L 3 AS 60/18

Land
Freistaat Sachsen
Sozialgericht
Sächsisches LSG
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
3
1. Instanz
SG Leipzig (FSS)
Aktenzeichen
S 4 AS 4354/14
Datum
2. Instanz
Sächsisches LSG
Aktenzeichen
L 3 AS 60/18
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
1. Es gibt keinen Erfahrungssatz, nach dem Schriftstücke, die den Adressaten nicht erreichen, notwendigerweise wieder an ihren Ausgangspunkt zurückkehren.
2. Der Nachweis des Zugangs eines behördlichen Schreibens kann nicht im Wege statistischer Überlegungen ersetzt werden. Vielmehr ist im Bestreitensfalle der Nachweis des Zuganges der Schriftstücke durch die Behörde zu führen. Bestreitet ein Hilfebedürftiger wiederholt den Erhalt von Schriftstücken, ist es an dem Leistungsträger, dem in geeigneter Weise, nämlich durch die Wahl einer Versendungsform mit Nachweis, entgegenzutreten.
I. Auf die Berufung des Klägers werden das Urteil des Sozialgerichts Leipzig vom 3. August 2017 sowie der Bescheid des Beklagten vom 18. Juni 2014 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13. Oktober 2014 aufgehoben.

II. Der Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers in beiden Rechtszügen.

III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Der Kläger wehrt sich gegen eine von dem Beklagten verhängte Leistungsminderung.

Der Kläger stand bei dem Beklagten im Bezug von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch – Grundsicherung für Arbeitsuchende – (SGB II). Mit Schreiben vom 7. April 2014 ("Einladung") bat der Beklagte den Kläger, am 15. April 2014 um 10.15 Uhr das Jobcenter zur Besprechung seiner aktuellen beruflichen Situation zu besuchen. Wenn der Einladung ohne wichtigen Grund nicht Folge geleistet werde, werde die Leistung um 10 % des nach § 20 SGB II maßgebenden Regelbedarfs für die Dauer von drei Monaten gemindert. Das Schreiben enthält den Hinweis: "Beachten Sie bitte unbedingt auch die nachfolgende Rechtsfolgenbelehrung und die weiteren Hinweise". Der in der Verwaltungsakte befindliche Entwurf des Schreibens enthält keine Rechtsfolgenbelehrung. Seine Rückseite ist unbedruckt. Auch eine gesonderte Rechtsfolgenbelehrung zum Schreiben vom 7. April 2014 ist in der Verwaltungsakte nicht enthalten.

Der Kläger erschien zum festgelegten Zeitpunkt nicht beim Beklagten. Auf ein Anhörungsschreiben vom 14. Mai 2014 reagierte er nicht.

Mit Bescheid vom 18. Juni 2014 stellte der Beklagte eine Minderung des Anspruchs des Klägers auf Arbeitslosengeld II in Höhe von 35,14 EUR monatlich fest. Den Widerspruch vom 17. Juli 2014, mit dem der Kläger die Verfassungswidrigkeit der Minderungsentscheidung geltend machte, wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 13. Oktober 2014 zurück.

Die Klage vom 14. November 2014 hat das Sozialgericht mit Urteil vom 3. August 2017 abgewiesen. Die Voraussetzungen für den Erlass einer Minderungsentscheidung hätten vorgelegen. Der Kläger sei in Kenntnis der Rechtsfolgen der Aufforderung des Beklagten vom 17. April 2014, sich am 28. April 2014 zu melden, nicht nachgekommen. Spätestens nach den Anhörungen vom 7. April 2014 und 17. April 2014 (betreffend vorausgegangene Meldeaufforderungen) habe der Kläger die Rechtsfolge eines Meldeversäumnisses gekannt. Die Einladung vom 17. April 2014 habe ihn auch erreicht. Zwar habe er geltend gemacht, sich an den Erhalt der Einladungen nicht mehr erinnern zu können. Im Rahmen des Freibeweises sei aber zu würdigen, dass weder das Einladungsschreiben an die Behörde zurückgelaufen sei noch der Kläger den Nichterhalt der Einladung im Widerspruchsverfahren vorgetragen habe. Vielmehr sei auf eine Rechtsfolgenbelehrung Bezug genommen worden. Einen wichtigen Grund zum Fernbleiben habe der Kläger nicht einmal behauptet, geschweige denn nachgewiesen. Das Sozialgericht hat die Berufung gegen sein Urteil zugelassen. Klärungsbedürftig sei, ob eine unverständliche, unrichtige oder unvollständige Rechtsfolgenbelehrung nur dann zur Rechtswidrigkeit mit einer Leistungsminderung führe, wenn die Möglichkeit bestehe, dass der Mangel der Belehrung für das minderungsbegründende Verhalten des Leistungsberechtigten kausal gewesen sein könnte.

Mit seiner gegen das ihm am 21. Dezember 2017 zugestellte Urteil gerichteten Berufung vom 19. Januar 2018 wendet sich der Kläger weiter gegen die verhängte Leistungsminderung. Er könne sich an einen Zugang der Einladung nicht erinnern. Den Nachweis des Zugangs des Schreibens habe der Beklagte nicht geführt. Der Entwurf dieses Schreibens in der Verwaltungsakte enthalte keine ausreichende Rechtsfolgenbelehrung. Auch sei der Minderungsbescheid verfassungswidrig.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Sozialgerichtes Leipzig vom 3. August 2017 aufzuheben sowie den Bescheid des Beklagten vom 18. Juni 2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13. Oktober 2014 aufzuheben.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er bezieht sich auf seine Ausführungen im Widerspruchsbescheid und hält die in erster Instanz ergangene Entscheidung für zutreffend.

Wegen der Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt des beigezogenen Verwaltungsvorgangs sowie der Gerichtsakten beider Instanzen verwiesen.

Entscheidungsgründe:

I. Die zugelassene Berufung ist begründet. Das Sozialgericht hat die Klage zu Unrecht abgewiesen. Denn der Bescheid des Beklagten vom 18. Juni 2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13. Oktober 2014 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (vgl. § 54 Abs. 1 Satz 2 des Sozialgerichtsgesetzes [SGG]). Weder ist belegt, dass das Einladungsschreiben vom 25. März 2014 den Kläger erreicht hat, noch ist belegbar, dass dem Schreiben eine Rechtsfolgenbelehrung – welchen Inhalts auch immer – beigegeben war.

Voraussetzung für die Rechtmäßigkeit einer Minderungsentscheidung nach § 32 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 SGB II ist, dass der Leistungsempfänger trotz schriftlicher Belehrung über die Rechtsfolgen oder deren Kenntnis einer Aufforderung des zuständigen Trägers, sich bei ihm zu melden, nicht nachkommt. Dies gilt nach § 32 Abs. 1 Satz 2 SGB II nicht, wenn er einen wichtigen Grund für sein Verhalten darlegt und nachweist. Dazu allerdings muss der Leistungsempfänger über den Meldetermin, das heißt den Zeitpunkt, den Meldeort und den Meldezweck informiert sein, ihm muss also eine hinreichend bestimmter Aufforderung zur Meldung (vgl. § 59 SGB II i. V. m. § 309 Abs. 1 Satz 2, Abs. 2, 3 Satz 1 des Sozialgesetzbuches Drittes Buch – Arbeitsförderung – [SGB III]) bekannt gegeben werden (vgl. LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 16. Januar 2008 – L 28 B 2119/07 AS ER – juris Rdnr. 4; Sächs. LSG, Beschluss vom 16. Dezember 2008 – L 7 B 613/08 AS-ER – juris Rdnr. 34, Berlit, in: Münder [Hrsg.], SGB II [6. Aufl., 2017], § 32 Rdnr. 6, m. w. N.; Knickrehm/Hahn, in: Eicher/Luik, SGB II [4. Aufl., 2017], § 32 Rdnr. 20, m. w. N.; Valgolio, in: Hauck/Noftz, SGB II [Stand: Erg.-Lfg. 03/17], § 32 Rdnr. 20, m. w. N.; Weber, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II [5. Aufl., 2020], § 32 Rdnr. 32, m. w. N.). Für den Umstand, dass eine Meldeaufforderung den Adressaten erreicht hat, trägt nach § 40 Abs. 1 Satz 1 SGB II in Verbindung mit § 37 Abs. 2 Satz 3 Halbsatz 2 des Sozialgesetzbuches Zehntes Buch – Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz – (SGB X) der Grundsicherungsträger die objektive Beweislast, wenn der Zugang der Aufforderung bestritten wird.

Vorliegend ist der Zugang der Einladung bestritten. Zwar hat der Kläger die Formulierung gewählt, er könne sich an den Zugang einer Einladung "nicht erinnern". Diese Formulierung ist nicht etwa lediglich als Hinweis auf eigene unzureichende Gedächtnisleistung zu verstehen. Vielmehr bestreitet der Kläger damit, das Einladungsschreiben vom 17. April 2014 (wie auch andere Schreiben) überhaupt erhalten zu haben. Eine andere Auslegung scheidet schon deshalb aus, weil der Kläger zugleich auf die Beweislast und die Verpflichtung des Beklagten hinweist, im Zweifel den Zugang der Einladung nachzuweisen. Den Nachweis des Zugangs indes kann der Beklagte nicht erbringen. Er hat dieses Einladungsschreiben, wie auch andere, mit einfacher Post versandt und nimmt damit in Kauf, dass der Zugang der Schreiben beim Adressaten nicht über eine entsprechende Urkunde belegt werden kann.

Der Senat teilt auch nicht die Auffassung des Sozialgerichts, aus den erkennbaren Umständen könne im Wege des Freibeweises (vgl. hierzu Keller, in, Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG [12. Aufl., 2017], Vor § 51 Rdnr. 20, m. w. N.) darauf geschlossen werden, dass der Kläger die Einladung vom 17. April 2014 erhalten habe. Dafür spricht insbesondere nicht, dass das Schreiben nicht an die Behörde zurückgelaufen ist. Es gibt keinen Erfahrungssatz, nach dem Schriftstücke, die den Adressaten nicht erreichen, notwendigerweise wieder an ihren Ausgangspunkt zurückkehren. Für den Zugang des Einladungsschreibens spricht auch nicht der Umstand, dass der Kläger im Widerspruchsverfahren, zunächst noch ohne Hinzuziehung eines Rechtsanwaltes, das Fehlen eines Einladungsschreibens nicht gerügt hat. Der Kläger hat mit seinem Widerspruch vom 15. Juni 2014 gleichzeitig drei Bescheide, nämlich zwei Minderungsbescheide und einen eine Eingliederungsvereinbarung ersetzenden Verwaltungsakt, angegriffen. Dass er dabei lediglich die Verfassungswidrigkeit der Unterschreitung des Existenzminimums geltend gemacht hat, kann nicht dahin verstanden werden, dass der Zugang der Einladung vom 17. April 2014 zugestanden wird.

Unergiebig ist insoweit schließlich auch der Umstand, dass der Kläger im Widerspruchsverfahren, nunmehr anwaltlich vertreten, mit Schriftsatz vom 8. August 2014 die Fehlerhaftigkeit der Rechtsfolgenbelehrung behauptet hat. Dort heißt es: "Im vorliegenden Fall ist die Rechtsfolgenbelehrung fehlerhaft. Schon allein aufgrund dieses formellen Fehlers hat der Widerspruch Aussicht auf Erfolg". Sodann wird Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (Urteil vom 18. Februar 2008 - B 14 AS 53/08 R -) zitiert. Die Ausführungen werden mit dem Satz: "Diesen formellen Anforderungen genügt die Rechtsfolgenbelehrung im vorliegenden Fall nicht" abgeschlossen. Der Klägervertreter hat diese Einlassung zu einem späteren Zeitpunkt als "pauschalen Vortrag" bezeichnet. Genau darum handelt es sich auch. Die Textpassage ist ein Baustein, der auch in anderen Schreiben des Prozessvertreters im gleichen Wortlaut enthalten ist (vgl. etwa Schriftsatz vom 25. August 2014 [Blatt 497 der Verwaltungsakte]). Die Ausführungen sind allgemein gehalten und nehmen nicht auf eine bestimmte Rechtsfolgenbelehrung und deren Wortlaut Bezug. Der gleiche Baustein findet sich auch in dem Schriftsatz des Klägerbevollmächtigten vom 10. Februar 2015 (Blatt 24 der SG-Akte), dort – nach erfolgter Akteneinsicht – in Bezug auf in dem Einladungsschreiben enthaltene Ausführungen. Der Gebrauch des Textbausteins im Schriftsatz vom 8. August 2014 lässt nach alldem nicht den Rückschluss zu, die Rechtsfolgenbelehrung, die der Beklagte dem Kläger erteilt haben will, und damit auch das Einladungsschreiben selbst habe diesem von Anfang an vorgelegen.

Lediglich ergänzend ist anzumerken, dass selbst dann, wenn gewichtige Gründe die Annahme stützen würden, dem Kläger sei die Einladung vom 7. April 2014 zugegangen, sich die Frage stellen würde, ob diesem Schreiben eine – gesonderte – Rechtsfolgenbelehrung beigegeben war. In der Verwaltungsakte ist ein Belehrungsschreiben nicht enthalten. An einem Vermerk über die Versendung des Anschreibens nebst gesonderter Belehrung fehlt es. Frühere Einladungsschreiben des Beklagten, etwa die Folgeeinladung vom 13. Dezember 2013 (Blatt 319 der Verwaltungsakte) enthielten die Rechtsfolgenbelehrung als integralen Bestandteil auf der Rückseite. Indem der Beklagte von dieser Verfahrensweise zugunsten gesonderter Fertigung von Einladung und Rechtsfolgenbelehrung abgewichen ist, hat er auch die ihn selbst treffende Beweisbelastung hinsichtlich des Zugangs beider Schriftstücke statuiert. Auch den Nachweis, dass die Rechtsfolgenbelehrung den Kläger erreicht hat, kann der Beklagte aber nicht führen.

Der Senat verkennt nicht, dass vieles dafür spricht, dass sich der Kläger die Praxis des Beklagten, Einladungen mit einfacher Post und damit ohne Zugangsnachweis zu versenden, zunutze macht. Den Zugang von Einladungsschreiben hat er wiederholt bestritten. Da wenig wahrscheinlich ist, dass gerade missliebige Schreiben den Kläger nicht zu erreichen vermögen, spricht eine nicht geringe Wahrscheinlichkeit dafür, dass die entsprechenden Darstellungen des Klägers nicht in jedem Falle der Wahrheit entsprechen. Der Nachweis des Zugangs solcher Schreiben kann aber nicht im Wege statistischer Überlegungen ersetzt werden. Vielmehr ist im Bestreitensfalle der Nachweis des Zuganges der Schriftstücke durch den Beklagten zu führen. Bestreitet ein Hilfebedürftiger wiederholt den Erhalt von Schriftstücken, ist es an dem Leistungsträger, dem in geeigneter Weise, nämlich durch die Wahl einer Versendungsform mit Nachweis, entgegenzutreten.

Vorliegend hat nach alldem der Beklagte weder den Zugang des Einladungsschreibens noch den Zugang einer Rechtsfolgenbelehrung beim Kläger nachweisen können. Dem Minderungsbescheid vom 18. Juni 2014 fehlt es damit an der Grundlage. Er ist – in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13. Oktober 2014 – aufzuheben.

II. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

III. Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor (§ 160 Abs. 2 SGG).
Rechtskraft
Aus
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