L 1 U 522/16

Land
Freistaat Thüringen
Sozialgericht
Thüringer LSG
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
1
1. Instanz
SG Gotha (FST)
Aktenzeichen
S 18 U 6448/12
Datum
2. Instanz
Thüringer LSG
Aktenzeichen
L 1 U 522/16
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Arbeitsunfall, haftungsbegründende Kausalität, Amnesie, Vollbeweis, substantielle Hirnschädigung, AWMF-Leitlinie

1. Zu den Anforderungen an eine vollbeweisliche Sicherung einer funktionellen Amnesie im Sinne eines organisch-amnestischen Syndroms nach ICD-10 F04.

2. Die Darstellung der Faserbahnen des Gehirns mittels Diffusion Tensor Imaging (DTI) ist als Methode zur Feststellung traumatischer Hirnverletzungen bislang nicht ausreichend validiert. Die einschlägige Leitlinie „Begutachtung nach gedecktem Schädel-Hirntrauma im Erwachsenenalter“ AWMF-Registernummer 094-002 Stand Juli 2018 geht davon aus, dass das MRT mit DTI zwar Hinweise geben kann, jedoch bisher für die Bewertung des Einzelfalls Normwerte fehlen und die Spezifität daher nicht abschließend geklärt ist.
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Gotha vom 15. Februar 2016 wird zurückgewiesen. Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob weitere Gesundheitsstörungen auf neurologischem und psychiatrischem Fachgebiet (insbesondere eine Amnesie) Folge des von der Beklagten anerkannten Arbeitsunfalles vom 5. Juni 2008 sind und ob der Kläger deshalb die Zahlung einer Verletztenrente beanspruchen kann.

Der 1958 geborene Kläger war an diesem Tag mit dem Bestücken eines Zigarettenautomaten beschäftigt, als er sich bückte und beim Wiederaufrichten mit seinem Hinterkopf gegen die geöffnete Tür des Zigarettenautomaten schlug. Er stürzte, fiel auf das Gesicht und war anschließend ca. 15 Minuten bewusstlos. Der Notarzt veranlasste die Einweisung in das Kreis-krankenhaus R. an der F. Dort befand er sich bis zum 18. Juni 2008 in stationärer Behandlung. Diagnostiziert wurden eine antero- und retrograde Amnesie nach Schädel-Hirn-Trauma, eine posttraumatische Facialisparese und ein verlangsamtes und herabgesetztes Reaktionsvermögen. Ausweislich einer durchgeführten Computertomographie (CT) des Schädels vom 5. Juni 2008 wurden keine Anhaltspunkte für eine Blutung oder Infarktmarkierung festgestellt. Eine Kontusionsverletzung wurde ebenfalls verneint. Nach dem 18. Juni 2008 befand sich der Kläger bis zum 20. August 2008 im Rahmen einer BGSW in der Fachklinik Bad L. Ausweislich des Abschlussberichts vom 10. Oktober 2008 wurde dringend die Vorstellung in einer neuro-logischen Akutklinik empfohlen. Vom 2. bis 9. Oktober 2008 befand sich der Kläger in der Klinik für Neurologie in W. in stationärer Behandlung. Dort wurde erneut ein Zustand nach Schädel-Hirn-Trauma und eine dissoziative Amnesie diagnostiziert. Ein neurologisches Korre-lat hinsichtlich der Symptomatik konnte nicht festgestellt werden. Während des Aufenthalts erfolgte die Durchführung einer MRT-Untersuchung des Schädels am 6. Oktober 2008. Ausweislich der Beurteilung konnten intrakranielle Traumafolgen nicht gesichert werden. Vom 20. bis 27. November 2008 wurde der Kläger stationär in der Klinik für Neurologie J. und ab dem 19. August 2009 psychosomatisch in der Klinik am W. in D. behandelt. Ausweislich des Abschlussberichts der Fachklinik am W. D. bestanden aus ungeklärten Gründen massive Leis-tungseinbußen auf neuropsychologischem Gebiet. Eine schwere Beeinträchtigung der kognitiven Leistungsfähigkeit liege vor.

Auf Vorschlag des Klägers beauftragte die Beklagte Herrn Prof. Dr. M. mit der Erstellung eines Zusammenhangsgutachtens. Dieser legte in seinem Gutachten vom 4. Januar 2010 dar, dass der Kläger unter unfallbedingten schweren Gedächtnisstörungen und weiteren kognitiven Defiziten leide. Aggravationstendenzen seien nicht feststellbar. Die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) sei dauerhaft mit 100 v. H. zu beziffern. Dieser Einschätzung wiedersprach der Beratungsarzt der Beklagten, der Neurologe Prof. Dr. B., in einer Stellungnahme vom 15. Juli 2010. Der Sachverständige Prof. Dr. M. habe sich nicht wirklich mit dem Kausalzusammenhang auseinandergesetzt. Es fehlten jegliche Ausführungen dazu, dass der Unfall eine Bagatelle gewesen und keine organischen Schäden festgestellt worden seien. Die vom Kläger geklagten Gedächtnisstörungen seien ohne weitere Beeinträchtigungen anderer Funktionen nicht vorstellbar. Vergleichbare Beeinträchtigungen finde man nur bei schwerst hirngeschädigten Menschen, welche dann auch immer über andere Schädigungen - wie Bewegungsstörungen - klagten. Viel wahrscheinlicher sei das Vorliegen einer psychischen Reaktion mit dem Ziel des Erhalts von Versicherungsleistungen. Die MdE sei mit 0 zu beziffern.

Dem folgend erkannte die Beklagte durch Bescheid vom 26. August 2010 das Ereignis vom 5. Juni 2008 sinngemäß als Arbeitsunfall mit der Folge einer folgenlos ausgeheilten Schädelprellung an. Ein Anspruch auf Verletztenrente bestehe nicht. Ausdrücklich nicht als Unfallfolge wurden anerkannt eine dissoziative Störung mit Depressionen, Gedächtnisstörung und Per-sönlichkeitsänderungen. Der Unfallhergang und der Ausschluss weiterer Hirnschäden schlös-sen einen Zusammenhang zwischen der Gedächtnisstörung und dem Unfallereignis aus. Hiergegen legte der Kläger Widerspruch ein. Nach Anhörung des Klägers zur Gutachterauswahl beauftragte die Beklagte den Neurologen Dr. W. mit der Erstellung eines Gutachtens. Dieser führte in seinem Gutachten vom 5. Juli 2011 aus, dass es durch das schädigende Ereignis zu einem manifesten Krankheitsgeschehen gekommen sein könnte. Über den Ausprägungsgrad der Schadensanlage könnten aus den Akten keine sicheren Schlussfolgerungen gezogen werden. In einer ergänzenden Stellungnahme zu seinem Gutachten vom 25. September 2011 wies Dr. W. darauf hin, dass objektiv nur ein Schädel-Hirn-Trauma I. Grades als Unfallfolge zu sichern sei. Das vom Kläger angegebene neuropsychologische Beschwerdeprofil könne nicht plausibel durch das Verletzungsmuster geklärt werden. In der bildgebenden Diagnostik bestehe zu keinem Zeitpunkt der sichere Hinweis auf intrakranielle Traumafolgen. Der Beratungsarzt der Beklagten Prof. Dr. St. führte in einer Stellungnahme vom 17. November 2011 aus, dass hinsichtlich der Frage, ob ein unfallbedingtes Psychosyndrom vorliege, zunächst ein MRT des Schädels mit eisensensitiven Sequenzen durchgeführt werden müsse. Nur bei radiologischem Nachweis einer Hirnsubstanzschädigung sei ein psychologisches Gutachten mit Beschwerdevalidierungstests erforderlich. Daraufhin wurde am 20. Januar 2012 im Klinikum Bad S. ein entsprechendes MRT des Schädels erstellt. Nach Vorlage dieses Befundes verneinte der Beratungsarzt Prof. Dr. St. in einer Stellungnahme vom 16. April 2012 das Vorliegen von Unfallfolgen auf neurologischem oder psychiatrischem Fachgebiet. Die Ursache gewisser kognitiver Beeinträchtigungen und der Schlafstörungen sei ein Schlafapnoesyndrom. Darüber hinaus liege eine gering ausgeprägte gefäßbedingte Hirngewebsveränderung vor. Daraufhin wies die Beklagte durch Widerspruchsbescheid vom 18. Oktober 2012 den Widerspruch des Klägers zurück. Eine intrakranielle Verletzung habe auch durch die nachgeholte MRT-Untersuchung vom 20. Januar 2012 nicht gesichert werden können. Insgesamt seien keine Verletzungen des Gehirns festgestellt worden, die die bestehenden psychischen Einschränkungen erklären könnten.

Dagegen hat der Kläger Klage erhoben mit dem Ziel, weitere Unfallfolgen, insbesondere eine Amnesie, auf neurologischem und psychiatrischem Fachgebiet festzustellen und eine Verletztenrente zu erhalten.

Das Sozialgericht hat den Neurologen Dr. B. mit der Erstellung eines neurologisch-psychiatrischen Gutachtens beauftragt. Dieser führt in seinem Gutachten vom 16. Juli 2013 aus, dass bei der Untersuchung des Klägers sich deutliche aggravatorische Tendenzen gezeigt hätten. Bereits die Universitätsklinik J. habe in einem Bericht über eine neuropsychologische Testung von deutlichen demonstrativen Tendenzen und Inkonsistenzen berichtet. Ein objektiv pathologischer Befund sei weder festzustellen, noch zu irgendeinem Zeitpunkt gesichert worden. Eine substantielle Schädigung des Gehirns durch das Unfallereignis vom 5. Juni 2008 sei in den zahlreichen bildgebenden Verfahren nicht dokumentiert. Auch die zuletzt durchgeführte eisensensitive kernspintomographische Untersuchung am 20. Januar 2012 habe eine traumatische Schädigung des Gehirns nicht nachweisen können. Das Unfallereignis habe auf neurologisch-psychiatrischem Fachgebiet zu keinen Gesundheitsbeeinträchtigungen geführt.

Mit Urteil vom 15. Februar 2016 hat das Sozialgericht Gotha die Klage abgewiesen. Als weitere gesundheitliche Folge des anerkannten Arbeitsunfalls vom 5. Juni 2008 könne weder eine funktionelle noch eine dissoziative Amnesie noch eine Depressionsstörung festgestellt werden. Dementsprechend habe der Kläger auch keinen Anspruch auf Gewährung einer Verletztenrente. Das Sachverständigengutachten des Dr. B. vom 16. Juli 2013 sei in sich nachvollziehbar und schlüssig. Außer einem Schädel-Hirn-Trauma I. Grades liege keine Unfallfolge vor. Insbesondere sei die Substanz des Gehirns bei dem Unfallereignis am 5. Juni 2008 nicht geschädigt worden. Dies werde durch die zahlreichen bildtechnischen Befunde untermauert. Das Zusammenhangsgutachten von Prof. Dr. M. im Verwaltungsverfahren sei unbrauchbar. Ein psychopathologischer Befund sei nicht erhoben worden. Eine Auseinandersetzung mit Kausalitätsfragen habe nicht im Ansatz stattgefunden.

Mit der Berufung verfolgt der Kläger sein Begehren weiter. Das Sachverständigengutachten und insbesondere die Schlussfolgerungen von Prof. Dr. M. seien nachvollziehbar und schlüssig. Sie reichten zum Nachweis unfallkausaler Schäden vollständig aus. Dies ergebe sich auch aus seiner, zusammen mit der Berufungsbegründung vorgelegten, ergänzenden Stellungnahme vom 27. April 2016. Danach existierten im neurologischen Bereich zahlreiche Beispiele für eine reine Amnesie ohne Beeinträchtigung anderer Funktionen. Dissoziative Amnesien könnten zu jahrelangen Gedächtnisstörungen führen, ohne dass mit konventioneller Bildgebung Hirnschäden zu entdecken seien. Das Krankheitsbild des Klägers sei in der Tat selten. Soweit der Sachverständige Dr. B. dem Kläger vorwerfe, ohne wesentliche emotionale Beteiligung zu agieren, sei dies wesentlich für das Krankheitsbild. Die Annahme, dass die vom Kläger behauptete ausgeprägte Gedächtnisstörung nur vorstellbar sei, wenn andere neurologische Funktionen mit beeinträchtigt seien, sei grundsätzlich falsch. Die Diagnose einer dissoziativen Amnesie setze gerade das Fehlen von Hirnschäden voraus.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Gotha vom 15. Februar 2016 aufzuheben und unter Ab-änderung des Bescheides der Beklagten vom 26. August 2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18. Oktober 2012 als weitere Folge des Arbeitsunfalls vom 5. Juni 2008 eine funktionelle oder dissoziative Amnesie und eine Major Depressionsstörung festzustellen und die Beklagte zu verurteilen, ihm eine Verletztenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von mindestens Hundert von Hundert zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Es reiche nicht aus, dass das Unfallgeschehen möglicherweise zu den beim Kläger vorhandenen Schäden geführt habe. Die von der Rechtsprechung geforderte hinreichende Wahrscheinlichkeit eines Ursachenzusammenhangs werde selbst von Prof. Dr. M. nicht bejaht. Auch dieser sehe lediglich eine bloße Möglichkeit des Kausalzusammenhangs.

Nach Beiziehung von Befunden des Universitätsklinikums M. (insbesondere einer Positronenemissionstomographie des Gehirns vom 5. Juli 2010) hat der Senat den Psychiater Prof. Dr. D. auf Antrag des Klägers nach § 109 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) mit der Erstellung eines Sachverständigengutachtens beauftragt. Auf Antrag des Klägers wurden darüber hinaus der Neuropsychologe Prof. Dr. B. und der Neuroradiologe Prof. Dr. K. mit einem neu-ropsychologischen bzw. neuroradiologischem Zusatzgutachten beauftragt. Der Neuropsychologe Prof. Dr. B. führt in seinem Gutachten vom 4. Juli 2018 aus, dass der Kläger allgemeine Beeinträchtigungen in den neuropsychologischen Bereichen Gedächtnis, Exekutivfunktionen und Aufmerksamkeit zeige. Im Vordergrund stehe eine seit dem Unfall von 2008 bestehende schwere anterograde Gedächtnisstörung mit deutlicher zeitlicher und leichter räumlicher Desorientierung. Aus neuropsychologischer Sicht seien die kognitiven Auffälligkeiten am ehesten durch eine Kombination der Folgen des Schädel-Hirn-Traumas und einer durch das Schädel-Hirn-Trauma möglicherweise ausgelösten, willentlich nicht steuerbaren, funktionellen Amnesie zu erklären. Prof. Dr. K. führt in seinem neuroradiologischem Zusatzgutachten vom 30. August 2018 aus, dass beim Kläger hirnorganische Veränderungen im Sinne des Auftretens von Läsionen mit kleinfleckigen Gewebenarben (sogenannte Gliosen) festzustellen seien. Derartige Narben seien jenseits des 50. Lebensjahres am häufigsten bedingt durch Wandveränderungen kleinster Hirnarterien. Ähnliche Narbenherde könnten auch nach einem Schädel-Hirn-Trauma auftreten. Auch wenn das Verteilungsmuster der Gewebenarben nicht charakteristisch für eine traumatische Ursache sei, erscheine ein Zusammenhang einzelner Narben mit einem Schädel-Hirn-Trauma als möglich. Hinweise auf stattgehabte Einblutungen hätten sich nicht ergeben. Ebenfalls hätten sich keine Hinweise auf diffuse oder regionale Schrumpfungen (Atrophien) des Gehirns ergeben, wie sie durch traumatische Verletzungen entstehen könnten. Prof. Dr. D. führt in seinem Gutachten vom 31. August 2018 aus, dass die Testung keine Anhaltspunkte für eine Aggravation oder Simulation ergebe. Der Kläger leide unter einem organischen amnestischen Syndrom im Sinne des ICD-10 F04 bei diffuser axonaler Schädigung nach Schädel-Hirn-Trauma am 5. Juni 2008. Kennzeichnend hierfür sei eine auffällige Beeinträchtigung des Kurz- und Langzeitgedächtnisses. Hinzutrete eine sekundäre dysthyme Störung (ICD-10 F34.1). Der Nachweis einer substanziellen Hirnschädigung sei für die gutachterliche Bewertung und zum Nachweis des Zusammenhangs zwischen Hirnschäden und folgenden Symptomen nützlich. Ihr Fehlen rechtfertige jedoch nicht die Ablehnung eines Zusammenhangs zwischen Trauma und Auftreten von anhaltenden Symptomen. Ein unauffälliger Befund im CT schließe eine substanzielle Hirnschädigung nicht aus. Unter Berücksichtigung der aktuell geltenden Leitlinie "Begutachtung nach gedecktem Schädel-Hirntrauma im Erwachsenenalter" AWMF-Registernummer 094-002 Stand Juli 2018, könnten traumatische axonale Schädigun-gen auch ohne nachweisbare Mikroblutungen vorkommen und mit kognitiven Einschränkun-gen verknüpft sein. Ein unauffälliger Befund in der unmittelbar nach dem Trauma durchgeführten Bildgebung schließe daher die Annahme einer substanziellen Hirnschädigung nicht aus. Daher sei im Fall des Klägers ein mittlerweile ausgeprägtes chronisches organisches amnestisches Syndrom im Sinne des ICD-10 F04 als direkte Folge des Unfallgeschehens vom 5. Januar 2008 anzusehen. Die klinischen Kriterien seien vollständig erfüllt. Die Schädigung des Gehirns sei mit großer Wahrscheinlichkeit über den Weg einer sogenannten diffusen axonalen Schädigung entstanden. Dafür hätten sich deutliche Hinweise in den Untersuchungen der Universitätsklinik M. gefunden. Aus dem neuroradiologischen Zusatzgutachten würden sich hierfür allerdings weniger deutliche Hinweise geben. Indirekte Folge des Unfalls sei die Entwicklung einer chronisch depressiven Störung. Die MdE sei mit 100 v. H. zu beziffern.

Die Beklagte ist diesen Ausführungen entgegen getreten. Der Hauptgutachter Prof. Dr. D. sei nicht Facharzt für Neurologie. Dies sei aber nach der zitierten AWMF-Leitlinie zu verlangen. Zudem berücksichtige dieser nicht hinreichend, dass nach dem neuroradiologischen Zusatzgutachten die nach der genannten Leitlinie aussagekräftigen axialen Diffusionstensormessungen unauffällig geblieben seien.

Der Kläger sieht durch die eingeholten Gutachten nach § 109 SGG sein Vorbringen bestätigt. Ein Psychiater verfüge stets auch über eine Ausbildung auf neurologischem Gebiet.

Sodann hat der Senat im Berufungsverfahren den Neurologen und Psychiater Prof. Dr. W. mit der Erstellung eines Zusammenhangsgutachtens beauftragt. Dieser führt in seinem Gutachten vom 6. November 2019 aus, dass dem direkt im Anschluss an das Unfallereignis erstellten Schädel-CT vom 5. Juni 2008 keine äußeren Verletzungen zu entnehmen seien. Daher sei über ein leichtgradiges Anschlagen des Kopfes als Erstschaden kein belangvolles Kontakttrauma zu sichern. Zwingende Voraussetzung für die Annahme eines organischen amnestischen Syndroms sei der Nachweis einer substanziellen Hirnschädigung im Rahmen des Unfallereignisses. Dieser Nachweis könne entweder durch eine posttraumatische Bewusstseinsstörung mit typischen Symptomen und zum anderen anhand bildgebender Untersuchungen geführt werden. Zwar sei eine Bewusstseinsstörung dokumentiert, die auf eine Hirnaffektion hindeuten könnte. Angesichts möglicher Differenzialdiagnosen (cerebraler Krampfanfall, hypertensive Krise), für die sich in den Erstbefunden wesentliche Hinweise fänden, sei eine derartige Symptomatik jedoch nicht spezifisch für eine traumabedingte Hirnschädigung. Dies gelte ums so mehr, wenn ein wesentliches Kontakttrauma nicht nachzuweisen sei. Darüber hinaus sei eine retrograde Amnesie von mehreren Monaten, wie vom Kläger beschrieben, ausschließlich bei schweren Hirnverletzungen bekannt, nicht jedoch nach leichten Verletzungen. Aus den bildgebenden Untersuchungen lasse sich durchgehend keine traumatisch substanzielle Hirnschädigung weder im Sinne einer Rindenkontusion noch im Sinne einer diffusen axonalen Schädigung nachweisen. Nach heutigem wissenschaftlichem Erkenntnisstand sei eine substanzielle Hirnschädigung als Grundvoraussetzung für das Vorliegen einer organisch bedingten cerebralen Symptomatik daher nicht im erforderlichen Vollbeweis zu sichern. Hinsichtlich einer dissoziativen Amnesie im Sinne des ICD-10 F44.0 bestünden nach dem Gesamtbild keine Zweifel an deren Vorliegen. Nach dem Stand der Wissenschaft sei jedoch bekannt, dass derartige Amnesien regelmäßig auf dem Boden traumatischer Erlebnisse in der Kindheit und Jugend auftreten und es dann in späteren Jahren durch banale Alltagserlebnisse zum Ausbruch einer derartigen Amnesie kommen könne. Aus medizinischer Sicht sei nicht hinreichend zu begründen, warum ein einfaches Anschlagen des Kopfes ohne jegliche äußere Verletzung geeignet wäre, eine derartig langanhaltende Gedächtnisstörung hervorzurufen, ohne dass hier unfallfremden Faktoren die weitaus überwiegende Bedeutung zukäme. Eine posttraumatische Belastungsstörung könne mangels Vorliegens des Eingangskriteriums bereits ausgeschlossen werden. Folgen des Arbeitsunfalls vom 5. Juni 2008 auf neurologisch-psychiatrischem Fachgebiet seien daher nicht zu begründen.

Die Beklagte sieht sich durch die Ausführungen des Sachverständigen Prof. Dr. W. in ihrem Standpunkt bestätigt. Der Kläger beanstandet, dass entgegen den Ausführungen von Prof. Dr. W. das Unfallgeschehen geklärt sei. Ein Nasenbluten sei gesichert. Ein Krampfanfall als Ursache sei nicht nachgewiesen. Die Untersuchung nach der derzeit empfindlichsten Untersu-chungsmethode - dem Diffusion Tensor Imaging - habe erhebliche Abweichungen vom Normalbefund ergeben.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte und den beigezogenen Verwaltungsvorgang Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung des Klägers (§§ 143, 151 SGG) hat in der Sache keinen Erfolg. Das Sozialgericht Gotha hat die Klage zu Recht abgewiesen und einen Anspruch des Klägers auf Feststellung weiterer Unfallfolgen aufgrund des Ereignisses vom 5. Juni 2008 (insbesondere einer Amnesie) verneint. Der Bescheid der Beklagten vom 26. August 2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18. Oktober 2012 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 54 SGG).

Als Folge des Ereignisses vom 5. Juni 2008 kann ausschließlich eine Schädelprellung festgestellt werden. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Feststellung weiterer Gesundheitsstörungen als Folge des Arbeitsunfalls vom 5. Juni 2008.

Richtige Klageart für die Feststellung weiterer Unfallfolgen ist die kombinierte Anfechtungs- und Feststellungsklage nach § 54 Abs. 1 SGG und § 55 Abs. 1, 3 SGG.

Im Recht der gesetzlichen Unfallversicherung gibt es unterschiedliche Beweisanforderungen. Für die äußerlich fassbaren und feststellbaren Voraussetzungen "versicherte Tätigkeit", "Verrichtung zur Zeit des Unfallereignisses", "Unfallereignis" und "Gesundheitsschaden" wird eine an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit gefordert, die vorliegt, wenn kein vernünftiger, die Lebensverhältnisse klar überschauender Mensch noch zweifelt (Vollbeweis). Vermutungen, Annahmen, Hypothesen und sonstige Unterstellungen reichen daher ebenso wenig aus wie eine (möglicherweise hohe) Wahrscheinlichkeit. Hinreichende Wahrscheinlichkeit wird von der ständigen Rechtsprechung für die Beurteilung des ursächlichen Zusammenhangs zwischen Unfallereignis und Gesundheitserstschaden (haftungsbegründende Kausalität) sowie dem Gesundheitserstschaden und der Unfallfolge im Sinne eines länger andauernden Gesundheitsschadens (haftungsausfüllende Kausalität) für ausreichend erachtet (vgl. BSG, Urteil vom 20. März 2007 - B 2 U 27/06 R -). Hinreichende Wahrscheinlichkeit liegt vor, wenn bei vernünftiger Abwägung aller Umstände diejenigen so stark überwiegen, die für den Ursachenzusammenhang sprechen, dass darauf eine richterliche Überzeugung gegründet werden kann (vgl. BSG, Urteil vom 31. Januar 2012 - B 2 U 2/11 R -; BSG, Urteil vom 9. Mai 2006 - B 2 U 1/05 R -).

Ausgehend hiervon steht zur Überzeugung des Senats fest, dass über die durch Bescheid vom 26. August 2010 festgestellte Schädelprellung keine weiteren Unfallfolgen aus dem Ereignis vom 5. Juni 2008 festzustellen sind. Die vom Kläger als Unfallfolge geltend gemachte funktionelle Amnesie im Sinne eines organisch-amnestischen Syndroms nach ICD-10 F04 bei diffuser axonaler Schädigung nach Schädel-Hirn-Trauma kann bereits deshalb nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit auf das Unfallereignis zurückgeführt werden, weil das Vorliegen eines solchen Syndroms nicht vollbeweislich gesichert ist. Insoweit folgt der Senat den nachvollziehbaren und in sich schlüssigen Ausführungen des Sachverständigen Prof. Dr. W. in seinem Gutachten vom 6. November 2019. Dort führt dieser aus, dass zwingende Voraussetzung für eine organisch bedingte Gedächtnisstörung der Nachweis einer substanziellen Hirnschädigung im Rahmen des Unfallereignisses ist. Dieser Nachweis kann auf zweierlei Weise geführt werden, was im Fall des Klägers nicht gelingt. Zum einen durch den Nachweis einer posttraumatischen Bewusstseinsstörung mit hierfür typischen Symptomen, zum anderen anhand der bildgebenden Untersuchungen. Prof. Dr. W. legt eingehend dar, dass beide Kriterien hier nicht erfüllt sind. Unter Hinweis auf die Erstbehandlungsbefunde, insbesondere des Kreiskrankenhauses R. a.d. F., ist nach den Ausführungen von Prof. Dr. W. zwar eine Bewusstseinsstörung dokumentiert, die auf eine Hirnaffektion (= psychische Störung nach geschlossenen Hirntraumen) hindeuten könnte. In Auswertung der beim Kläger erhobenen Erstbefunde hält Prof. Dr. W. die in seinem Fall dokumentierten Bewusstseinsstörungen jedoch nicht spezifisch für eine traumabedingte Hirnschädigung. Dabei lässt der Senat ausdrücklich offen, ob den Ausführungen von Prof. Dr. W. insoweit zu folgen ist, dass neben dem - von der Beklagten rechtlich bindend anerkannten - Schädel-Hirn-Trauma differenzialdiagnostisch auch ein cerebraler Krampfanfall oder eine hypertensive Krise in Betracht kommt. Insoweit legt Prof. Dr. W. selbst dar, dass zwar die bereits kurz nach Klinikaufnahme erhöhte Kreatinkinase für das Vorliegen eines Krampfanfalls aus innerer Ursache spricht bzw. nach dem Notarztprotokoll angesichts eines dokumentierten Blutdrucks von 200/90 mm Hg eine hypertensive Entgleisung als möglich erscheint. Dem steht jedoch entgegen, dass ein solcher Krampfan-fall, wie auch der Sachverständige Prof. Dr. W. ausführt, letztlich nicht vollbeweislich gesichert ist. Des Weiteren hat die Beklagte in dem Bescheid vom 26. August 2010 ein Schädel-Hirn-Trauma rechtlich bindend anerkannt. Jedoch gelingt der Nachweis einer substanziellen Hirnstörung aufgrund der für eine posttraumatische Bewusstseinsstörung typischen Symptome deshalb nicht, weil eine retrograde Amnesie von mehreren Monaten, wie sie von dem Kläger im Übrigen bis heute und damit jahrelang angegeben wird, ausschließlich bei schweren Hirnverletzungen bekannt ist. Nach den Ausführungen von Prof. Dr. W. ist bei der im Fall des Klägers festzustellenden leichten Verletzung ein schlüssiger pathophysiologischer Zusammenhang nicht zu vermitteln. Dies steht mit der medizinischen Literatur und dem medizinischen Erkenntnisstand im Einklang. Nach der einschlägigen Leitlinie "Begutachtung nach gedecktem Schädel-Hirntrauma im Erwachsenenalter" AWMF-Registernummer 094-002 Stand Juli 2018 ergibt sich, dass zwar generell die Möglichkeit des Nachweises einer substanziellen Hirnschädigung aufgrund einer posttraumatischen Bewusstseinsstörung mit hierfür typischen Symptomen in Betracht zu ziehen ist. Liegen jedoch, wie im vorliegenden Fall, nur einige typische Symptome vor, beinhaltet dies nicht automatisch, dass der erforderliche Ursachenzusammenhang zwischen dem Unfall und der traumatischen Hirnschädigung positiv festzustellen ist. Denn die gesicherten Symptome sind vom Sachverständigen eingehend auf ihre Tauglichkeit zur Sicherung einer traumatischen Hirnschädigung zu bewerten. Dies hat Prof. Dr. W. vorgenommen und dargelegt, dass die beim Kläger beschriebene Symptomatik nicht zwingend spezifisch für eine traumabedingte Hirnschädigung ist. In diesem Zusammenhang spielt es keine Rolle, dass die Beklagte ein Schädel-Hirn-Trauma als Unfallfolge anerkannt hat. Denn damit geht nicht die Anerkennung einer traumabedingten Hirnschädigung einher. Vielmehr hat sie zum Ausdruck gebracht, dass beim Kläger eine folgenlos ausgeheilte Schädelprellung vorliegt. Darüber hinaus hat Prof. Dr. W. darauf hingewiesen, dass eine, wie im Fall des Klägers, so lang andauernde Amnesie ausschließlich bei schweren Hirnverletzungen bekannt ist, nicht jedoch bei denen im Fall des Klägers allenfalls vorliegenden leichten Verletzungen. Dies steht mit der medizinischen Literatur im Einklang. So ist für den Fall, dass die geklagten Be-einträchtigungen in einem Missverhältnis zur Schwere der Hirnschädigung stehen, an die Möglichkeit vor allen Dingen einer dissoziativen Symptombildung zu denken (vgl. Waller/Schmidt, in: Widder u.a., Neurowissenschaftliche Begutachtung, 3. Aufl. 2018, S. 476 ff.).

Aus den bildgebenden Befunden lassen sich keine Hinweise auf eine traumatische substanzielle Hirnschädigung des Klägers entnehmen. Prof. Dr. W. führt insoweit auch unter Bezugnahme auf alle vorliegenden bildgebenden Befunde aus, dass ein solcher Nachweis nicht zu führen ist. Aus dem Schädel-CT vom 5. Juni 2008 ergeben sich keine Anhaltspunkt für eine äuße-re Verletzung. Auch die knöchernen Strukturen des Schädels waren unauffällig. Auch das CT vom Folgetag lässt keine sichere äußere Verletzung erkennen. Die Ausführungen des Sachverständigen Prof. Dr. W. stehen insoweit im Einklang mit dem neuroradiologischen Zusatzgutachten von Prof. Dr. K. vom 30. August 2018. Auch darin führt der Sachverständige Prof. Dr. K. aus, dass dem MRT-Befund vom 20. Januar 2012 erstellt mit einer durchgeführten T2-Messung sich keine Hinweise auf stattgehabte Einblutungen entnehmen lassen. Nach medizinischen Erkenntnissen ist ein MRT mit einer durchgeführten T2-Messung diagnostisch weitaus sensitiver als kraniale CT-Aufnahmen (vgl. Marx, Begutachtung des leichten Schädel-Hirn-Traumas, Welchen unfallchirurgischen Informationen benötigt der Gutachter?, Trauma und Berufskrankheit, 2017, S. 222 ff.). Die auf Veranlassung des Sachverständigen Prof. Dr. D. durchgeführte MRT-Untersuchung vom 19. Juni 2018 erbrachte nach den Ausführungen von Prof. Dr. K. in seinem Zusatzgutachten vom 30. August 2018 ebenfalls nicht den Nachweis einer substanziellen Hirnschädigung. Diese Untersuchung ergab im Fall des Klägers das Vorliegen einer hirnorganischen Veränderung im Sinne von Läsionen mit kleinfleckigen Gewebenarben (sogenannte Gliosen). Insoweit legt Prof. Dr. K. in seinem Zusatzgutachten dar, dass derartige Narben bei Patienten jenseits des 50. Lebensjahres am häufigsten durch Wandveränderungen kleinster Hirnarterien bedingt sind. Infolge dieser Wandveränderungen nimmt die weiße Substanz mit den hier verlaufenden markscheidenden Nervenzellen Schaden. Beim Kläger wurde ein Grad I gemäß Skala nach Fazekas diagnostiziert. Nach seinen Ausführungen können ähnliche Narbenherde in der weißen Hirnsubstanz auch nach einem Schädel-Hirn-Trauma auftreten. Hinsichtlich des Verteilungsmusters dieser Gewebenarben führt Prof. Dr. K. aus, dass die überwiegende Anzahl im Frontallappen und unterhalb des Rindenbandes lokalisiert ist. Solche Veränderungen sind am häufigsten durch arteriosklerotische Veränderungen erklärbar. Einige dieser Narben befinden sich jedoch auch direkt an der Markrindengrenze sowie vereinzelt am Rand des Hirnbalkens und am Rand der Hirnwasserkammern sowie im vorderen Anteil des rechten Schläfenlappens. Dieser Standort spricht mehr für traumatische Gewebenarben. Für die Annahme einer substanziellen Hirnschädigung reicht dies jedoch deshalb nicht aus, weil der neuroradiologische Sachverständige selbst einräumt, dass das Verteilungsmuster der Gewebenarben überwiegend nicht charakteristisch für eine traumatische Ursache ist. Dass dennoch ein Zusammenhang einzelner Narben mit einem Schädel-Hirn-Trauma aufgrund des lokalen Verteilungsmusters möglich ist, genügt nicht den unfallversicherungs-rechtlichen Beweismaßstäben. Soweit der Sachverständige Prof. K. zwecks Nachweis alter posttraumatischer Blutungsreste im Hirngewebe oder von Schrumpfungen des Gehirns (Atrophien) anschließend weitere Messungen durchgeführt hat, erbrachten diese Untersuchungen hierfür genauso wie hinsichtlich der Schädigung von Faserbahnen im Gehirn keine Hinweise. Irrelevant ist insoweit auch, dass aufgrund der abnehmenden Nachweisbarkeit von Blutabbauprodukten nach einem so langen zurückliegenden Unfallereignis kleinste Einblutungen zum Zeitpunkt des Traumas nicht ausgeschlossen werden können. Dies ändert nichts daran, dass diese nicht vollbeweislich gesichert sind. Insoweit räumt der Sachverständige Prof. Dr. K. auch ein, dass im Jahr 2014, also vier Jahre nach dem Trauma, keine Blutspuren messtechnisch nachweisbar waren. Der Sachverständige zieht daher das Fazit, dass mit den verwandten Messtechniken des MRT eine traumatische Genese der Gewebenarben weder wahrschein-lich gemacht, noch sicher nachgewiesen werden kann.

Hinsichtlich der Darstellung der Faserbahnen des Gehirns mittels Diffusion Tensor Imaging (DTI) ist darauf hinzuweisen, dass diese Methode zur Feststellung traumatischer Hirnverletzungen bislang nicht ausreichend validiert ist. Das DTI macht axonale Verbindungen im Gehirn sichtbar, bislang fehlt jedoch eine ausreichende Standardisierung (vgl. Marx, Begutachtung des leichten Schädel-Hirn-Traumas a.a.O., S. 224). Insoweit geht auch die einschlägige Leitlinie "Begutachtung nach gedecktem Schädel-Hirntrauma im Erwachsenenalter" AWMF-Registernummer 094-002 Stand Juli 2018 davon aus, dass das MRT mit DTI zwar Hinweise geben kann, jedoch bisher für die Bewertung des Einzelfalls Normwerte fehlen und die Spezifität daher nicht abschließend geklärt ist. Festzuhalten ist, dass sich nach der Leitlinie (vgl. Ziff. 1.6) gutachtlich verwertbare Aussagen hieraus daher zum aktuellen Zeitpunkt nicht ableiten lassen. Des Weiteren ist darauf hinzuweisen, dass auch unter Berücksichtigung dieser Methode der Nachweis einer traumatischen axonalen Schädigung im Fall des Klägers nicht ge-lungen ist. Dies entspricht auch dem Befundbericht des Universitätsklinikums München.

Daher ist die Schlussfolgerung von Prof. Dr. D. in seinem Gutachten vom 31. August 2018, wonach im Fall des Klägers ein organisches amnestisches Syndrom im Sinne des ICD-10 F04 bei diffuser axonaler Schädigung nach Schädel-Hirn-Trauma gesichert vorliegt, nicht haltbar. Zwar legt Prof. Dr. D. in seinem Gutachten eingehend dar, dass nach neueren Erkenntnissen die übliche Einteilung der Schädel-Hirn-Traumata nicht mehr aufrechterhalten werden könne und insbesondere das Fehlen des Nachweises einer substanziellen Hirnschädigung nicht die Ablehnung eines Zusammenhanges zwischen Trauma und Auftreten von anhaltenden Symptomen ausschließe. Insoweit entsprechen seine Ausführungen auch der Leitlinie. Soweit er anschließend jedoch auf das Konzept der "diffusen axonalen Schädigung" abstellt und diese als hinreichend belegt und diese Voraussetzung im Fall des Klägers als geradezu lehrbuchartig vorliegend ansieht, berücksichtigt er zum einen nicht, dass es sich beim Verfahren der DTI, wie dargelegt, um ein neues bildgebendes Verfahren handelt, welches zurzeit aufgrund exis-tierender Normwerte nicht zur Führung des erforderlichen Vollbeweises eingesetzt werden kann. Zum anderen ist das Ergebnis des DTI, so wie es im Fall des Klägers erhoben worden ist, für diesen ebenfalls negativ. Prof. Dr. D. räumt in seinem Gutachten selbst ein, dass ein für die Methode des DTI wichtiger Parameter - der FA-Messwert - beim Kläger überwiegend im oberen Messwertbereich der Vergleichsgruppe lag, während für posttraumatische Schädigungen der Faserbahnen im chronischen Stadium Absenkungen des FA-Messwerte zu erwarten sind. Soweit Prof. Dr. D. darauf hinweist, dass die nach Ziff. 1.3. der Leitlinie ausreichenden Hämosiderienablagerungen als Zeichen einer abgelaufenen traumatischen Hirnschädigung nicht sicher nachgewiesen werden konnten, allerdings in den ersten MRT-Untersuchungen auch keine entsprechenden Sequenzen durchgeführt worden seien, ändert dies nichts an der fehlenden Führung des erforderlichen Vollbeweises. In der zusammenfassenden Beantwortung der Fragestellungen bringt dies im Ergebnis Prof. Dr. D. auch selbst zum Ausdruck. Dort geht er zwar davon aus, dass die Schädigung des Gehirns mit großer Wahrscheinlichkeit über den Weg einer sogenannten diffusen axonalen Schädigung entstanden ist. Er begründet dies allerdings ausschließlich mit Hinweisen in den Untersuchungen der Universitätsklinik M. Dabei muss er jedoch einräumen, dass angesichts des aktuellen neuroradiologischen Zusatzgutachtens mittels der vorliegenden MRT-Befunde eine traumatische Genese der Gewebenarben im Gehirn weder wahrscheinlich gemacht noch sicher nachgewiesen werden kann. Soweit er dennoch eine traumatische Ursache nicht ausschließen will, genügt dies nicht den Beweisanforderungen.

Daher lässt sich ein organisches amnestisches Syndrom im Sinne des ICD-10 F04 mangels Nachweises einer substanziellen Hirnschädigung bereits nicht vollbeweislich sichern.

Hinsichtlich der dissoziativen Amnesie im Sinne des ICD-10 F44.0 liegt im Fall des Klägers eine solche zwar vollbeweislich gesichert vor. Insoweit ist nur auf das Gutachten von Prof. Dr. W. vom 6. November 2019 zu verweisen, worin dieser in Auswertung der vorhandenen Befunde und seiner eigenen Untersuchung aufgrund des gewonnenen Gesamtbildes davon aus-geht, dass eine solche Störung tatsächlich vorliegt. Dass diese Erkrankung mit hinreichender Wahrscheinlichkeit auf das Unfallereignis zurückzuführen ist, kann jedoch nicht begründet werden. Es gibt wesentlich mehr Gesichtspunkte, die dagegen sprechen, als dafür. Nach dem wissenschaftlichen Erkenntnisstand treten derartige Amnesien regelmäßig auf dem Boden traumatischer Erlebnisse in der Kindheit und Jugend auf, und es kann in späteren Jahren durch banale Alltagserlebnisse zum Ausbruch einer derartigen Amnesie kommen. Nach den Ausführungen von Prof. Dr. W. ist es nicht zu erklären, inwiefern ein einfaches Anschlagen des Kopfes ohne ersichtliche äußere Verletzungen geeignet wäre, einen Unfallzusammenhang zu be-gründen. Aus den Ausführungen des Sachverständigen Prof. Dr. D. in seinem Gutachten vom 31. August 2018 ergibt sich insoweit nichts anderes. Dieser lehnt sogar das Vorliegen einer dissoziativen Amnesie ausdrücklich ab. Sonstige psychische Gesundheitsstörungen auf psychiatrischem Fachgebiet können ebenfalls nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit dem Unfallereignis angelastet werden. Soweit Prof. Dr. D. in seinem Gutachten vom 31. August 2018 als weitere Folge des Unfalls die Entwicklung einer zunächst subakuten, später chronisch depressiven Störung (Dysthymia im Sinne des ICD-10 F34.1) angenommen hat, kann dahinstehen, ob eine solche Erkrankung im Fall des Klägers vollbeweislich gesichert ist. Denn nach den Ausführungen von Prof. Dr. D. entwickelte sich diese Störung als Reaktion auf die sich nicht wesentlich bessernden kognitiven Defizite und die damit verbundenen Einschränkungen. Wenn aber die kognitiven Defizite nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit auf das Unfallereignis zurückgeführt werden können, kann auch die sich später deshalb entwickelnde chronisch depressive Störung keine Unfallfolge sein. Dass eine posttraumatische Belastungsstörung nicht vorliegt, hat Prof. Dr. W. eingehend damit begründet, dass bereits das Eingangskriterium nicht gegeben ist.

Daher können keine weiteren Folgen des anerkannten Arbeitsunfalls vom 5. Juni 2008 festgestellt werden. Bei dieser Sachlage hat der Kläger ersichtlich keinen Anspruch auf Gewährung einer Verletztenrente.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision nach § 160 SGG liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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