L 1 RJ 4/00

Land
Hamburg
Sozialgericht
LSG Hamburg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
1
1. Instanz
SG Hamburg (HAM)
Aktenzeichen
S 16 J 1004/96
Datum
2. Instanz
LSG Hamburg
Aktenzeichen
L 1 RJ 4/00
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
1. Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 29. November 1999 wird zurückgewiesen. 2. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten. 3. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Im Streit ist, ob die Beklagte der Klägerin ab 1. Dezember 1994 die Rente wegen Erwerbsunfähigkeit zu gewähren hat.

Die 1949 geborene türkische Klägerin war in ihrer Heimat nicht versicherungspflichtig beschäftigt. In Deutschland war sie als Packerin in der Fischindustrie in C. und seit Juli 1976 beim O.-Versand in Hamburg tätig. Nach dem Eintritt von Arbeitsunfähigkeit im September 1989 war sie dort nicht mehr beschäftigt, wenngleich ihr Arbeitsverhältnis noch bis zum 30. Juni 1997 bestand, und bezog bis zum 1. Dezember 1990 Krankengeld. Seither ist ihr Versicherungsverlauf, der von 1984 bis 1990 geschlossen ist, unbelegt. Ab 1991 bezog die Klägerin Sozialhilfe. Sie meldete sich am 14. Mai 1992 beim Arbeitsamt arbeitslos und wurde dort auch am 11. Juni 1992 und 23. Februar 1995 vorstellig. Zu einer Leistungsgewährung kam es nicht, weil das Arbeitsamt sie für arbeitsunfähig und wegen des noch bestehenden Arbeitsverhältnisses für nicht verfügbar hielt.

Der erste Rentenantrag der Klägerin vom 26. November 1990 blieb erfolglos. Sie nahm die Klage 16 J 226/92 am 21. Oktober 1994 zurück, nachdem sie von dem Orthopäden Dr. D. und den Ärzten für Neurologie und Psychiatrie Dr. von B. und Dr. L. untersucht (Gutachten vom 6. Juli 1993 und 27. April 1994, Terminausführungen vom 7. Oktober 1994) und bei ihr ein chronifizierter depressiv-dysphorischer Verstimmungszustand mit Somatisierung diagnostiziert worden war, der die Verrichtung leichter körperlicher Arbeiten mit geringer Verantwortung in wechselnder Körperhaltung - , ohne Akkord-, Schicht- und Nachtarbeit und ohne Arbeiten an gefährdeten Arbeitsplätzen – zulasse. Die Klägerin könne Hemmungen gegenüber einer Arbeitsleistung aus eigener Kraft überwinden.

Den streitbefangenen Rentenantrag stellte die Klägerin am 8. Dezember 1994. Die Beklagte holte von den behandelnden Ärzten Dres. M., M.-T. und von T. Befundberichte ein und ließ die Klägern am 3. August 1995 von der Ärztin für Neurologie und Psychiatrie Dr. von M1 untersuchen, die im Gutachten vom 8. August 1995 eine völlig schwingungsfähige, wenngleich auf die leicht demonstrativ vorgetragenen Beschwerden fixierte Klägerin, die sehr gute Deutschkenntnisse gezeigt habe, beschrieb und einen Verstimmungs- und Versagenszustand mit deutlicher Somatisierungstendenz diagnostizierte. Die Klägerin sei nicht sonderlich depressiv, eher moros verstimmt und latent reizbar sowie einfach strukturiert und kaum introspektionsfähig. In ihren depressiven Tendenzen werde sie durch die Familie unterstützt. Leichte bis mittelschwere Arbeiten vermöge sie noch vollschichtig zu verrichten. Nachdem der Hausarzt Dr. M.-T. von einer Leistungsverweigerungstendenz mit Überbetonung körperlicher Mängel gesprochen und die Ärztin für Neurologie und Psychiatrie B1 der Beurteilung von Dr. M1 zugestimmt hatte, lehnte die Beklagte den Rentenantrag durch Bescheid vom 30. August 1995 ab. Die Klägerin sei weder berufsunfähig noch erwerbsunfähig. Zudem erfülle sie für einen im Zeitpunkt der Antragstellung eingetretenen Leistungsfall nicht die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen, weil der Versicherungsverlauf seit Dezember 1990 unbelegt sei.

Im anschließenden Vorverfahren brachte die Klägerin vor, sie sei von 1989 an für die nicht mehr ausgeübte Tätigkeit als Packerin im (damals) noch bestehenden Arbeitsverhältnis arbeitsunfähig, weil diese Arbeit für sie zu schwer sei. Die Ärztin B1 vermochte sich dem im Hinblick auf die Arbeitsplatzbeschreibung des O.-Versandes vom 11. April 1996 nicht anzuschließen, sodass die Beklagte sich nicht in der Lage sah, eine Anrechnungszeit wegen Arbeitsunfähigkeit über den 1. Dezember 1990 hinaus anzurechnen. Sie wies den Widerspruch durch Widerspruchsbescheid vom 27. Juni 1996 zurück.

Hiergegen richtet sich die am 30. Juli 1996 erhobene Klage. Das Sozialgericht hat Befundberichte von den Dres. K., M. und von T. sowie den Bericht des O.-Versandes vom 23. Januar 1997 eingeholt. Sodann ist die Klägerin von den Ärzten für Neurologie und Psychiatrie Dr. B2 und Dr. L. am 29. Dezember 1997 bzw. 10. September 1998 untersucht worden (Gutachten vom 8. Januar und 16. September 1998). Dr. B2 hat den Befund für unverändert gegenüber früheren gerichtlichen fachpsychiatrischen Erhebungen gehalten. Es bestehe ein chronifizierter Verstimmungs- und Versagenszustand, der unter Berücksichtigung der auf orthopädischem Fachgebiet bestehenden Einschränkungen der Verrichtung leichter körperlicher und einfacher geistiger Arbeiten mit geringer Verantwortung nicht entgegenstehe. Dr. L. hat die Klägerin agil und im Antrieb nicht gemindert, keineswegs mit traurigem Affekt, eher mürrisch-kämpferisch und aufgebracht gefunden und einen depressiv-dysphorischen Verstimmungzustand diagnostiziert, der die Verrichtung leichter vollschichtiger Tätigkeiten ohne Anforderungsdruck zulasse. Hemmungen gegenüber einer Arbeitsaufnahme seien von der Klägerin überwindbar.

Auf Nachfrage des Sozialgerichts hat die Beklagte unter dem 15. Januar 1999 mitgeteilt, die Beitragszahlungsfrist sei durch den am 8. Dezember 1994 gestellten Rentenantrag unterbrochen worden. Die Beitragszahlung sei für die Zeit ab 1. Januar 1991 zulässig. Die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für den Bezug einer Rente wegen Erwerbsunfähigkeit seien zurzeit erfüllt, weil eine Belegung mit Anwartschaftserhaltungszeiten für Kalendermonate, für die eine Beitragszahlung noch zulässig sei, nicht erforderlich sei (§§ 240, 241 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch ( SGB VI )).

Dr. L. hat sich im Termin vom 29. September 1998 auf sein Gutachten bezogen und ausgeführt, sämtliche nervenärztliche Befunde zeigten, dass die Klägerin nicht außer Stande sei, ihre Impulse zu kontrollieren. Es handle sich um bewusstseinsnahe Verhaltensweisen, die ihrem Willen durchaus zugänglich seien und die sie in ihrer Familie wohl auch zur Erreichung bestimmter Ziele einsetze. Es könne allerdings sein, dass der Klägerin von den übrigen Familienmitgliedern keine Grenzen gezeigt würden.

Nachdem sich die Klägerin vom 22. Juli bis 6. August 1999 zur stationären Behandlung im AK E. (Entlassungsbericht vom 30. September 1999) aufgehalten hatte und ein Befundbericht des Internisten und Kardiologen Dr. Z. eingeholt worden war, ist die Klägerin auf Veranlassung des Sozialgerichts am 16. November 1999 von dem Chirurgen Dr. K1 untersucht worden, nach dessen Gutachten vom 17. November 1999 ihr körperlich leichte Frauenarbeiten mit Gewichtsbelastungen bis sechs Kilogramm in wechselnder Körperhaltung zu ebener Erde (ohne häufiges Bücken und mehr als nur gelegentliches Heben der Arme über die Horizontale, ohne Akkord, ohne erhöhten Zeitdruck) in ausreichend trockenen und temperierten Räumen regelmäßig vollschichtig zumutbar sind.

Im Termin vom 29. November 1999 hat das Sozialgericht den Beteiligten eine schriftliche berufskundliche Stellungnahme des Diplomverwaltungswirtes S. ausgehändigt, Dr. K1 gehört und die Klage abgewiesen. Die Klägerin sei nicht erwerbsunfähig, weil sie noch leichte Arbeiten mit Einschränkungen vollschichtig zu verrichten vermöge und wegefähig sei. Sie sei nicht durch eine psychische Erkrankung gehindert, Hemmungen gegenüber einer Arbeitsleistung zu überwinden, vielmehr auf den allgemeinen Arbeitsmarkt verweisbar, auf welchem sie die vom berufskundigen Sachverständigen S. aufgeführten Montier-, Produktions-, Prüf-, Etikettier-, Muster- und Kommissionierungsarbeiten verrichten könne.

Gegen das am 7. Januar 2000 zugestellte Urteil richtet sich die am 21. Januar 2000 eingelegte Berufung.

Die Klägerin beantragt, das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 29. November 1999 aufzuheben und den Bescheid der Beklagten vom 30. August 1995 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27. Juni 1996 zu ändern und die Beklagte zu verurteilen, ihr ab 1. Dezember 1994 Rente wegen Erwerbsunfähigkeit, hilfsweise Rente wegen Erwerbsminderung zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Das Berufungsgericht hat Befundberichte von der Ärztin für Neurologie und Psychiatrie Dr. G., dem Orthopäden Dr. von T. und dem Arzt für Allgemeinmedizin und Chirurgen Dr. K. eingeholt und den (ersten) Antrag der Klägerin, ihr Prozesskostenhilfe (PKH) zu bewilligen, durch Beschluss vom 5. Dezember 2000 abgelehnt.

Auf Antrag nach § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) hat der Arzt für Orthopädie Dr. L1 die Klägerin am 6. Juni 2001 untersucht und das Gutachten vom 12. Juni 2001 erstattet, in welchem er ihre Leistungsfähigkeit ab Dezember 1994 durch eine zunehmende somatoforme Schmerzstörung respektive ein progredientes Fibromyalgie-Syndrom für beeinträchtigt gehalten hat. Um vordergründig psychische Gesundheitsstörungen handle es sich bei der Klägerin nicht. Ihr Leistungsvermögen sei so erheblich reduziert, dass ihr keinerlei körperliche Tätigkeiten mehr abverlangt werden könnten. Sie könne auch Wegstrecken von mehr als 500 Meter nicht mehr zu Fuß bewältigen. Für die Vergangenheit vermöge er, Dr. L1, keine sichere Leistungsbeurteilung abzugeben.

Die Beklagte hat diesem Gutachten entgegen gehalten, dass Dr. L1 keine wesentlichen Leistungseinschränkungen und objektivierbaren krankhaften Befunde am Bewegungsapparat der Klägerin festgestellt habe. Die von ihr angegebenen Schmerzen könnten durch keinen objektivierbaren Befund untermauert werden. Im Übrigen falle eine somatoforme Schmerzstörung vorrangig in das nervenärztliche Fachgebiet.

Der daraufhin vom Gericht eingeschaltete Arzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. N. ist auf Grund der (kurzen) Exploration der Klägerin vom 9. Januar 2002 im Gutachten vom 14. Januar 2002 zu dem Ergebnis gelangt, dass eine somatoforme Störung bei histrionischer Persönlichkeit mit erheblicher, willensgesteuerter demonstrativer Komponente vorliege. Die Klägerin sei wach, soweit überprüfbar orientiert, bewusstseinsklar, im Gespräch (über den Dolmetscher) lebhaft, antworte flüssig und wortreich auf gestellte Fragen, jedoch stets ablehnend, verweigernd und ausweichend. Ihre Grundstimmung sei zwar moros und mürrisch, indes ohne Anhalt für eine tiefer gehende oder gar vitale Schichten erreichende Depression. Im Affekt sei die Klägerin über Strecken gereizt, vorübergehend aggressiv mit nur noch mäßig kontrollierten Impulsen. Sowohl ihr Vortrag als auch ihr Verhalten seien eindeutig willensgesteuert. Anhaltspunkte dafür, dass sie unter einer die freie Willensbildung, die Handlungs- und Gestaltungsfähigkeit einengenden schweren psychischen Erkrankung leide, bestünden nicht. Ihre Ein- und Umstellfähigkeit sei, soweit auf Grund der Exploration feststellbar, nicht beeinträchtigt. Angegebene Erinnerungslücken wirkten demonstrativ vorgetragen. Im Hinblick auf die Veränderungen am Stütz- und Bewegungsapparat sei die Klägerin nur noch in der Lage, leichte körperliche Arbeiten in wechselnder Körperhaltung zu ebener Erde und in ausreichend trockenen und temperierten Räumen ohne körperliche Zwangshaltungen zu verrichten, wegen ihrer psychischen Minderbelastbarkeit nicht unter erhöhtem Zeitdruck, nicht im Akkord und nicht nachts. Eine wesentliche Einschränkung der psychischen Grundfunktionen des Erlebens, Handelns, Gestaltens und Wollens liege nicht vor.

Das Berufungsgericht hat weitere Befundberichte von dem Internisten und Kardiologen Dr. K2 eingeholt. Hiernach ist eine Herzkranzgefäßerkrankung ausgeschlossen worden.

Daraufhin hat der Senat den zweiten PKH-Antrag der Klägerin durch Beschluss vom 19. November 2003 abgelehnt.

Auf weiteren Antrag nach § 109 SGG ist von dem Arzt für Neurologie und Psychiatrie sowie Psychotherapeutische Medizin Privatdozent Dr. L2 auf Grund von Untersuchungen der Klägerin am 30. September, 6. und 13. Oktober 2004 sowie 6. Januar 2005 das Gutachten vom 3. Mai 2005 eingeholt worden. Dr. L2 hat sowohl die Klägerin als auch deren Tochter befragt und auf psychosomatischen Fachgebiet einen tief greifenden, regressiven Versagenszustand mit völliger Erschöpfung der psychophysischen Ressourcen diagnostiziert, bei dem auch körpernahe Beschwerden aufträten, die sich als somatoforme Schmerzstörung oder als Ausdruck einer zusätzlichen Fibromyalgie auffassen ließen. Die berufliche Leistungsfähigkeit der Klägerin sei auf Dauer aufgehoben. Der chronifizierte Versagenszustand habe einen progredienten Verlauf genommen. Wahrscheinlich sei Erwerbsunfähigkeit schon im Zeitpunkt der Begutachtung durch Dr. L1 im Jahr 2001 eingetreten. Dass Dr. N. später noch von einem vollschichtigen Leistungsvermögen ausgegangen sei, liege vor allem in einer anderen Bewertung des willentlichen Vermögens und intentionalen Handelns der Klägerin.

Die Beklagte ist diesem Gutachten unter Vorlage der Stellungnahme nach Aktenlage des Arztes für Psychiatrie/Psychotherapie W. vom 4. Juli 2005 entgegen getreten. Die Einschätzung von Dr. N. gelte weiterhin, weil sich keine neuen Aspekte ergeben hätten. Entscheidend sei, inwieweit Verhaltensweisen von der Klägerin willensnah oder willensfern steuerbar seien. Zumindest bis zum Gutachten von Dr. N. habe Willensnähe vorgelegen. Das von der Klägerin bei Dr. L2 gezeigte eindeutig demonstrative Verhalten und ihre bemerkenswerten Verhaltensweisen, die nicht mit einem definitiven psychischen oder psychiatrischen Krankheitsbild vereinbar seien, ließen nur den Schluss zu, dass die Klägerin in der Lage sei, unter Einsetzung ausreichender Willenskraft eine ihr vermeintlich dienende Begutachtungssituation herbeizuführen in der Hoffnung, dass nur der Schluss gezogen werden könne, sie sei auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt leistungsunfähig. Die Klägerin agiere nicht hilflos, sondern lege willensnah gesteuerte Verhaltensweisen an den Tag. Das Krankheitsausmaß sei nicht derart groß, wie sie vorgebe.

Im Termin am 24. August 2005 ist der Arzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. B3 als medizinischer Sachverständiger gehört worden, der die Klägerin am 9. August 2005, als deren Tochter als Dolmetscherin fungierte, untersucht hat. Wegen des Ergebnisses der Untersuchung wird auf den Befundbericht vom 10. August 2005, wegen der mündlichen Ausführungen Dr. B3 auf den Inhalt der Niederschrift verwiesen.

Ergänzend wird auf den Inhalt der Gerichtsakten, der Verwaltungsakten der Beklagten samt Gutachtenakte, der Leistungsakten des Arbeitsamtes und weiterer Akten und Unterlagen Bezug genommen, die vorgelegen haben und Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung ist statthaft, form- und fristgerecht eingelegt und auch im Übrigen zulässig (§§ 143, 151 Sozialgerichtsgesetz ( SGG )), gleichwohl aber unbegründet.

Das Sozialgericht hat die Klage zu Recht abgewiesen. Der Bescheid der Beklagten vom 30. August 1995 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27. Juni 1996 ist rechtmäßig. Die Klägerin hat ab 1. Dezember 1994 keinen Anspruch auf Rente wegen Erwerbsunfähigkeit, weil sie nicht erwerbsunfähig ist. Sie ist auch nicht erwerbsgemindert und hat daher hilfsweise ebenfalls keinen Anspruch auf Rente wegen voller oder teilweiser Erwerbsminderung.

Versicherte haben bis zur Vollendung des 65. Lebensjahres Anspruch auf Rente wegen Erwerbsunfähigkeit, wenn sie erwerbsunfähig sind, in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsunfähigkeit drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit haben und vor Eintritt der Erwerbsunfähigkeit die allgemeine Wartezeit erfüllt haben (§ 44 Abs. 1 Satz 1 SGB VI a. F.). Diese Voraussetzungen erfüllt die Klägerin nicht. Sie hat zwar die allgemeine Wartezeit von fünf Jahren erfüllt. Ob sie die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen erfüllt, weil eine Beitragszahlung ab 1. Januar 1991 noch zulässig ist (§ 241 Abs. 2 SGB VI a. F.) oder weil für die Jahre 1991 bis 1993 noch Anwartschaftserhaltungszeiten, wie die Klägerin meint, anrechenbar sind, kann indes dahinstehen. Denn die Klägerin ist bereits nicht erwerbsunfähig.

Erwerbsunfähig sind Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, eine Erwerbstätigkeit in gewisser Regelmäßigkeit auszuüben oder Arbeitsentgelt oder Arbeitseinkommen zu erzielen, das ein Siebtel der monatlichen Bezugsgröße übersteigt (§ 44 Abs. 2 Satz 1 Halbsatz 1 SGB VI a. F.). Erwerbsunfähig ist nicht, wer eine Tätigkeit vollschichtig ausüben kann; dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen (§ 44 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 SGB VI a. F.). Diese Voraussetzungen liegen bei der Klägerin nicht vor.

Auf internistischem Fachgebiet liegt bei der Klägerin neben einem Übergewicht eine relevante Krankheit nicht vor. Eine koronare Herzkrankheit ist ausgeschlossen worden. Eine leichtgradige Aortenklappeninsuffizienz bei leichter Aortenwurzelektasie macht eine Behandlung nicht erforderlich, weil sie keine funktionelle Bedeutung hat.

Auf orthopädischem Fachgebiet leidet die Klägerin an degenerativen Veränderungen der Wirbelsäule mit Minderung der Belastbarkeit und wechselnden mäßiggradigen Funktionseinschränkungen im Sinne eines Wirbelsäulensyndroms bei ausgeprägter Osteochondrose bei LWK 5/SWK 1, an einer Bewegungseinschränkung beider Schultergelenke mit entsprechender, die Arme und Hände einschließender Minderbelastbarkeit und an einer mäßigen Fehlstatik der Beine und Füße beidseits. Für eine entzündlich-rheumatische Erkrankung besteht kein Anhalt, eine motorische Störung oder radikuläre Symptomatik liegt nicht vor. Die von der Klägerin angegebene Druckschmerzhaftigkeit im Bereich der Schultergürtel- und Nackenmuskulatur und im Bereich der gesamten langen Rückenstrecker geht mit einer gewissen demonstrativen Ausgestaltung einher. Zwar hat das AK E. ihre Beschwerden im Rahmen eines Fibromyalgie-Syndroms gesehen, zumal die Klägerin eine Druckschmerzhaftigkeit auch an den für ein Fibromyalgie-Syndrom typischen tender points geklagt hat. Bei Dr. K1 sind indes typische tender points nicht zum Nachweis gekommen und hat eine auffällige Diskrepanz zwischen der angegebenen Druckschmerzhaftigkeit und dem Fehlen entsprechender muskulärer Verspannungen bestanden. Auch bei Dr. L1 waren allenfalls vier tender points im Schulter-Nacken-Bereich und im oberen Extremitätenbereich druckschmerzhaft, was für die sichere Diagnose einer Fibromyalgie nicht ausreicht. Soweit Dr. L1 dennoch entweder ein progredientes Fibromyalgiesyndrom oder – ohne einen organischen Befund zu objektivieren - eine zunehmende Schmerzstörung als gegeben erachtet, unterstellt er, dass eine demonstrierte Schmerzäußerung, eine Aggravation oder eine Simulationstendenz nicht vorliegen. Er übernimmt die von der Klägerin gemachten Angaben unkritisch als glaubhaft und sieht ihr Verhalten in der Untersuchungssituation zu Unrecht als Beleg dafür an, dass sie "körperlich ausgebrannt und am Ende" ist. Dr. N. hat hingegen ein halbes Jahr später eine sich ausgesprochen stark selbst beobachtende Klägerin vorgefunden, die durchaus in der Lage war, ihr Verhalten willentlich zu steuern. Er hat keinen Anhaltspunkt dafür gefunden, dass die Klägerin unter einer die freie Willensbildung, die Handlungs- und Gestaltungsfähigkeit einengenden schweren psychischen Erkrankung leidet. Vielmehr hat er die von ihr vorgetragenen Beschwerden und gemachten Angaben als zielgerichtet und die angegebenen Erinnerungslücken als demonstrativ vorgetragen bezeichnet. Selbst wenn man die von der Klägerin behaupteten Beeinträchtigungen als anhaltende somatoforme Störung bzw. als somatoforme Schmerzstörung auffasst, sind die hieraus resultierenden Beeinträchtigungen angesichts des erhobenen psychopathologischen Befunds nur als gering einzustufen.

Der Senat vermag dem Gutachten Dr. L2, das zu einer anderen Bewertung gelangt, nicht zu folgen. Soweit Dr. L2 meint, dass es spätestens seit der Untersuchung der Klägerin durch Dr. N. und unter dem Einfluss massiver psychosozialer Belastungen bei ihr zu einem progredienten Verlauf, zu einer vollständigen Erschöpfung der psychophysischen Ressourcen und zu einem Verlust des Vermögens einer eigenständigen Lebensführung gekommen ist, vermag dies nicht zu überzeugen. Der von Dr. L2 erhobene psychopathologische Befund unterscheidet sich nicht von dem von den Vorgutachtern bisher erhobenen. Auch Dr. L2 berichtet von demonstrativen und wenig glaubhaften Verhaltensweisen. Diese stehen zur Überzeugung des Senats der Annahme eines tief greifenden regressiven Versagenszustandes entgegenstehen, weil ansonsten das psychische Querschnittsbild, welches sich bisher einheitlich geboten hat, vernachlässigt würde. Diesem Querschnittsbild entspricht es nicht, das Verhalten der Klägerin als "hilfloses Agieren" einzuordnen. Vielmehr ist auch noch gegenwärtig davon auszugehen, dass die Klägerin bewusstseins- und willensnahe, von ihr steuerbare und gesteuerte Handlungen und Verhaltensweisen an den Tag legt. Der Senat sieht sich in seiner Einschätzung durch die Bekundung Dr. B3 bestätigt. Hiernach liegt bei der Klägerin weder eine neurologische Krankheit vor noch ist aufgrund ihres demonstrativen und im Wesentlichen willensgesteuerten Verhaltens ein psychiatrisches Leiden von Krankheitswert festzustellen. Zwar hat Dr. B3 eingeräumt, eine psychiatrische Erkrankung der Klägerin nicht ausschließen zu können. Er hat aber gleichzeitig bekundet, dass er dies für eher unwahrscheinlich halte. Soweit er dies damit begründet, dass die Klägerin willensgesteuert eine psychiatrische Untersuchung abgelehnt, bei der körperlichen Untersuchung, bei der ganz präzise Aufforderungen zu befolgen gewesen seien, aber lebhaft und kooperativ mitgewirkt habe, erscheint dies nachvollziehbar. Denn es lässt höchstwahrscheinlich nur den Schluss zu, dass die Klägerin, soweit sie nicht mitwirkt, dies nicht aus Krankheitsgründen, sondern aus zielgerichteten, willensgesteuerten Motiven tut. Dies spricht für ein demonstratives Verhalten, aus dem die Klägerin einen sekundären Krankheitsgewinn schöpft. Der Senat verkennt nicht die schwierige persönliche und familiäre und über Jahre bedrückende Situation der Klägerin. Er kann seine Feststellungen aber nur auf dem Boden einer zweifelsfrei festgestellten psychiatrischen Erkrankung treffen. Eine solche Erkrankung, aufgrund derer die Klägerin Hemmungen gegenüber einer Arbeitsaufnahme aus eigener Kraft nicht mehr zumutbar überwinden kann, vermag er mit der erforderlichen, an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit aber nicht festzustellen. Insoweit trägt die Klägerin die Feststellungslast.

Nach alledem ist nach wie vor von einer vollschichtigen Einsatzfähigkeit der Klägerin für einfache, geistig wenig anspruchsvolle Tätigkeiten mit geringer Verantwortung auszugehen. Diese Tätigkeiten mit Gewichtsbelastungen bis sechs Kilogramm vermag die Klägerin zu ebener Erde in geschlossenen und temperierten Räumen in wechselnder Körperhaltung, vornehmlich auch im Sitzen, ohne Akkord-, Schicht- und Nachtarbeit, nicht im häufigen Bücken sowie nicht an gefährdeten Arbeitsplätzen zu leisten. Überkopfarbeiten dürfen hierbei nur gelegentlich anfallen.

Eine schwere spezifische Leistungsbehinderung oder eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen liegt nicht vor. Vielmehr ist der bei der Klägerin festzustellende somatische Befund nicht besonders gravierend. Die Klägerin ist auch wegefähig. Es fehlt an jeglichem orthopädischem Befund, der der Klägerin nicht gestattete, viermal am Tag mehr als 500 Meter in je einer Viertelstunde zurückzulegen. Ein psychiatrischer Befund steht, wie ausgeführt, ihrem Gehvermögen nicht entgegen. Die Klägerin ist daher auf den allgemeinen Arbeitsmarkt verweisbar. Findet sie auf diesem keinen leidensgerechten Arbeitsplatz, so ist sie allenfalls arbeitslos, nicht aber erwerbsunfähig.

Ein Anspruch auf Rente wegen voller oder teilweiser Erwerbsminderung gemäß § 43 SGB VI n. F. besteht nicht, weil hiernach eine Erwerbsminderung nicht vorliegt, wenn eine Versicherte noch ein Leistungsvermögen für eine Tätigkeit von täglich sechs Stunden hat. Ein entsprechender Leistungsfall ist seit 2001 bei der Klägerin nicht eingetreten. Ihr festgestelltes vollschichtiges Leistungsvermögen liegt oberhalb dieser Grenze.

Die Berufung hat daher keinen Erfolg und ist zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Der Senat hat die Revision gemäß § 160 Abs. 2 Nr. 1 oder 2 SGG nicht zugelassen, weil die Voraussetzungen hierfür fehlen.
Rechtskraft
Aus
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