Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Gelsenkirchen (NRW)
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
6
1. Instanz
SG Gelsenkirchen (NRW)
Aktenzeichen
S 6 KN 246/02
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Klage wird abgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand:
Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob der Kläger gegen die Beklagte einen Anspruch auf Rücknahme eines Bescheides vom 08.11.2000 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27.03.2001 nach § 44 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch Verwaltungsverfahren (SGB X) und Gewährung von Rente wegen Berufsunfähigkeit, hilfsweise verminderter Berufsfähigkeit im Bergbau hat.
Der am 00.00.0000 geborene Kläger wurde am 01.08.1979 im deutschen Steinkohlenbergbau angelegt und war dort zunächst tätig als Jungbergmann, Transportarbeiter 1, Neubergmann, Gleisbauarbeiter, Transportarbeiter 2, Hauer im Streckenausbau und Bandwärter. Zuletzt wurde der Kläger von der Beklagten bis zu seiner Abkehr am 31.12.2001 (Aufhebungsvertrag aus gesundheitlichen Gründen) als Lokfahrer 2 (Lohngruppe 10) geführt.
Am 16.05.2000 beantragte er bei der Beklagten die Gewährung von Rente wegen Berufsunfähigkeit. Die Beklagte veranlasste daraufhin ein Gutachten des Sozialmedizinischen Dienstes (SMD). Dort gelangte die Ärztin für Arbeits- und Sozialmedizin L1 in einem nach ambulanter Untersuchung des Klägers erstatteten Gutachten vom 22.08.2000 unter Erhebung der Diagnosen chronisch-rezidivierendes LWS-Syndrom, Cervikal-Syndrom, beginnende Arthrose im linken Kniegelenk sowie im oberen und unteren Sprunggelenk, Zustand nach Quetschverletzung im Bereich des linken Unterschenkels 1997 sowie Herzrhythmusstörungen der Lown-Klassifizierung III b) zu der Auffassung, dass die Einholung eines orthopädischen Zusatzgutachtens erforderlich sei.
Der Arzt für Orthopädie, Rheumatologie und Chirotherapie C erhob nach ambulanter Untersuchung des Klägers in einem Gutachten vom 18.09.2000 die Diagnosen Cervikal- und Lumbalsyndrom und gelangte - von diesen Diagnosen ausgehend - zu der Feststellung, dass sich eine gravierende Einschränkung des Leistungsvermögens nicht verzeichnen lasse. Vor diesem Hintergrund könne der Kläger auch auf Tätigkeiten mit höherer körperlicher Belastung verwiesen werden, so dass die zuletzt ausgeübte Tätigkeit als Einschienenhängebahn-Lokfahrer zumutbar erscheine.
Diesen Ausführungen des C schloss sich L1 in einer nach Aktenlage verfassten Stellungnahme vom 11.10.2000 an und vertrat die Ansicht, dass der Kläger noch in der Lage sei, mittelschwere und gelegentlich schwere körperliche Tätigkeiten zu verrichten.
Gestützt auf diese medizinischen Feststellungen lehnte die Beklagte den Rentenantrag des Klägers mit Bescheid vom 08.11.2000 ab und vertrat dort die Auffassung, dass der Kläger noch in der Lage sei, seine zuletzt ausgeübte berufliche Tätigkeit zu verrichten. Auf den hiergegen am 29.11.2000 erhobenen Widerspruch holte die Beklagte eine weitere Stellungnahme des SMD ein. In dieser nach Aktenlage verfassten Stellungnahme vom 10.01.2001 führte der Arzt S aus, dass im Rahmen einer weiteren attestierten Arbeitsunfähigkeit aufgefallen sei, dass die Krankschreibungen von jeweils unterschiedlichen Ärzten erfolgt seien. Nach Rücksprache mit den behandelnden Ärzten habe sich herausgestellt, dass diese über den aktuellen Sachstand und die medizinische Vorgeschichte zum Teil unzureichend informiert worden seien. Insbesondere die im Rahmen des aktuellen Rentenverfahrens eingeholten zahlreichen Fremdberichte und Gutachten seien nicht weiter vermittelt worden. Nach Rücksprache mit dem Chefarzt O sowie auch mit dem zuletzt behandelnden Psychiater N1 in S sei dann angeregt worden, eine neurologisch-psychiatrische Zusatzbegutachtung zu veranlassen. Dieser Anregung schließe er sich an.
Auf Veranlassung des SMD erstellten die Ärzte für Neurologie bzw. Neurologie und Psychiatrie/Psychotherapie L2/I unter dem 30.01.2001 ein nervenärztliches Zusatzgutachten. Dort gelangten sie zu der Diagnose histrionische Neurose mit zum Teil bewussseinsnaher Symptombildung und erheblichen sekundären Krankheitsgewinn. Im Rahmen des Untersuchungsganges habe sich insgesamt eine leicht depressive Stimmungslage mit eingeengter affektiver Steuerungsfähigkeit gezeigt. Darüber hinaus hätten sich deutliche histrionische Persönlichkeitszüge mit hypochondrischem Anteil feststellen lassen, wobei kein Hinweis auf aktuelle Suizidalität sowie Fremdgefährdung bestanden habe. Insgesamt bestehe aus nervenfachärztlicher Sicht keine Minderung der beruflichen Restleistungsfähigkeit, doch sei die Erwerbsfähigkeit gefährdet, sofern nicht entsprechende therapeutische Maßnahmen in Kürze durchgesetzt würden. Allerdings werde es sich als schwierig gestalten, den Kläger von einer entsprechenden Therapiemaßnahme zu überzeugen, da er zum Einen den sekundären Krankheitsgewinn nicht gern aufgeben möchte und er sich zum Anderen - aus verständlichen Gründen - ausschließlich körperlich krank erlebe.
Unter Auswertung des nervenärztlichen Zusatzgutachtens gelangte S in einer erneuten Stellungnahme vom 13.02.2001 zu der Ansicht, dass sich gegenüber dem bisher gutachtlich festgestellten abstrakten und konkreten Leistungsvermögen keine Änderung ergeben habe. Vor diesem Hintergrund sei auch die zuletzt verrichtete Tätigkeit regelmäßig und vollschichtig zumutbar. Eine Fortsetzung der Arbeitsunfähigkeit lasse sich darüber hinaus medizinischerseits nicht mehr begründen.
Mit Widerspruchsbescheid vom 27.03.2001 wurde der Widerspruch des Klägers vom Widerspruchsausschuss der Beklagten zurückgewiesen. Die Zustellung des Widerspruchsbescheides erfolgte am 30.03.2001 bei dem damaligen Bevollmächtigten des Klägers.
Hiergegen erhob der Kläger am 08.06.2001 Klage (SG Gelsenkirchen - S 7 KN 145/01), die er jedoch nach Hinweis durch das Gericht wegen Fristversäumnis zurücknahm.
Am 10.09.2001 beantragte der Kläger bei der Beklagten die Rücknahme des Bescheides vom 08.11.2000 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27.03.2001 nach § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X. Zur Begründung des Antrages bezog sich der Kläger auf zwei Atteste des Arztes für Neurologie und Psychiatrie N2 vom 14.01.2002 und vom 06.02.2002. In dem Attest vom 14.01.2002 führte N2 aus, dass sich der Kläger seit dem 02.01.2001 bei ihm in Behandlung befinde und unter einem nicht näher definierten depressiven Syndrom leide. Außerdem habe sich der dringende Verdacht auf eine Schizophrenie ergeben. Die bestehenden Krankheitssymptome beeinflussten das psychosoziale Leben des Klägers sehr, verhinderten ihn bei den täglichen Abläufen und hätten zu einem sozialen Rückzug mit Isolierung geführt. Unter diesen Umständen sei der Kläger sicherlich weiter arbeitsunfähig. Auch in der Zukunft sei mit längerfristigen Arbeitsausfällen zu rechnen. Vor allem sei sein Beruf als Bergmann nicht mehr aus- zuüben, da er psychisch nicht mehr in der Lage sei, die erforderliche Hirnleistung für diese Arbeit zu erbringen. Da es sich hierbei um einen dauerhaften Zustand handele, werde nervenärztlicherseits bestätigt, dass der Kläger ab sofort und dauerhaft berufsunfähig sei. In dem Attest vom 06.02.2002 führte N2 aus, dass in Ergänzung zu dem vorbeschriebenen Attest vom 14.01.2002 nervenärztlicherseits bestätigt werde, dass das depressive Bild mit dem dringenden Verdacht auf eine paranoide Psychose nach wie vor bestehe und mit großer Wahrscheinlichkeit auch bereits Anfang 2000 bestanden habe.
Mit Bescheid vom 23.04.2002 lehnte die Beklagte die Rücknahme der vom Kläger angefochtenen Bescheides vom 08.11.2000 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27.03.2001 ab und berief sich auf dessen Bestandskraft. Zur Begründung stellte die Beklagte darauf ab, dass die im eingereichten nervenärztlichen Attest vom 14.01.2002 bzw. 06.02.2002 genannten Krankheitssymptome bereits durch die am 18.01.2000 erfolgte nervenärztliche Begutachtung erkannt worden seien. Vor diesem Hintergrund lägen keine Erkenntnisse vor, die eine Stattgabe des Antrages nach § 44 SGB X rechtfertigen könnten. Der hiergegen am 06.05.2002 erhobene und nicht begründete Widerspruch wurde vom Widerspruchsausschuss der Beklagten mit Bescheid vom 13.08.2002 zurückgewiesen.
Mit seiner am 29.08.2002 erhobenen Klage verfolgt der Kläger sein Begehren weiter. Er stützt sich zur Begründung des erhobenen Anspruchs auf die Atteste des N2 vom 14.01.2002 und vom 06.02.2002.
Der Kläger beantragt,
die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 23.04.2002 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13.08.2002 zu verurteilen, den Bescheid vom 18.11.2000 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27.03.2001 zurückzunehmen, bei dem Kläger für die Zeit ab dem 16.05.2000 einen Zustand der Berufsunfähigkeit, hilfsweise verminderter Berufsfähigkeit im Bergbau anzunehmen und entsprechende Leistungen nach weiterer Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie nimmt Bezug auf den Inhalt der angefochtenen Bescheide.
Das Gericht hat von dem Arzt für Orthopädie Q1 sowie von dem Arzt für Neurologie und Psychiatrie N2 Befundberichte eingeholt. Auf den Inhalt der Berichte vom 02.12.2002 und vom 29.11.2002 wird Bezug genommen. Zur weiteren Darstellung des Sach- und Streitstandes wird im Übrigen auf den Inhalt der Prozessakten der beigezogenen Akten aus dem Rechtsstreit SG Gelsenkirchen - S 7 KN 145/01 - sowie der beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten, die vorgelegen haben und ihrem wesentlichen Inhalt nach Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind, Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Klage hat in der Sache keinen Erfolg. Der Kläger hat gegen die Beklagte keinen Anspruch auf Rücknahme des Bescheides vom 08.11.2000 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27.03.2001 nach § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X. Vor diesem Hintergrund ist der angefochtene Bescheid der Beklagten vom 23.04.2002 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13.08.2002 nicht rechtswidrig, und der Kläger wird durch ihn nicht beschwert, § 54 Abs. 2 Satz 1 SGG.
Die Beklagte hat sich zu Recht und mit zutreffender Begründung auf die Bestandskraft des Bescheides vom 08.11.2000 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27.03.2001 berufen (§ 77 SGG). Nach § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X ist ein eine Sozialleistung ablehnender Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei seinem Erlass das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist. Diese Bestimmung ermöglicht eine Abweichung von der Bindungswirkung sozialrechtlicher Verwaltungsakte, die gem. § 77 SGG grundsätzlich von allen Beteiligten zu beachten ist, also auch von dem Rechtsträger, der den Verwaltungsakt erlassen hat. Die Bindungswirkung eines Verwaltungsaktes ähnelt der Rechtskraft eines Urteils. Allerdings kann von der Bindungswirkung eines Urteils nur unter wesentlich strengeren Anforderungen abgewichen werden, als von der eines Verwaltungsaktes. In den verschiedenen Verfahrensordnungen (vgl. § 179 Abs. 1 SGG oder §§ 579 ff. ZPO) ist vorgesehen, dass eine erneute Sachprüfung trotz rechtskräftiger Entscheidung erst dann möglich ist, wenn zuvor zwei Hindernisse überwunden worden sind: Zunächst müssen Gründe geltend gemacht werden, die ihrer Art nach Wiederaufnahmegründe darstellen. Erst wenn diese Gründe geprüft und deren Vorliegen bejaht worden ist, ist weiter zu fragen, ob der geltend gemachte Wiederaufnahmegrund tatsächlich vorliegt und das rechtskräftige Urteil auf einen Umstand gestützt ist, der infolge des Wiederaufnahmegrundes nunmehr zweifelhaft geworden ist. Am Ende dieses Verfahrensabschnittes ist zu entscheiden, ob das rechtskräftige Urteil aufzuheben ist. Nur wenn dies zu bejahen ist, kann als dritter Verfahrensabschnitt die erneute Sachprüfung des gesamten früheren und jetzt neu vorgetragenen Streitstoffes erfolgen. Die Vorschrift des § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X verlangt zwar nicht ausdrücklich, dass vor einer erneuten Sachprüfung formal zwei Prüfungsdurchschnitte durchlaufen werden. Sie setzt aber stillschweigend voraus, dass dies in ähnlicher Weise geschieht. Auch das Rücknahmeverfahren in der allgemeinen Verwaltung nach § 48 Abs. 1 Satz 1 Verwaltungsverfahrensgesetz (VwVfG) wird in Anlehnung an das Wiederaufnahmeverfahren als dreistufiges Verfahren gesehen (vgl. nur Kopp, VwVfG, 6. Aufl. 1996, § 48, Rn. 22 m.w.N. insbes. zur verwaltungsgerichtlichen Rspr.). Ebenso war bereits nach § 40 des Gesetzes über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung vorzugehen, mit dem § 44 SGB X in den Voraussetzungen für die Rücknahme eines rechtswidrigen, nicht begünstigenden Verwaltungsaktes übereinstimmt. Die Vorschrift des § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X verlangt in der Sache drei Prüfungsschritte: Zunächst ist zu prüfen, ob sich im Rahmen eines Antrages auf Zugunstenbescheid etwas ergibt, das für die Unrichtigkeit der Entscheidung sprechen könnte. Sofern sich hier nichts ergibt, darf sich die Verwaltung ohne jede Sachprüfung auf die Bindungswirkung berufen. In einem zweiten Prüfungsabschnitt ist zu untersuchen, ob neue Tatsachen oder Erkenntnisse oder neue Beweismittel benannt werden. Ist dies der Fall, ergibt die Prüfung jedoch, dass die vorgebrachten Gesichtspunkte nicht tatsächlich vorliegen oder für die frühere Entscheidung nicht erheblich waren, darf sich die Behörde ebenfalls auf die Bindungswirkung stützen. Nur wenn diese Prüfung zu dem Ergebnis führt, dass ursprünglich nicht beachtete Tatsachen oder Erkenntnisse vorliegen, die für die Entscheidung wesentlich sind, ist in einem dritten Prüfungsabschnitt ohne Rücksicht auf die Bindungswirkung erneut zu entscheiden (zu Vorstehendem ausführlich BSG, Urteil vom 03.02.1988 - Az.: 9/9a RV 18/86).
Wird die Rücknahme in der "ersten Stufe" abgelehnt, so obliegt dem Gericht anschließend lediglich die Prüfung, ob die Ablehnung in dieser Stufe rechtmäßig war. Werden vom Antragsteller zwar neue tatsächliche Gesichtspunkte vorgebracht, ist die Verwaltung in der "zweiten Stufe" jedoch zu der Auffassung gelangt, dass diese Gesichtspunkte nicht tatsächlich vorliegen oder keine rechtliche Bedeutung für den seinerzeit geltend gemachten Anspruch haben, hat das dagegen angerufene Gericht nur zu prüfen, ob tatsächlich keine neuen relevanten Gesichtspunkte vorliegen; ein "Nachschieben" im Gerichtsverfahren ist wegen Respektierung des Entscheidungsspielraums- und vorranges der Verwaltung nicht mehr zulässig (Kunze, VSSR 3/2001, 151, 156). Es ist insbesondere zu berücksichtigen, dass § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X nicht der "Heilung" von versäumten Rechtsbehelfsfristen dient.
Unter Anlegung dieses rechtlichen Maßstabes hat sich die Beklagte zu Recht auf die Bindungswirkung des Bescheides vom 08.11.2000 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27.03.2001 berufen. Auch wenn der Kläger im Neufeststellungsverfahren zwei Atteste des Arztes für Neurologie und Psychiatrie N2 vorgelegt hat, haben sich aus diesen Attesten keine neuen relevanten Gesichtspunkte dafür ergeben, dass die ursprünglichen Bescheide rechtswidrig gewesen sind. N2 hat jedenfalls in dem Attest vom 16.01.2002 ähnliche Krankheitssymptome angegeben, die bereits L2/I in dem für den SMD erstatteten Gutachten vom 30.01.2003 beschrieben haben. N2 hat nämlich ein sogenanntes nicht näher definiertes depressives Syndrom beschrieben, L2/I unter anderem eine leicht depressive Stimmungslage mit eingeengter affektiver Steuerungsfähigkeit. Im Übrigen hat er jedoch lediglich eine im Vergleich zu L2/I geänderte Leistungsbeurteilung geäußert, diese jedoch nicht näher begründet. Nicht nachvollziehbar ist jedoch, dass N2 bei dem Kläger den Verdacht auf eine Schizophrenie (Attest vom 14.01.2002) bzw. den dringenden Verdacht auf eine paranoide Psychose (Attest vom 06.02.2002) geäußert hat. Dies insbesondere deshalb, weil N2 in seinem Befundbericht vom 02.12.2002 immer noch von einem Verdacht auf einen paranoid-halluzinatorische Psychose ausgeht. Angesichts eines im Zeitpunkt der Erstellung des Befundberichts abgelaufenen Zeitraums von nahezu 2 Jahren müsste N2 auch aus Laiensicht in der Lage gewesen sein, diesbezüglich eine endgültige Diagnose zu stellen, so dass davon auszugehen ist, dass diese Erkrankung im Zeitpunkt des Erlasses des Bescheides vom 08.11.2000 nicht vorgelegen hat und somit auch keinen erheblichen Gesichtspunkt i.S.d. § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X darstellt.
Ebensowenig konnte die Kammer nachvollziehen, dass N2 in dem Attest vom 14.01.2002 davon ausgegangen ist, dass der Kläger ab sofort und dauerhaft berufsunfähig sei (wobei die Frage einer etwaigen Berufsunfähigkeit keine medizinische Bewertung ist), jedoch in dem Attest vom 06.02.2002 davon ausgeht, dass die Erkrankungen des Klägers bereits Anfang 2000 bestanden haben (gemeint ist hier wohl eher die Einschränkung der Leistungsfähigkeit). Im Übrigen ist zu berücksichtigen, dass die Äußerung des N2, dass der Kläger "ab sofort" berufsunfähig sei, keinen neuen Gesichtspunkt darstellt, der die Rechtswidrigkeit des Bescheides vom 18.11.2000 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27.03.2001 begründen konnte. Dass N2 seine Auffassung wenig später geändert und nunmehr die Auffassung vertreten hat, dass die von ihm attestierten Erkrankungen mit großer Wahrscheinlichkeit bereits Anfang 2000 vorgelegen hätten, stellt zur Überzeugung der Kammer eine Spekulation dar, zumal die entsprechenden Krankheitssymptome bereits durch die L2/I erfasst worden sind.
Unabhängig davon, dass der vom Kläger schriftsätzlich gestellte Beweisantrag auf Anhörung der Ärzte L3/Q2 (§ 109 Abs. 1 SGG) in der mündlichen Verhandlung nicht weiterverfolgt worden ist und auch als verspätet i.S.d. § 109 Abs. 2 SGG hätte qualifiziert werden müssen, wäre die Einholung der beantragten Gutachten bereits deshalb nicht in Betracht gekommen, weil es sich im Rahmen des § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X verbietet, neue Tatsachen und Gesichtspunkte über den Umweg des § 109 Abs. 1 SGG im Gerichtsverfahren "nach zu schieben".
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 SGG.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand:
Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob der Kläger gegen die Beklagte einen Anspruch auf Rücknahme eines Bescheides vom 08.11.2000 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27.03.2001 nach § 44 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch Verwaltungsverfahren (SGB X) und Gewährung von Rente wegen Berufsunfähigkeit, hilfsweise verminderter Berufsfähigkeit im Bergbau hat.
Der am 00.00.0000 geborene Kläger wurde am 01.08.1979 im deutschen Steinkohlenbergbau angelegt und war dort zunächst tätig als Jungbergmann, Transportarbeiter 1, Neubergmann, Gleisbauarbeiter, Transportarbeiter 2, Hauer im Streckenausbau und Bandwärter. Zuletzt wurde der Kläger von der Beklagten bis zu seiner Abkehr am 31.12.2001 (Aufhebungsvertrag aus gesundheitlichen Gründen) als Lokfahrer 2 (Lohngruppe 10) geführt.
Am 16.05.2000 beantragte er bei der Beklagten die Gewährung von Rente wegen Berufsunfähigkeit. Die Beklagte veranlasste daraufhin ein Gutachten des Sozialmedizinischen Dienstes (SMD). Dort gelangte die Ärztin für Arbeits- und Sozialmedizin L1 in einem nach ambulanter Untersuchung des Klägers erstatteten Gutachten vom 22.08.2000 unter Erhebung der Diagnosen chronisch-rezidivierendes LWS-Syndrom, Cervikal-Syndrom, beginnende Arthrose im linken Kniegelenk sowie im oberen und unteren Sprunggelenk, Zustand nach Quetschverletzung im Bereich des linken Unterschenkels 1997 sowie Herzrhythmusstörungen der Lown-Klassifizierung III b) zu der Auffassung, dass die Einholung eines orthopädischen Zusatzgutachtens erforderlich sei.
Der Arzt für Orthopädie, Rheumatologie und Chirotherapie C erhob nach ambulanter Untersuchung des Klägers in einem Gutachten vom 18.09.2000 die Diagnosen Cervikal- und Lumbalsyndrom und gelangte - von diesen Diagnosen ausgehend - zu der Feststellung, dass sich eine gravierende Einschränkung des Leistungsvermögens nicht verzeichnen lasse. Vor diesem Hintergrund könne der Kläger auch auf Tätigkeiten mit höherer körperlicher Belastung verwiesen werden, so dass die zuletzt ausgeübte Tätigkeit als Einschienenhängebahn-Lokfahrer zumutbar erscheine.
Diesen Ausführungen des C schloss sich L1 in einer nach Aktenlage verfassten Stellungnahme vom 11.10.2000 an und vertrat die Ansicht, dass der Kläger noch in der Lage sei, mittelschwere und gelegentlich schwere körperliche Tätigkeiten zu verrichten.
Gestützt auf diese medizinischen Feststellungen lehnte die Beklagte den Rentenantrag des Klägers mit Bescheid vom 08.11.2000 ab und vertrat dort die Auffassung, dass der Kläger noch in der Lage sei, seine zuletzt ausgeübte berufliche Tätigkeit zu verrichten. Auf den hiergegen am 29.11.2000 erhobenen Widerspruch holte die Beklagte eine weitere Stellungnahme des SMD ein. In dieser nach Aktenlage verfassten Stellungnahme vom 10.01.2001 führte der Arzt S aus, dass im Rahmen einer weiteren attestierten Arbeitsunfähigkeit aufgefallen sei, dass die Krankschreibungen von jeweils unterschiedlichen Ärzten erfolgt seien. Nach Rücksprache mit den behandelnden Ärzten habe sich herausgestellt, dass diese über den aktuellen Sachstand und die medizinische Vorgeschichte zum Teil unzureichend informiert worden seien. Insbesondere die im Rahmen des aktuellen Rentenverfahrens eingeholten zahlreichen Fremdberichte und Gutachten seien nicht weiter vermittelt worden. Nach Rücksprache mit dem Chefarzt O sowie auch mit dem zuletzt behandelnden Psychiater N1 in S sei dann angeregt worden, eine neurologisch-psychiatrische Zusatzbegutachtung zu veranlassen. Dieser Anregung schließe er sich an.
Auf Veranlassung des SMD erstellten die Ärzte für Neurologie bzw. Neurologie und Psychiatrie/Psychotherapie L2/I unter dem 30.01.2001 ein nervenärztliches Zusatzgutachten. Dort gelangten sie zu der Diagnose histrionische Neurose mit zum Teil bewussseinsnaher Symptombildung und erheblichen sekundären Krankheitsgewinn. Im Rahmen des Untersuchungsganges habe sich insgesamt eine leicht depressive Stimmungslage mit eingeengter affektiver Steuerungsfähigkeit gezeigt. Darüber hinaus hätten sich deutliche histrionische Persönlichkeitszüge mit hypochondrischem Anteil feststellen lassen, wobei kein Hinweis auf aktuelle Suizidalität sowie Fremdgefährdung bestanden habe. Insgesamt bestehe aus nervenfachärztlicher Sicht keine Minderung der beruflichen Restleistungsfähigkeit, doch sei die Erwerbsfähigkeit gefährdet, sofern nicht entsprechende therapeutische Maßnahmen in Kürze durchgesetzt würden. Allerdings werde es sich als schwierig gestalten, den Kläger von einer entsprechenden Therapiemaßnahme zu überzeugen, da er zum Einen den sekundären Krankheitsgewinn nicht gern aufgeben möchte und er sich zum Anderen - aus verständlichen Gründen - ausschließlich körperlich krank erlebe.
Unter Auswertung des nervenärztlichen Zusatzgutachtens gelangte S in einer erneuten Stellungnahme vom 13.02.2001 zu der Ansicht, dass sich gegenüber dem bisher gutachtlich festgestellten abstrakten und konkreten Leistungsvermögen keine Änderung ergeben habe. Vor diesem Hintergrund sei auch die zuletzt verrichtete Tätigkeit regelmäßig und vollschichtig zumutbar. Eine Fortsetzung der Arbeitsunfähigkeit lasse sich darüber hinaus medizinischerseits nicht mehr begründen.
Mit Widerspruchsbescheid vom 27.03.2001 wurde der Widerspruch des Klägers vom Widerspruchsausschuss der Beklagten zurückgewiesen. Die Zustellung des Widerspruchsbescheides erfolgte am 30.03.2001 bei dem damaligen Bevollmächtigten des Klägers.
Hiergegen erhob der Kläger am 08.06.2001 Klage (SG Gelsenkirchen - S 7 KN 145/01), die er jedoch nach Hinweis durch das Gericht wegen Fristversäumnis zurücknahm.
Am 10.09.2001 beantragte der Kläger bei der Beklagten die Rücknahme des Bescheides vom 08.11.2000 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27.03.2001 nach § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X. Zur Begründung des Antrages bezog sich der Kläger auf zwei Atteste des Arztes für Neurologie und Psychiatrie N2 vom 14.01.2002 und vom 06.02.2002. In dem Attest vom 14.01.2002 führte N2 aus, dass sich der Kläger seit dem 02.01.2001 bei ihm in Behandlung befinde und unter einem nicht näher definierten depressiven Syndrom leide. Außerdem habe sich der dringende Verdacht auf eine Schizophrenie ergeben. Die bestehenden Krankheitssymptome beeinflussten das psychosoziale Leben des Klägers sehr, verhinderten ihn bei den täglichen Abläufen und hätten zu einem sozialen Rückzug mit Isolierung geführt. Unter diesen Umständen sei der Kläger sicherlich weiter arbeitsunfähig. Auch in der Zukunft sei mit längerfristigen Arbeitsausfällen zu rechnen. Vor allem sei sein Beruf als Bergmann nicht mehr aus- zuüben, da er psychisch nicht mehr in der Lage sei, die erforderliche Hirnleistung für diese Arbeit zu erbringen. Da es sich hierbei um einen dauerhaften Zustand handele, werde nervenärztlicherseits bestätigt, dass der Kläger ab sofort und dauerhaft berufsunfähig sei. In dem Attest vom 06.02.2002 führte N2 aus, dass in Ergänzung zu dem vorbeschriebenen Attest vom 14.01.2002 nervenärztlicherseits bestätigt werde, dass das depressive Bild mit dem dringenden Verdacht auf eine paranoide Psychose nach wie vor bestehe und mit großer Wahrscheinlichkeit auch bereits Anfang 2000 bestanden habe.
Mit Bescheid vom 23.04.2002 lehnte die Beklagte die Rücknahme der vom Kläger angefochtenen Bescheides vom 08.11.2000 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27.03.2001 ab und berief sich auf dessen Bestandskraft. Zur Begründung stellte die Beklagte darauf ab, dass die im eingereichten nervenärztlichen Attest vom 14.01.2002 bzw. 06.02.2002 genannten Krankheitssymptome bereits durch die am 18.01.2000 erfolgte nervenärztliche Begutachtung erkannt worden seien. Vor diesem Hintergrund lägen keine Erkenntnisse vor, die eine Stattgabe des Antrages nach § 44 SGB X rechtfertigen könnten. Der hiergegen am 06.05.2002 erhobene und nicht begründete Widerspruch wurde vom Widerspruchsausschuss der Beklagten mit Bescheid vom 13.08.2002 zurückgewiesen.
Mit seiner am 29.08.2002 erhobenen Klage verfolgt der Kläger sein Begehren weiter. Er stützt sich zur Begründung des erhobenen Anspruchs auf die Atteste des N2 vom 14.01.2002 und vom 06.02.2002.
Der Kläger beantragt,
die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 23.04.2002 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13.08.2002 zu verurteilen, den Bescheid vom 18.11.2000 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27.03.2001 zurückzunehmen, bei dem Kläger für die Zeit ab dem 16.05.2000 einen Zustand der Berufsunfähigkeit, hilfsweise verminderter Berufsfähigkeit im Bergbau anzunehmen und entsprechende Leistungen nach weiterer Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie nimmt Bezug auf den Inhalt der angefochtenen Bescheide.
Das Gericht hat von dem Arzt für Orthopädie Q1 sowie von dem Arzt für Neurologie und Psychiatrie N2 Befundberichte eingeholt. Auf den Inhalt der Berichte vom 02.12.2002 und vom 29.11.2002 wird Bezug genommen. Zur weiteren Darstellung des Sach- und Streitstandes wird im Übrigen auf den Inhalt der Prozessakten der beigezogenen Akten aus dem Rechtsstreit SG Gelsenkirchen - S 7 KN 145/01 - sowie der beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten, die vorgelegen haben und ihrem wesentlichen Inhalt nach Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind, Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Klage hat in der Sache keinen Erfolg. Der Kläger hat gegen die Beklagte keinen Anspruch auf Rücknahme des Bescheides vom 08.11.2000 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27.03.2001 nach § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X. Vor diesem Hintergrund ist der angefochtene Bescheid der Beklagten vom 23.04.2002 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13.08.2002 nicht rechtswidrig, und der Kläger wird durch ihn nicht beschwert, § 54 Abs. 2 Satz 1 SGG.
Die Beklagte hat sich zu Recht und mit zutreffender Begründung auf die Bestandskraft des Bescheides vom 08.11.2000 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27.03.2001 berufen (§ 77 SGG). Nach § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X ist ein eine Sozialleistung ablehnender Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei seinem Erlass das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist. Diese Bestimmung ermöglicht eine Abweichung von der Bindungswirkung sozialrechtlicher Verwaltungsakte, die gem. § 77 SGG grundsätzlich von allen Beteiligten zu beachten ist, also auch von dem Rechtsträger, der den Verwaltungsakt erlassen hat. Die Bindungswirkung eines Verwaltungsaktes ähnelt der Rechtskraft eines Urteils. Allerdings kann von der Bindungswirkung eines Urteils nur unter wesentlich strengeren Anforderungen abgewichen werden, als von der eines Verwaltungsaktes. In den verschiedenen Verfahrensordnungen (vgl. § 179 Abs. 1 SGG oder §§ 579 ff. ZPO) ist vorgesehen, dass eine erneute Sachprüfung trotz rechtskräftiger Entscheidung erst dann möglich ist, wenn zuvor zwei Hindernisse überwunden worden sind: Zunächst müssen Gründe geltend gemacht werden, die ihrer Art nach Wiederaufnahmegründe darstellen. Erst wenn diese Gründe geprüft und deren Vorliegen bejaht worden ist, ist weiter zu fragen, ob der geltend gemachte Wiederaufnahmegrund tatsächlich vorliegt und das rechtskräftige Urteil auf einen Umstand gestützt ist, der infolge des Wiederaufnahmegrundes nunmehr zweifelhaft geworden ist. Am Ende dieses Verfahrensabschnittes ist zu entscheiden, ob das rechtskräftige Urteil aufzuheben ist. Nur wenn dies zu bejahen ist, kann als dritter Verfahrensabschnitt die erneute Sachprüfung des gesamten früheren und jetzt neu vorgetragenen Streitstoffes erfolgen. Die Vorschrift des § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X verlangt zwar nicht ausdrücklich, dass vor einer erneuten Sachprüfung formal zwei Prüfungsdurchschnitte durchlaufen werden. Sie setzt aber stillschweigend voraus, dass dies in ähnlicher Weise geschieht. Auch das Rücknahmeverfahren in der allgemeinen Verwaltung nach § 48 Abs. 1 Satz 1 Verwaltungsverfahrensgesetz (VwVfG) wird in Anlehnung an das Wiederaufnahmeverfahren als dreistufiges Verfahren gesehen (vgl. nur Kopp, VwVfG, 6. Aufl. 1996, § 48, Rn. 22 m.w.N. insbes. zur verwaltungsgerichtlichen Rspr.). Ebenso war bereits nach § 40 des Gesetzes über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung vorzugehen, mit dem § 44 SGB X in den Voraussetzungen für die Rücknahme eines rechtswidrigen, nicht begünstigenden Verwaltungsaktes übereinstimmt. Die Vorschrift des § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X verlangt in der Sache drei Prüfungsschritte: Zunächst ist zu prüfen, ob sich im Rahmen eines Antrages auf Zugunstenbescheid etwas ergibt, das für die Unrichtigkeit der Entscheidung sprechen könnte. Sofern sich hier nichts ergibt, darf sich die Verwaltung ohne jede Sachprüfung auf die Bindungswirkung berufen. In einem zweiten Prüfungsabschnitt ist zu untersuchen, ob neue Tatsachen oder Erkenntnisse oder neue Beweismittel benannt werden. Ist dies der Fall, ergibt die Prüfung jedoch, dass die vorgebrachten Gesichtspunkte nicht tatsächlich vorliegen oder für die frühere Entscheidung nicht erheblich waren, darf sich die Behörde ebenfalls auf die Bindungswirkung stützen. Nur wenn diese Prüfung zu dem Ergebnis führt, dass ursprünglich nicht beachtete Tatsachen oder Erkenntnisse vorliegen, die für die Entscheidung wesentlich sind, ist in einem dritten Prüfungsabschnitt ohne Rücksicht auf die Bindungswirkung erneut zu entscheiden (zu Vorstehendem ausführlich BSG, Urteil vom 03.02.1988 - Az.: 9/9a RV 18/86).
Wird die Rücknahme in der "ersten Stufe" abgelehnt, so obliegt dem Gericht anschließend lediglich die Prüfung, ob die Ablehnung in dieser Stufe rechtmäßig war. Werden vom Antragsteller zwar neue tatsächliche Gesichtspunkte vorgebracht, ist die Verwaltung in der "zweiten Stufe" jedoch zu der Auffassung gelangt, dass diese Gesichtspunkte nicht tatsächlich vorliegen oder keine rechtliche Bedeutung für den seinerzeit geltend gemachten Anspruch haben, hat das dagegen angerufene Gericht nur zu prüfen, ob tatsächlich keine neuen relevanten Gesichtspunkte vorliegen; ein "Nachschieben" im Gerichtsverfahren ist wegen Respektierung des Entscheidungsspielraums- und vorranges der Verwaltung nicht mehr zulässig (Kunze, VSSR 3/2001, 151, 156). Es ist insbesondere zu berücksichtigen, dass § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X nicht der "Heilung" von versäumten Rechtsbehelfsfristen dient.
Unter Anlegung dieses rechtlichen Maßstabes hat sich die Beklagte zu Recht auf die Bindungswirkung des Bescheides vom 08.11.2000 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27.03.2001 berufen. Auch wenn der Kläger im Neufeststellungsverfahren zwei Atteste des Arztes für Neurologie und Psychiatrie N2 vorgelegt hat, haben sich aus diesen Attesten keine neuen relevanten Gesichtspunkte dafür ergeben, dass die ursprünglichen Bescheide rechtswidrig gewesen sind. N2 hat jedenfalls in dem Attest vom 16.01.2002 ähnliche Krankheitssymptome angegeben, die bereits L2/I in dem für den SMD erstatteten Gutachten vom 30.01.2003 beschrieben haben. N2 hat nämlich ein sogenanntes nicht näher definiertes depressives Syndrom beschrieben, L2/I unter anderem eine leicht depressive Stimmungslage mit eingeengter affektiver Steuerungsfähigkeit. Im Übrigen hat er jedoch lediglich eine im Vergleich zu L2/I geänderte Leistungsbeurteilung geäußert, diese jedoch nicht näher begründet. Nicht nachvollziehbar ist jedoch, dass N2 bei dem Kläger den Verdacht auf eine Schizophrenie (Attest vom 14.01.2002) bzw. den dringenden Verdacht auf eine paranoide Psychose (Attest vom 06.02.2002) geäußert hat. Dies insbesondere deshalb, weil N2 in seinem Befundbericht vom 02.12.2002 immer noch von einem Verdacht auf einen paranoid-halluzinatorische Psychose ausgeht. Angesichts eines im Zeitpunkt der Erstellung des Befundberichts abgelaufenen Zeitraums von nahezu 2 Jahren müsste N2 auch aus Laiensicht in der Lage gewesen sein, diesbezüglich eine endgültige Diagnose zu stellen, so dass davon auszugehen ist, dass diese Erkrankung im Zeitpunkt des Erlasses des Bescheides vom 08.11.2000 nicht vorgelegen hat und somit auch keinen erheblichen Gesichtspunkt i.S.d. § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X darstellt.
Ebensowenig konnte die Kammer nachvollziehen, dass N2 in dem Attest vom 14.01.2002 davon ausgegangen ist, dass der Kläger ab sofort und dauerhaft berufsunfähig sei (wobei die Frage einer etwaigen Berufsunfähigkeit keine medizinische Bewertung ist), jedoch in dem Attest vom 06.02.2002 davon ausgeht, dass die Erkrankungen des Klägers bereits Anfang 2000 bestanden haben (gemeint ist hier wohl eher die Einschränkung der Leistungsfähigkeit). Im Übrigen ist zu berücksichtigen, dass die Äußerung des N2, dass der Kläger "ab sofort" berufsunfähig sei, keinen neuen Gesichtspunkt darstellt, der die Rechtswidrigkeit des Bescheides vom 18.11.2000 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27.03.2001 begründen konnte. Dass N2 seine Auffassung wenig später geändert und nunmehr die Auffassung vertreten hat, dass die von ihm attestierten Erkrankungen mit großer Wahrscheinlichkeit bereits Anfang 2000 vorgelegen hätten, stellt zur Überzeugung der Kammer eine Spekulation dar, zumal die entsprechenden Krankheitssymptome bereits durch die L2/I erfasst worden sind.
Unabhängig davon, dass der vom Kläger schriftsätzlich gestellte Beweisantrag auf Anhörung der Ärzte L3/Q2 (§ 109 Abs. 1 SGG) in der mündlichen Verhandlung nicht weiterverfolgt worden ist und auch als verspätet i.S.d. § 109 Abs. 2 SGG hätte qualifiziert werden müssen, wäre die Einholung der beantragten Gutachten bereits deshalb nicht in Betracht gekommen, weil es sich im Rahmen des § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X verbietet, neue Tatsachen und Gesichtspunkte über den Umweg des § 109 Abs. 1 SGG im Gerichtsverfahren "nach zu schieben".
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 SGG.
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