L 3 B 163/05 AS-ER

Land
Freistaat Sachsen
Sozialgericht
Sächsisches LSG
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
3
1. Instanz
SG Leipzig (FSS)
Aktenzeichen
S 6 AS 153/05 ER
Datum
2. Instanz
Sächsisches LSG
Aktenzeichen
L 3 B 163/05 AS-ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
Hindernisse, die einer sofortigen Verwertung im Sinne von § 9 Abs. 4 SGB 2 entgegenstehen, müssen rechtlicher oder tatsächlicher Art sein.
Die Möglichkeit des Verkaufes von Immobilien ist durch die grundbuchrechtliche Abwicklung des Kaufvertrages und der dadurch verursachten verzögerten Auskehrung des Kaufpreises an den Verkäufer unabhängig von den Bedingungen am Immobilienmarkt in aller Regel keine sofortige Verwertung.
I. Der Beschluss des Sozialgerichts Leipzig vom 14.07.2005 wird aufgehoben.
II. Die Beschwerdegegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung ver-pflichtet, dem Beschwerdeführer Arbeitslosengeld II in Höhe von monatlich 839,32 EUR vom 01.12.2005 bis zum Abschluss des Hauptsacheverfahrens, längs-tens bis zum 30.05.2006, vorläufig als Darlehen zu gewähren.
III. Die Beschwerdegegnerin hat dem Beschwerdeführer dessen außergerichtliche Kosten für Antrags- und Beschwerdeverfahren zu erstatten.

Gründe:

A

Der Beschwerdeführer (Bf.) begehrt im Wege der einstweiligen Anordnung die vorläufige Gewährung von Arbeitslosengeld II (Alg II).

Der Bf. ist alleinstehend und freiberuflich als Architekt tätig.

Der Bf. war Gesellschafter einer Gesellschaft bürgerlichen Rechts, die seit August 1998 Eigentümerin des Mehrfamilienhauses D ... Straße ..., L ... war; der weitere Gesell-schafter war B. B ... (B.). Mit Teilungserklärung vom 29.12.1998 teilte die Gesellschaft den Grundbesitz in Wohnungseigentum auf. Keller und Erdgeschoss (Gewerbeeinheit) und ein Teil des ersten und das zweite Dachgeschoss (Wohnung) wurde dem Bf. übertragen; das Obergeschoss und der andere Teil des ersten Dachgeschosses, die als Atelier dienten, wurde der B. übertragen. Der Bf. vermietete der B. die Gewerbe- und die Wohneinheit; er selbst mietete von der B. das Atelier, das er auch als Wohnung nutzte.

Mit Bescheiden vom 08.09.2004 und 09.09.2004 in der Gestalt des Widerspruchsbeschei-des vom 03.11.2004 lehnte der für den Bf. zuständige Sozialhilfeträger die Gewährung von Hilfen zum Lebensunterhalt ab, weil der Bf. seinen Hilfebedarf durch Mieteinnahmen aus der Wohn- und einer Gewerbeeinheit decken könne.

Am 25.10.2004 beantragte der Bf. bei der Bg. die Gewährung von Alg II. Im Antrag gab er an, dass er zur Zeit keine Einnahmen aus seiner freiberuflichen Tätigkeit als Architekt er-warten könne; allerdings erziele er weiterhin Mieteinnahmen. Als einziges nennenswertes Eigentum gab er die beiden Mietobjekte an. Als Schuldzinsen zahle er für die Wohnung EUR 606,15; an Nebenkosten nebst Grundsteuer fielen monatlich EUR 228,35 an. Für die freiwil-lige Kranken- und Pflegeversicherung zahle er monatlich EUR 260,82.

Mit Bescheid vom 04.01.2005 lehnte die Bg. die Bewilligung von Alg II ab, weil das Ein-kommen des Bf. aus der Vermietung seinen Bedarf übersteige. Über den hiergegen am 02.02.2005 eingelegten Widerspruch hat die Bg. noch nicht entschieden.

Am 24.01.2005 hat der Bf. beim Sozialgericht Leipzig den Erlass einer einstweiligen An-ordnung mit dem Ziel der vorläufigen Gewährung von Alg II in Höhe von EUR 839,32 bean-tragt. Die Sache sei besonders dringlich, weil seine Existenz bedroht sei. Im Laufe des An-tragsverfahrens trug er vor, dass er wegen der finanziellen Schwierigkeiten zum 01.03.2005 in seine Eigentumswohnung im Dachgeschoss gezogen sei; aus der Gewerbe-einheit erhalte er seitdem ebenfalls keine Miete mehr.

Mit Beschluss vom 14.07.2005 lehnte das Sozialgericht den Antrag auf Erlass einer einst-weiligen Anordnung ab. Zur Begründung hat es ausgeführt, dass kein Anordnungsanspruch gegeben sei, weil der Bf. vorrangig Vermögen in Form des Miteigentumsanteils an der Gewerbeeinheit einzusetzen habe. Hierbei könne dahingestellt bleiben, ob eine sofortige Verwertung durch Verkauf in Betracht komme. Denn der Bf. könne hieraus Einkommen in Form von Mieteinnahmen erzielen, wozu er vorrangig verpflichtet sei; sofern die jetzige Mieterin diesen nicht zahle, müsse er ihr kündigen und die Räume anderweitig vermieten.

Gegen den ihm am 19.07.2005 zugestellten Beschluss hat der Bf. am 12.08.2005 Be-schwerde erhoben, der das Sozialgericht nicht abgeholfen hat. Er ist der Ansicht, dass er nicht auf die anderweitige Vermietung der Gewerbeeinheit ver-wiesen werden dürfe. Dies lasse sich - ebenso wie der von der Bg. verlangte Verkauf - nicht kurzfristig realisieren; er sei aber jetzt bedürftig. Außerdem sei ihm eine Räumung der Gewerbeeinheit aus finanziellen Gründen nicht möglich.

Der Senat hat dem Bf. mit Beschluss vom 07.11.2005 Prozesskostenhilfe für das Be-schwerdeverfahren gewährt.

Der Beschwerdeführer beantragt,

den Beschluss des Sozialgerichts Leipzig vom 14.07.2005 aufzuhe-ben und die Beschwerdegegnerin im Wege der einstweiligen Anord-nung zu verurteilen, ihm vorläufig Arbeitslosengeld II in Höhe von EUR 839,32 längstens für sechs Monate bzw. einer vorhergehenden rechtskräftigen Entscheidung im Hauptsacheverfahren zu zahlen.

Die Beschwerdegegnerin beantragt,

die Beschwerde zurückzuweisen.

Wegen weiterer Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakten beider Rechtszüge Bezug genommen.

B

Die Beschwerde ist statthaft im Sinne von § 172 Abs. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG); sie ist auch form- und fristgerecht erhoben, § 173 Abs. 1 Satz 1 SGG.

Die Beschwerde ist auch begründet. Zu Unrecht hat das Sozialgericht den Antrag des Bf. zurückgewiesen; dieser kann vielmehr im Wege der einstweiligen Regelungsanordnung die vorläufige Gewährung von Alg II verlangen. Er hat sowohl einen Anordnungsgrund als auch einen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht.

I.

Es liegt ein Anordnungsgrund vor. Denn das begehrte Alg II hat für den Bf. existenzsichernden Charakter. So ist schon für Hilfen nach dem Bundessozialhilfegesetzes, an deren Stelle mittlerweile die Grundsicherung für Arbeitssuchende nach dem SGB II getreten ist, allgemein anerkannt, dass ein anzuerkennender Bedarf grundsätzlich auch die besondere Dringlichkeit der begehrten vorläufigen Regelung begründet, weil der Bedürftige zur Si-cherung seiner wirtschaftlichen und sozialen Existenz auf sofortige Hilfe angewiesen ist (Beschluss des Oberverwaltungsgerichtes Mecklenburg-Vorpommerns vom 23.11.1999, Az: 1 M 81/99, abgedruckt in: info also 2000, Seite 228; Beschluss des Hessischen Ver-waltungsgerichtshofes vom 20.04.2004, Az: 10 TG 532/04, abgedruckt in: info also 2004, Seiten 171ff.). Der Sachstand des Verfahrens bietet keine Anhaltspunkte dafür, welche anderen liquiden Mittel der Bf. zur Sicherung seiner Existenz in Anspruch nehmen kann.

II.

Es liegt ein Anordnungsanspruch vor. Denn die Regelungsanordnung erfordert neben ei-nem Anordnungsgrund im Sinne einer besondere Dringlichkeit der Entscheidung einen Anordnungsanspruch, also einen der Durchsetzung zugänglichen materiell-rechtlichen An-spruch des Antragstellers (Berlit, Vorläufiger gerichtlicher Rechtsschutz im Leistungsrecht der Grundsicherung für Arbeitssuchende - Ein Überblick, in: info also 2005, Seiten 3 ff., insbs. Seite 7).

Nach dem nunmehr im Verfahren glaubhaft gemachten Sachverhalt besteht zumindest ein Anspruch auf darlehensweise Gewährung von Alg II in Höhe von EUR 839,32. Denn erwerbs-fähige Hilfebedürftige erhalten als Alg II Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes einschließlich der angemessenen Kosten für Unterkunft und Heizung, § 19 Satz 1 des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch (SGB II); erwerbsfähige Hilfebedürftige im Sinne des SGB II sind Personen, die das 15. Lebensjahr vollendet und das 65. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, erwerbsfähig und hilfebedürftig sind und ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland haben, § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II. Der Bf. ist 54 Jahre alt, wohnhaft in Sachsen und offensichtlich erwerbsfähig.

Er ist auch hilfebedürftig im Sinne des § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II. Denn hilfebedürftig ist, wer seinen Lebensunterhalt nicht oder nicht ausreichend aus eigenen Kräften und Mitteln, vor allem nicht aus dem zu berücksichtigenden Einkommen oder Vermögen sichern kann und die erforderliche Hilfe nicht von anderen, insbesondere von Angehörigen und Trägern andere Sozialleistungen erhält, § 9 Abs. 1 SGB II. Im vorliegenden Eilverfahren kann da-hingestellt bleiben, ob die Hilfebedürftigkeit des Bf. durch das Eigentum am der Gewerbe-einheit ausgeschlossen ist. Denn hilfebedürftig ist auch derjenige, dem der sofortige Verbrauch oder die sofortige Verwendung von zu berücksichtigenden Vermögen nicht möglich ist; in diesem Falle sind die Leistungen als Darlehen zu erbringen, § 9 Abs. 4 SGB II. Der Anspruch des Bf. auf Alg II scheitert allenfalls am vorrangig einzusetzenden Ver-mögen in Form des Wohneigentums an der Gewerbeeinheit (1.); dessen sofortige Verwer-tung ist jedoch nicht möglich (2.).

1. Der Bf. hat - die Gewerbeeinheit außer Betracht gelassen - Anspruch auf Alg II in Höhe von mindestens EUR 839,32 monatlich. Denn dies entspricht mindestens seinem Bedarf; zu berücksichtigendes Einkommen steht dem Bf. nicht zur Verfügung.

a) Der Bedarf des Bf. berechnet sich gemäß § 19 Satz 1 Ziff. 1 SGB II aus Regelleistung und den Kosten der Unterkunft und beträgt zusammen mindestens die mit dem Antrag begehr-ten EUR 832,39. Die Regelleistung beträgt im Falle des Bf. EUR 331,- (§ 20 Abs. 2 SGB II).

Die Kosten der Unterkunft betragen mindestens die zum Begehren (EUR 839,32) noch fehlen-den EUR 508,32 monatlich. Denn bei selbst bewohnten Eigentumswohnungen sind u. a. Schuldzinsen und Nebenkosten zu berücksichtigen sind (Hauck/Noftz, Kommentar zum SGB II, § 22, Rz. 14). Die Schuldzinsen (EUR 605,06) und Nebenkosten (EUR 228,35) summie-ren sich auf mehr als EUR 508,32. Ob diese Wohnkosten noch angemessen sind, kann dahin-gestellt bleiben. Denn soweit die Aufwendungen für die Unterkunft den angemessenen Umfang übersteigen, sind diese tatsächlichen Aufwendungen in der Regel für sechs Mona-te als Bedarf zu berücksichtigen, § 22 Abs. 1 Satz 2 SGB II.

b) Diesem Bedarf in Höhe von EUR 839,32 steht kein zu berücksichtigendes Einkommen gegen-über. Aus seiner freiberuflichen Tätigkeit als Architekt erzielt der Bf. keine Einkünfte. Aus der für die Vermietung noch verfügbaren Gewerbeeinheit erzielt er keine Mieteinnahmen; dies hat er durch die eidesstattliche Versicherung vom 20.10.2005 glaubhaft gemacht.

c) Ob über diesen ungedeckten Bedarf hinaus Beiträge für die freiwillige Kranken- und Pfle-geversicherung zu übernehmen sind, kann ebenfalls dahingestellt bleiben. Denn das Be-gehren im vorliegenden Verfahren wird schon über das vorläufig zu gewährende Alg II abgedeckt.

2. Die sofortige Verwertung des Eigentums an der Gewerbeeinheit ist nicht möglich. Der sofortigen Verwertung stehen objektive Hindernisse entgegen. Denn die Hindernisse müs-sen rechtlicher oder tatsächliche Art sein und der sofortigen Verwertung objektiv entge-genstehen (amtliche Gesetzesbegründung, BT-Drs. 15/1638, zu Art. 1 § 9, Seite 53). Das ist hier der Fall.

Eine Verwertung durch Verkauf ist nicht sofort möglich. Denn selbst bei sofortigem Ab-schluss eines notariellen Kaufvertrages über die Gewerbeeinheit bedarf es vor Auskehrung des Kaufpreises an den Bf. der grundbuchrechtlichen Abwicklung des Kaufvertrages. Die technische Abwicklung eines Immobilienkaufvertrages begründet daher in aller Regel ein tatsächliches Hindernis im Sinne von § 9 Abs. 4 SGB II (Hauck/Noftz, a. a. O., § 9, Rz. 81; Eicher/Spellbrink, SGB II, § 9, Rz. 46). Dieses Hindernis liegt angesichts der allgemeinen Abwicklungszeiten eines notariellen Kaufvertrages auch in den nächsten sechs Monaten vor.

Eine Verwertung durch Beleihung kommt angesichts der hohen Darlehenslasten grundsätz-lich nicht in Betracht. Entgegen der Ansicht des Sozialgerichts stellt auch die anderweitige Vermietung keine sofortige Verwertung dar. Hierbei kann dahingestellt bleiben, ob die Vermietung von Ei-gentum eine Verwertung im Sinne von § 12 Abs. 1 SGB II ist (vgl. hierzu Hauck/Noftz, a. a. O., § 12, Rz. 110, und Eicher/Spellbrink, a. a. O., § 12, Rz. 31). Denn auch die vom So-zialgericht in Betracht gezogene anderweitige Vermietung setzt die Räumung und erneute Vermietung der Gewerbeeinheit voraus; angesichts der allgemein bekannten Lage auf dem Leipziger Immobilienmarkt ist dies keine sofortige Verwertung.

III.

Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung des § 193 Abs. 1 SGG.

Dieser Beschluss ist gemäß § 177 SGG endgültig.
Rechtskraft
Aus
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