicherten Tätigkeit und der schädigenden Einwirkung einerseits (so genannte haftungsbegründende Kausalität) und zwischen der schädigenden Tätigkeit und der Erkrankung andererseits (so genannte haftungsausfüllende Kausalität) erforderlich. Dabei müssen die Krankheit, die versicherte Tätigkeit und die durch sie bedingten schädigenden Einwirkungen einschließlich deren Art und Ausmaß im Sinne des Vollbeweises, also mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, nachgewiesen werden, während für den ursächlichen Zusammenhang als Voraussetzung der Entschädigungspflicht, der nach der auch sonst im Sozialrecht geltenden Lehre von der wesentlichen Bedingung zu bestimmen ist, grundsätzlich die (hinreichende) Wahrscheinlichkeit - nicht allerdings die bloße Möglichkeit - ausreicht (vgl. BSG, Urteil vom 22.08.2000, Az. B 2 U 34/99 R).

Die Feststellungen des Technischen Aufsichtsdienstes (TAD) haben ergeben, dass die Voraussetzung einer langjährigen vorwiegend vertikalen Einwirkung von Ganzkörperschwingungen im Sitzen im Sinne der BK-Nr. 2110 BKV beim Kläger erfüllt ist. Aufgrund der Ermittlungen des TAD, der Angaben des Klägers und ergänzend auch der Einschätzungen von Dr. P ... und Medizinalrat Dr. O ... in ihren Gutachten ist der Senat voll davon überzeugt, dass der Kläger langjährig vorwiegend vertikalen Einwirkungen von Ganzkörperschwingungen im Sitzen ausgesetzt war und die Dosis im als gesundheitsgefährdend anzusehenden Bereich liegt. Ernsthafte Gesichtspunkte, die hiergegen sprechen könnten, sind nicht ersichtlich und von der Beklagten auch nicht dargetan worden. Daneben hat der Kläger nach der Einschätzung des TAD und den Ausführungen im Gutachten von Dr. P ... auch gelegentlich schwer gehoben und getragen.

Der Kläger leidet an einer bandscheibenbedingten Erkrankung der LWS. Dies steht aufgrund der gutachterlichen Ausführungen von Dr. P ... und Medizinalrat Dr. O ... sowie den vom Allgemeinmediziner K ..., der Rehabilitationsklinik B ..., Dr. Sch ..., dem Neurologen L ..., dem Orthopäden F ..., dem Radiologen H ..., dem Orthopäden Prof. Dr. H ... und dem Radiologen R ... erhobenen Befunden zur vollen Überzeugung des Senats fest. Hiernach erlitt der Kläger Bandscheibenprotrusionen an den Segmenten L4/L5 und L5/S1, die seit 1995 zu akuten Wurzelreizerscheinungen und zu einer dauerhaften Arbeitsunfähigkeit ab 23.10.1995 führten und auch nach der Bandscheiben-Operation vom 29.11.1996 anatomische Veränderungen in diesem Bereich nach sich zogen. Alle Sachverständigen gehen davon aus, dass der Kläger seit Beginn seiner andauernden Arbeitsunfähigkeit an einer Bandscheibenerkrankung der LWS leidet.

Diese bandscheibenbedingte Erkrankung wurde auch mit Wahrscheinlichkeit durch die berufliche Tätigkeit des Klägers als Traktorist wesentlich (mit) verursacht.

Bandscheibenbedingte Erkrankungen der LWS sind regelmäßig nicht monokausal erklärbar, weil nicht nur berufliche Belastungen auf die LWS einwirken, sondern immer auch eine Disposition (Vulnerabilität) eine Rolle spielen kann. Denn wenn schon unter "normalen" Belastungen des täglichen Lebens bandscheibenbedingte Erkrankungen auftreten, ist immer damit zu rechnen, dass auch Versicherte, die langjährig den in BK-Nr. 2110 BKV genannten Belastungen ausgesetzt sind, zu jenem Personenkreis gehören, dessen Bandscheibengewebe allgemein weniger widerstandsfähig ist. Bei solch kausaler Konkurrenz ist nach der im Sozialrecht geltenden Kausalitätstheorie unter Abwägung des Wertes der einzelnen Bedingungen festzustellen, ob das versicherte Risiko (mit Wahrscheinlichkeit) rechtlich wesentlich zum Erfolg beigetragen hat. Dabei schließt die Mitwirkung (einer oder mehrerer) rechtlich wesentlicher Ursachen aus dem unversicherten Bereich den Versicherungsschutz nicht aus. Das ist nur dann der Fall, wenn solche Umstände rechtlich allein wesentlich sind. Sie müssen die versicherten Umstände überragen oder anders ausgedrückt in den Hintergrund drängen. Rechtlich wesentlich sind die beruflichen Ursachen mithin nicht nur dann, wenn sie im Vergleich zu den übrigen Bedingungen gleichwertig oder annähernd gleichwertig sind, sondern bereits auch dann, wenn sie zwar nicht gleichwertig, aber auch nicht völlig zu vernachlässigen sind. Dabei muss die jeweilige Beziehung zum Erfolg nicht sicher feststehen, sondern nur wahrscheinlich sein. Diese Grundsätze sind auch auf die Kausalitätsbetrachtung von berufsbedingten Bandscheibenerkrankungen der LWS und deren weiteren Folgen anzuwenden (vgl. Urteil des Senats vom 25.10.2002, Az.: L 2 U 41/99). Mit dem SG geht der Senat davon aus, dass der versicherten Tätigkeit des Klägers eine solchermaßen umschriebene wesentliche Bedeutung zukommt, weil den anderen berufskrankheitenunabhängigen Ursachenbeiträgen keine überragende Bedeutung beizumessen ist.

Zwar liegen beim Kläger auch Verschleißerscheinungen an der BWS, HWS und oberen LWS vor. So leidet der Kläger an einer Funktionsstörung im thorakolumbalen Übergang als Folge einer Scheuermannschen Erkrankung mit sekundärer Osteochondrose der unteren BWS und pseudoradikulärer Schmerzsymptomatik. Dies haben übereinstimmend Dr. F ... in seinem Befundbericht vom 13.12.1994 (Bl. 52 Verwaltungsakte), Dr. v ... K ... in seinem für den Medizinischen Dienst der Krankenkasse erstellten Gutachten vom 19.02.1996 (Bl. 76 Verwaltungsakte), MR Dr. O ... in seinem Gutachten (Bl. 116 Verwaltungsakte) und Dr. P ... im Gutachten vom 30.05.2003 (Bl. 68 f. SG-Akte) diagnostiziert.

Daneben besteht beim Kläger entsprechend der übereinstimmenden Feststellungen durch die vorgenannten Ärzte eine verstärkte Kyphose der BWS sowie der oberen LWS und eine leichte Skoliose in diesem Bereich.

Zudem leidet der Kläger an einer Spondylosis deformans am Segment C5/6 mit Osteochondrose und Einengung des Zwischenwirbelraumes sowie einer Verschmälerung des Segments Th12/L1.

Nach Auffassung des Senats ist es nicht zulässig, zu fordern, dass der nicht berufsbedingt exponierte Abschnitt der Wirbelsäule nicht oder nur weniger degenerativ verändert sein darf als der belastete. Häufig wird sich dieser Argumentation bedient, wenn sowohl die LWS als auch die HWS und BWS bandscheibenbedingte Erkrankungen aufweisen. Hierauf stellt auch MR Dr. O ... (Bl. 117 der Beklagtenakte = Bl. 12 des Gutachtens) ab. Diese These ist, wie der Senat bereits mit Urteil vom 25.10.2002 (Az. L 2 U 175/99) entschieden hat, jedoch nicht plausibel. Denn sie würde zum einen nur dann ein verlässliches Ausschlusskriterium darstellen, wenn bandscheibenbedingte Erkrankungen der HWS und BWS auch ohne berufliche Exposition der LWS nahezu immer mit einer bandscheibenbedingten Erkrankung der LWS einhergingen, also nicht isoliert aufträten. Dies ist nirgends belegt. Zudem geht die These, wonach schwerer wiegende Veränderungen im beruflich nicht exponierten HWS-Bereich einen Rückschluss auf die berufsunabhängige Entstehung im beruflich exponierten LWS-Bereich zuließen, von der stillschweigenden Voraussetzung aus, dass das gesamte Bandscheibengewebe im Einzelfall aus ansonsten nicht näher bekannten und vorab erkennbaren Gründen anlagebedingt minderwertig(er) sei. Es handelt sich also um ein indirektes Verfahren. Da aber jede Bandscheibe durch langjährige Einwirkung von Ganzkörpervibrationen im Sitzen belastet wird, aber nicht bei jedem Exponierten eine entsprechende bandscheibenbedingte Erkrankung auftritt, setzt die Entstehung einer Berufskrankheit immer eine - individuell verschiedene - Vulnerabilität gegenüber beruflichen Einwirkungen voraus. Sind die Veränderungen deutlich unterschiedlich und der nicht oder wesentlich geringer exponierte Wirbelsäulenbereich wesentlich stärker degenerativ verändert als der beruflich stark belastete Wirbelsäulenbereich, kann nicht plausibel auf eine generelle Minderbelastbarkeit des Bandscheibengewebes geschlossen werden. Denn dann müssten im exponierten Wirbelsäulenabschnitt erst recht degenerative Veränderungen nachweisbar sein. Bei in etwa gleichwertiger degenerativer Veränderung von HWS, BWS und LWS gilt nichts anderes. Geht man in derartigen Fällen von der These der generalisierten Minderwertigkeit des Bandscheibengewebes aus, müsste der exponierte Wirbelsäulenabschnitt einen stärkeren Befund aufweisen als der nicht exponierte. Sind aber die Bandscheiben der beruflich exponierten LWS noch stärker degenerativ verändert als die Bandscheiben der HWS und BWS, legt dies die Annahme im Einzelfall nahe, dass das Bandscheibengewebe zwar physiologisch minderwertig ist, jedoch die berufliche Exposition gleichwohl eine wesentliche Teilursache darstellt. Daraus folgt, dass ein Vergleich zwischen exponiertem und nicht exponiertem Wirbelsäulenabschnitt nur geeignet ist, einen Kausalzusammenhang unter bestimmten Voraussetzungen zu stützen, nicht jedoch ihn in Zweifel zu ziehen, ohne die eigenen gedanklichen Prämissen zu verletzen.

Das Bandscheibengewebe der Segmente L4/L5 und L5/S1 des Klägers, das nachweisbar erheblich beruflich exponiert war, ist stärker degenerativ verändert als dasjenige der HWS und BWS. Der Kläger erlitt 1995 Bandscheibenvorfälle an diesen Segmenten mit erheblicher Wurzelreizsymptomatik, die operativ behandelt werden mussten. Zwar liegen auch Verschmälerungen der Bandscheibenzwischenräume C5/C6 und Th12/L1 vor, jedoch haben diese bisher nicht zu ähnlichen Symptomen bzw. einer Operationsnotwendigkeit geführt. Es kann daher - wenn man das Differenzargument als gültig ansieht - gefolgert werden, dass gerade die erheblichen beruflichen Belastungen maßgeblich zum vorzeitigen Verschleiß des exponierten Wirbelsäulenabschnitts geführt haben. Das Differenzargument stützt folglich im vorliegenden Fall die Wahrscheinlichkeit des Kausalzusammenhangs.

Beim Kläger liegt eine anlagebedingte Wirbelsäulenerkrankung in Form des Morbus Scheuermann hauptsächlich der BWS, die aber auch in den thorakolumbalen Bereich reicht, vor. Es handelt sich um eine im Jugendalter auftretende Wachstumsstörung an den Grund- und Deckplatten der BWS und/oder der LWS, die zu einer keilförmigen Verformung der Wirbelkörper und einer Kyphose führen kann (Kraemer, Klinikleitfaden Orthopädie, 3. Auflage, S. 506; Pschyrembel, Klinisches Wörterbuch, 259. Auflage, S. 1489 ff.). Beim Kläger liegt eine Keilwirbelbildung am 7., 8., 9. und 12. BWK sowie am 1. LWK und eine Kyphose der BWS und der oberen LWS vor. Daneben finden sich an der Grund- und Deckplatte des 4. LWK und der Grundplatte des 5. LWK Vorderkantendefekte und an letzterem Schmorlsche Knorpelknötchen.

Nicht unbeachtet bleiben kann hierbei, dass die Scheuermannsche Erkrankung sowie die hieraus resultierenden Deformitäten in Form der Kyphose und der Skoliose im Bereich der BWS und des oberen Segments der LWS auftraten. Gleiches gilt für die Verschmälerung an dem Zwischenwirbelraum Th12/L1. Die vom SG als Folge der Berufskrankheit anerkannte bandscheibenbedingte Erkrankung der Lendenwirbelsäule betrifft jedoch einen hiervon abgrenzbaren Bereich der LWS, nämlich die beiden unteren Segmente der LWS.

Mit dem SG ist davon auszugehen, dass bei Vorliegen eines Morbus Scheuermann eine Abwägung der für und gegen einen Kausalzusammenhang zwischen der bandscheibenbedingten Erkrankung der unteren LWS und der Scheuermannschen Erkrankung sprechenden Faktoren zu erfolgen hat. Für eine wesentliche Teilursächlichkeit der beruflichen Belastungen spricht, wenn die bandscheibenbedingte Erkrankung der LWS erst nach einer langjährigen intensiven beruflichen Exposition aufgetreten ist. Gegen einen Ursachenzusammenhang sprechen ausgeprägte radiologische Veränderungen im Sinne eines Morbus Scheuermann, Beschwerden bereits im jugendlichen Alter, eine frühzeitige Erstmanifestation der bandscheibenbedingten Erkrankung der LWS sowie grenzwertige berufliche Belastungen (Mehrtens/Perlebach, a.a.O., M 2108, S. 28 ff.).

Unter Berücksichtigung dieser Kriterien ist mit dem SG eine wesentliche Teilverursachung der oben genannten Schädigung durch die berufliche Belastung anzunehmen. Nach den Einlassungen des Klägers im Verwaltungs- sowie im erstinstanzlichen Verfahren und den Aussagen der behandelnden Ärzte traten 1993 eine erste Arbeitsunfähigkeitsschreibung wegen "BWS-Zerrung" und seit Ende 1994 Beschwerden der LWS auf. Auch in dem für die LVA Sachsen am 10.02.1997 gefertigten in der Verwaltungsakte befindlichen Gutachten ist ein Beginn der Rückenbeschwerden im Jahre 1995 vermerkt. Lediglich im Gutachten von MR Dr. O ... ist erstmals - obwohl unter dem Stichwort "Eigenanamnese" nicht erwähnt - in der zusammenfassenden Beurteilung ausgeführt, dass belastungsabhängige Beschwerden seit dem 17. Lebensjahr bestünden. Auf Nachfrage des Senats hat dies der Kläger im Berufungsverfahren bestätigt. Hierbei hat es sich jedoch um Beschwerden in relativ geringem Ausmaß, die nicht zu Arbeitsunfähigkeitszeiten führten, gehandelt. Auch waren diese nicht behandlungsbedürftig. Folglich traten behandlungsbedürftige Beschwerden erst 23 Jahre nach Beginn der Exposition gegenüber Ganzkörperschwingungen sowie zumindest zeitweiliger zusätzlicher Exposition gegenüber schwerem Heben und Tragen von Lasten auf.

Noch bei der Untersuchung des Klägers am 13.12.1994 durch Dr. F ... war die Erkrankung an den unteren beiden LWS-Segmenten, die röntgenologisch bereits sichtbar war, klinisch stumm. Ausweislich des Arztbriefes des genannten Orthopäden vom 13.12.1994 litt der Kläger noch zu diesem Zeitpunkt lediglich unter einer Funktionsstörung des Übergangs zwischen BWS und LWS, die zu thorakalen Schmerzen führte und allein wesentlich auf die Folgen der Scheuermannschen Erkrankung zurückzuführen ist. Wegen derselben Erkrankung war der Kläger im Jahre 1993 arbeitsunfähig geschrieben. An den unteren LWS-Segmenten, die typischerweise durch die beruflichen Einwirkungen im besonderen Maße gefährdet sind, wurde zum damaligen Zeitpunkt noch kein erheblicher krankheitswertiger Befund erhoben.

An den LWS-Segmenten L4/L5 und L5/S1 sind im Jahre 1995 erstmals klinische Symptome zweier Bandscheibenvorfälle aufgetreten, die in ihrer Wertigkeit gegenüber der Schädigung der BWS und des thorakolumbalen Übergangs stark hervortraten und sich von den anderen Erkrankungen der Wirbelsäule hinsichtlich der räumlichen Anordnung sowie der Schwere deutlich abhoben.

Darüber hinaus ergibt sich aus der Auswertung der Röntgenbefunde in den Gutachten von Dr. P ... und Dr. Sch ..., dass sich beim Kläger so genannte "belastungsadaptive Reaktionen" im Sinne einer Sklerosierung der Wirbelkörperabschlussplatte L5/S1 sowie einer Spondylosis deformans mit Osteophytenbildung am 3. bis 5. LWK herausgebildet hat (vgl. Pschyrembel, a.a.O., S. 1571). Ferner liegt eine Osteochondrose am 5. LWK vor. Diese zeigen, dass hier langzeitige degenerative Prozesse abgelaufen sind, die bis Oktober 1995 "klinisch stumm", mithin ohne Krankheitswert blieben, von da an jedoch - wie vom SG zutreffend eingeschätzt - in einen akuten und hiernach einen chronischen Krankheitsprozess mündeten.

Da - wie oben bereits dargestellt - der Kläger nicht nur grenzwertigen beruflichen Belastungen, sondern über 23 Jahre Ganzkörperschwingungen ausgesetzt war, spricht auch nach Auffassung des Senats mehr für als gegen eine wesentliche Teilverursachung der bandscheibenbedingten Erkrankung in den unteren Lendenwirbelsegmenten durch die berufliche Exposition gegenüber Ganzkörperschwingungen im Sitzen.

Nach der ergänzenden Stellungnahme von Dr. P ... vom 16.06.2004 war auch das Heben und Tragen von schweren Säcken am 22.10.1995 nicht die allein wesentliche Ursache für die ab 23.10.1995 bestehenden Beschwerden. Zwar trat die akute Schmerzsymptomatik am Morgen des Folgetages auf. Gleichwohl handelte es sich bei den Verrichtungen am 22.10.1995 nicht um die allein wesentliche Ursache der Beschwerden in den unteren LWS-Segmenten. Zunächst hat der Kläger nicht über besondere Vorfälle beim Heben und Tragen der Säcke berichtet. Auch hat er die Tätigkeit bis zum Ende der Arbeitszeit ausführen können. Am Abend dieses Arbeitstages litt er dann unter Schwäche und Schüttelfrost. Da der Kläger während seines Berufslebens - ausweislich der Stellungnahme des TAD vom 08.12.2000 - gelegentlich bis häufig Expositionen gegenüber dem Heben und Tragen schwerer Lasten ausgesetzt war, trat die Arbeitsschicht am 22.10.1995 gegenüber sonstigen Arbeitsschichten nicht besonders heraus. Es ist bereits aus diesem Grunde daher fraglich, ob der Begriff des Arbeitsunfalls bezüglich der Hebe- und Trageleistung an diesem Tag überhaupt erfüllt wäre. Jedenfalls spricht auch nach Auffassung des Senats mehr dagegen als dafür, dass diese Hebe- und Trageleistung die überragende Bedeutung bezüglich der Verursachung der bandscheibenbedingten Erkrankung der unteren LWS-Segmente zukommt. Daher ist die Einschätzung von Dr. P ... in seiner ergänzenden Stellungnahme nachvollziehbar, dass eine Infektionskrankheit - den Schwächeanfall und den Schüttelfrost wertete er als Ausdruck einer solchen Erkrankung - allgemein dazu führen kann und im vorliegenden Fall konkret dazu führte, dass die bereits vorbestehende klinisch stumme Erkrankung der unteren beiden LWS-Segmente nicht mehr "dekompensiert" werden konnte und manifest wurde.

Beim Kläger bestand auch ab Eintritt der dauerhaften Arbeitsunfähigkeit - wie sich aus dem Gutachten von Dr. P ... ergibt - ein Zwang zur Unterlassung aller schädigenden Tätigkeiten.

Aus den genannten Gründen ist der Beurteilung von Dr. P ... zu folgen. Nach Auffassung des Senats ergeben sich aus den Antworten in seiner ergänzenden Stellungnahme auch keine Widersprüche. Vielmehr arbeitet Dr. P ... seine schon im Gutachten vom 30.05.2003 enthaltenen Aussagen und Wertungen bloß deutlicher heraus, ohne sie inhaltlich zu verändern. Gerade seine differenzierte Argumentation belegt, dass er mit den Grundaussagen der unfallversicherungsrechtlichen Kausalitätslehre vertraut ist. Der Senat hat daher - im Gegensatz zur Beklagten - auch keinen Zweifel, dass Dr. P ... das meint, was er sagt: Die berufliche Exposition des Klägers als Traktorist ist eine wesentliche Teilursache für die bandscheibenbedingte Erkrankung der LWS.

Nach alledem war die Berufung zurückzuweisen.

Die Entscheidung über die Kosten folgt aus § 193 SGG. Gründe für die Zulassung der Revision gemäß § 160 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 SGG liegen nicht vor. -
Rechtskraft
Aus
Saved