L 7 AS 1077/18

Land
Freistaat Sachsen
Sozialgericht
Sächsisches LSG
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
7
1. Instanz
SG Leipzig (FSS)
Aktenzeichen
S 17 AS 1746/17
Datum
2. Instanz
Sächsisches LSG
Aktenzeichen
L 7 AS 1077/18
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
Außergerichtliche Kosten des Berufungsverfahrens sind nicht zu erstatten, wenn sich allein das Jobcenter gegen die sozialgerichtliche isolierte Aufhebung einer abschließenden sog. Nullfestsetzung und Erstattung der vorläufig erbrachten Leistungen wendet sowie der Leistungsberechtigte erstmals im Berufungsverfahren neue Tatsachen für höhere Leistungen für sich und Leistungen für eine nicht am Verfahren beteiligte Person geltend macht, ohne Anschlussberufung einzulegen.
Außergerichtliche Kosten des Berufungsverfahrens sind nicht zu erstatten.

Gründe:

I. Auf Weiterbewilligungsantrag vom 15.12.2015 bewilligte der Beklagte dem 1979 geborenen Kläger, ein "freiberuflich selbständiger Physiotherapeut" (vgl. z.B. Anlage EKS v. 03.12.2015), für Januar bis Juni 2016 vorläufig Arbeitslosengeld (Alg) II in Höhe von 681,- EUR (404,- EUR Regelbedarf + 277,- EUR Bedarfe für Unterkunft und Heizung) monatlich (Bescheid v. 21.12.2015). Widerspruch erhob der Kläger dagegen nicht. Abschließend setzte der Beklagte den monatlichen Leistungsanspruch auf 0,- EUR und die zu erstattenden Leistungen auf insgesamt 4.086,- EUR (681,- EUR x 6 Monate) fest (Bescheide v. 07.02.2017; Widerspruchsbescheid v. 09.05.2017, W 1833/17).

Das Sozialgericht Leipzig (SG) hat - dem einer Anregung des SG folgenden (vgl. Schreiben v. 15.11.2017) Hauptantrag des Klägers (vgl. Niederschrift zum Termin zur mündlichen Verhandlung v. 20.11.2017, S. 2) entsprechend - die Bescheide v. 07.02.2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids v. 09.05.2017 aufgehoben und den Beklagten verurteilt, die außergerichtlichen Kosten des Klägers zu erstatten (Urteil v. 20.11.2017).

Gegen das ihm am 09.01.2018 zugestellte Urteil hat der Beklagte am 09.02.2018 beim erkennenden Gericht Berufung eingelegt (ursprüngliches Az.: L 7 AS 108/18).

Nach Fortsetzung des ruhenden Verfahrens (Beschluss v. 27.03.2018) hat der Kläger bei der abschließenden Entscheidung die Berücksichtigung seiner tatsächlichen statt abgesenkten Aufwendungen für Unterkunft und Heizung sowie von "Anwesenheitszeiten" seines 2007 geborenen Sohnes begehrt (Schreiben seines Bevollmächtigten v. 30.01.2019 und 08.05.2019).

Der Beklagte bewilligte dem Kläger für Januar bis Juni 2016 abschließend zunächst 544,16 EUR (404,- EUR Regelbedarf + 277,- EUR Bedarfe für Unterkunft und Heizung - 136,84 EUR zu berücksichtigendes Einkommen) monatlich und änderte die zu erstattenden Leistungen auf insgesamt 821,04 EUR (136,84 EUR x 6 Monate; Bescheide v. 16.04.2019). Dagegen erhob der Kläger entgegen der Rechtsbehelfsbelehrung (jeweils Hinweis auf §§ 96, 153 SGG) Widerspruch, den der Beklagte als unzulässig verwarf (Widerspruchsbescheid v. 01.07.2019, W 4405/19), wogegen der Kläger beim SG Klage erhob (Az.: S 27 AS 1763/19).

Zuletzt bewilligte der Beklagte dem Kläger und dessen vorgenannten Sohn abschließend für Januar bis Juni 2016 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts in monatlich unterschiedlicher Höhe, für den Kläger zwischen 537,13 EUR bis 544,67 EUR sowie für den Kläger und dessen Sohn insgesamt stets höher als 681,- EUR monatlich (vgl. Bescheide v. 26.11.2019 und 30.04.2020, die ebenso jeweils auf § 96 SGG bzw. §§ 96, 153 SGG hinweisen). Am 07.07.2020 und nochmals am 11.08.2020 habe der Kläger das mit dem Bescheid vom 30.04.2020 faktisch erklärte Anerkenntnis des Beklagten angenommen und Kostenantrag gestellt (Schreiben seines Bevollmächtigten v. jeweiligen Tag).

Der Beklagte hat am 28.07.2020 den Rechtsstreit für erledigt erklärt und Kostenantrag gestellt (Schreiben v. 23.07.2020).

II. Beteiligte des Verfahrens (§ 69 SGG) sind nur der Kläger als Berufungsbeklagter und der Beklagte als Berufungskläger, nicht auch der Sohn des Klägers (Y ...).

Das Berufungsverfahren endete am 28.07.2020 durch einseitige Erledigungserklärung des Beklagten (Schreiben v. 23.07.2020) als alleinigen Berufungskläger, die wie eine Berufungsrücknahme (§ 156 Abs. 1 Satz 1 SGG) wirkt, da sie in einem wie hier nach § 183 SGG kostenprivilegierten Verfahren keine eigenständige, insbesondere kostenrechtliche Bedeutung hat (zur Klagerücknahme vgl. z.B. BSG v. 29.12.2005 - B 7a AL 192/05 B - Rn. 6.). Erklärungen des Klägers, ein Anerkenntnis des Beklagten anzunehmen (Schreiben seines Bevollmächtigten v. 07.07.2020 und 11.08.2020), erledigten nicht den Rechtsstreit in der Hauptsache (§ 153 Abs. 1, § 101 Abs. 2 SGG), da weder der Beklagte durch den Bescheid vom 30.04.2020 oder dessen Mitteilung (§ 96 Abs. 2 SGG; Schreiben v. 27.05.2020 und 09.06.2020) ein Anerkenntnis noch der Kläger eine Erledigungserklärung, die einseitig erklärt als Klagerücknahme wirken würde, abgegeben haben (vgl. entsprechend BSG v. 17.09.2020 - B 4 AS 13/20 R - Rn. 24 und 26). Mit der Berufungsrücknahme wurde das SG-Urteil - einschließlich dessen Kostenentscheidung (§ 141 Abs. 1 SGG) - rechtskräftig (vgl. z.B. Schmidt in: Meyer-Ladewig u.a., SGG, 13. Aufl., § 102 Rn. 6c).

Aufgrund des übereinstimmenden Antrags der Beteiligten ist durch Beschluss des Berichterstatters (§ 155 Abs. 4 i.V.m. Abs. 2 Satz 1 Nr. 5 SGG, vgl. z.B. Keller in: Meyer-Ladewig u.a., SGG, 13. Aufl., § 155 Rn. 8, 9e) zu entscheiden, ob und in welchem Umfang einander Kosten zu erstatten sind (§ 156 Abs. 3 Satz 2, § 193 Abs. 1 Satz 3 i.V.m. Satz 1 SGG), ohne dass es auf das Einverständnis der Beteiligten zur Entscheidung des Berichterstatters als Einzelrichter (§ 155 Abs. 3 f. SGG; vgl. Schreiben v. 24.01.2019 und 30.01.2019) ankommt. Die Kostenentscheidung betrifft nur das Berufungsverfahren, da keine Erledigung des Rechtsstreits in der Hauptsache durch einseitige Erledigungserklärung des Klägers (Klagerücknahme), angenommenes Anerkenntnis oder übereinstimmende Erledigungserklärung der Beteiligten (zur Kostenentscheidung für alle Rechtszüge in diesen Fällen vgl. z.B. BSG v. 03.05.2018 - B 8 SO 44/17 B - Rn. 2) vorliegt (vgl. oben; zur gesonderten Kostenentscheidung für den jeweiligen Rechtszug trotz des Grundsatzes der Einheitlichkeit der Kostengrundentscheidung vgl. z.B. Gutzler in: BeckOGK, SGG, § 193 Rn. 4, und Wehrhahn in: jurisPK-SGG, § 193 Rn. 15). Die Aufwendungen des Beklagten sind nicht erstattungsfähig (§ 193 Abs. 4 SGG).

Die Kostenentscheidung erfolgt nach sachgemäßem bzw. billigem Ermessen, bei der grundsätzlich der nach dem Sach- und Streitstand zum Zeitpunkt der Erledigung des Rechtsstreits zu beurteilende Verfahrenserfolg im Vordergrund steht, bei ungewissem Ausgang die hälftige Kostenerstattung in Betracht kommt, aber auch die Gründe für die Einlegung des Rechtsmittels und die Erledigung des Rechtsstreits berücksichtigt werden können (vgl. z.B. BSG v. 13.12.2016 - B 4 AS 14/15 R - Rn. 7 und Schmidt, a.a.O., § 193 Rn. 13). Danach entspricht es unter Gesamtwürdigung nachfolgender Umstände billigem bzw. sachgerechtem Ermessen, dem Beklagten nicht die Erstattung der außergerichtlichen Kosten des Klägers für das Berufungsverfahren aufzuerlegen:

Gegenstand des Verfahrens waren zunächst die Bescheide vom 07.02.2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 09.05.2017 (W 1833/17) über die abschließende Entscheidung über Ansprüche des Klägers auf Alg II für Januar bis Juni 2016 als sog. Nullfestsetzung und die Erstattung der vorläufig erbrachten Leistungen.

Diese Bescheide erledigten sich durch die Bescheide vom 16.04.2019 (§ 40 Abs. 1 Satz 1 SGB II, § 39 Abs. 2 SGB X), die kraft Gesetzes zum Gegenstand des Berufungsverfahrens wurden (§ 153 Abs. 1, § 96 Abs. 1 SGG) und über die der Senat im Berufungsverfahren nur erstinstanzlich auf Klage hätte entscheiden können (zum Verhältnis vorläufige und abschließende Entscheidung vgl. z.B. BSG v. 14.05.2020 - B 14 AS 161/18 B Rn. 5; allgemein zu sog. Gegenstandsbescheiden vgl. z.B. BSG v. 18.03.2015 - B 2 U 8/13 R - Rn. 15).

Der Bescheid vom 16.04.2019 über die abschließende Entscheidung wurde wiederum zunächst durch den Bescheid vom 26.11.2019 und dieser zuletzt durch den Bescheid vom 30.04.2020 ersetzt, wodurch sich nach dem Vorbringen der Beteiligten wohl auch der Erstattungsbescheid vom 16.04.2019 zumindest tatsächlich erledigt habe, da an den Kläger Nachzahlungen (für dessen Sohn) erfolgten, obwohl das SGB II von Individualansprüchen ausgeht und dem Kläger bis zuletzt abschließend weniger Alg II als vorläufig bewilligt wurde. Die vom Kläger erhobene sog. isolierte bzw. reine Anfechtungsklage (§ 54 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 SGG) war von Anfang an mangels Rechtsschutzbedürfnisses unzulässig, da in Verfahren nach dem SGB II die isolierte Anfechtung einer abschließenden Entscheidung ohne Geltendmachung dessen, was als Leistung tatsächlich beansprucht wird, prozessual ausgeschlossen ist, auch wenn dies höchstrichterlich erst nach dem SG-Urteil unmissverständlich geklärt wurde (vgl. z.B. BSG v. 26.02.2020 - B 14 AS 133/19 B - Rn. 6 m.w.N. aus dessen stRspr. seit 2018).

Daher wäre nach der Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der Erledigung des Berufungsverfahrens das SG-Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen gewesen, da sich die vom SG aufgehobenen Bescheide zwischenzeitlich erledigt hatten (vgl. oben) sowie der Kläger bis dahin zumindest ausdrücklich lediglich die Zurückweisung der Berufung des Beklagten beantragt (vgl. Schreiben seines Bevollmächtigten v. 20.03.2018) und keine Anschlussberufung (§ 202 Satz 1 SGG i.V.m. § 524 ZPO) eingelegt hatte. Diese wäre zulässig gewesen, da das SG - rückblickend betrachtet - das Klagebegehren (§ 123 SGG) nicht richtig erfasst und auf eine sachgerechte Antragsfassung (durch Austausch des Haupt- und Hilfsantrags) hingewirkt hat, und die Anschlussberufung den gleichen prozessualen Anspruch der Hauptberufung des Beklagten betroffen hätte (zu dieser Voraussetzung vgl. z.B. BSG v. 26.10.2017 - B 8 SO 12/16 R - Rn. 14 f.). Weiterhin wäre eine Anschlussberufung des Klägers spätestens nach den Bescheiden vom 16.04.2019 notwendig gewesen, um keine Rechtsnachteile zu erlangen, zumal durch den entscheidenden Berichterstatter unverzüglich nach Übernahme des Dezernats an den Hinweisen der zuvor zuständigen Berichterstatterin (Schreiben v. 13.05.2019) nicht festgehalten wurde (Schreiben v. 20.09.2019). Gegen eine konkludent eingelegte Anschlussberufung (zur Zulässigkeit vgl. z.B. Keller, a.a.O., § 143 Rn. 5e) durch den Kläger spricht dessen weitere Klagerhebung beim SG, obwohl die verfahrensrechtliche Rechtslage zum Zeitpunkt der Bekanntgabe der Bescheide vom 16.04.2019 geklärt war (vgl. grundlegend BSG v. 12.09.2018 - B 4 AS 39/17 R - Rn. 10 f.) und der Beklagte in den Bescheiden ab dem 16.04.2019 stets auf §§ 96, 153 SGG hingewiesen hat.

Trotz dieser verfahrensrechtlichen Situation hat der Beklagte nicht nur zeitnah nach Auswertung der grundlegenden Entscheidungen des BSG zu § 41a, § 80 Abs. 2 SGB II (i.d.F. des Gesetzes v. 26.07.2016, BGBl. I 1824; vgl. weiterhin BSG v. 12.09.2018 - B 14 AS 4/18 R und B 14 AS 7/18 R) an den ursprünglich gegenständlichen Bescheiden nicht mehr festgehalten sowie unter Aufhebung der bisherigen sog. Nullfestsetzung und Berücksichtigung der zunächst vom Kläger vorgelegten Unterlagen abschließend über dessen Ansprüche aus Alg II und die zu erstattenden Leistungen entschieden (Bescheide v. 16.04.2019), sondern darüber hinausgehend mit den Bescheiden vom 26.11.2019 und 30.04.2020 selbst nach Vorbringen des Klägers die von ihm und nicht nur für ihn erstmals im Berufungsverfahren geltend gemachten "weitere(n) Ansprüche im Laufe des Verfahrens befriedigt" (Schreiben seines Bevollmächtigten v. 07.07.2020).

Unter diesen Umständen entspricht es billigem bzw. sachgerechtem Ermessen, dem Beklagten nicht auch die Erstattung der außergerichtlichen Kosten des Klägers für das Berufungsverfahren aufzuerlegen. Der Umfang der vom SG entschiedenen Kostenerstattung ergibt sich aus § 193 Abs. 2 f. SGG, worauf beiläufig hingewiesen wird.

Die Beschwerde gegen diesen Beschluss ist ausgeschlossen (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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