L 1 RJ 58/03

Land
Hamburg
Sozialgericht
LSG Hamburg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
1
1. Instanz
SG Hamburg (HAM)
Aktenzeichen
S 15 RJ 949/00
Datum
2. Instanz
LSG Hamburg
Aktenzeichen
L 1 RJ 58/03
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
1. Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 12. März 2003 aufgehoben und die Klage abgewiesen. 2. Kosten sind nicht zu erstatten. 3. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Streitig ist ein Anspruch auf Rente wegen Berufsunfähigkeit für die Zeit ab 1. Februar 2000.

Der am XX.XXXXXX 1947 geborene Kläger erlernte keinen Beruf. 1981 wurde er als Kraftfahrer von Fahrzeugen der Führerscheinklasse 2 bei der Deutschen Bundespost eingestellt und zunächst als solcher unter Einstufung in die Lohngruppe II (heute: 6) des Tarifvertrages für die Arbeiter der Deutschen Bundespost (TV Arb) beschäftigt. 1986 bestand er die Postbetriebliche Prüfung. Mit Wirkung zum 1. Oktober 1990 wurde er in Lohngruppe 6 a TV Arb eingruppiert. Nach Zeiten längerer Arbeitsunfähigkeit wurde er im Juni 1999 für 2 bis 3 Wochen als Kraftfahrer auf Fahrzeugen der Führerscheinklasse 3 in der Briefkastenleerung eingesetzt. Anschließend war er wieder arbeitsunfähig erkrankt. Das Arbeitsverhältnis endete am 29. Februar 2000. Der Kläger bezieht seitdem eine Rente wegen Dienstunfähigkeit von der Beigeladenen.

Den Antrag des Klägers vom 11. Januar 2000 auf Gewährung einer Rente wegen Erwerbsunfähigkeit lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 2. März 2000 ab. Sie wies den hiergegen gerichteten Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 18. Juli 2000 als unbegründet zurück.

Im Klageverfahren vor dem Sozialgericht sind Befundberichte und eine Stellungnahme der Deutschen Post AG eingeholt worden. Der Chirurg Dr. H. hat nach Untersuchung des Klägers das Gutachten vom 4. Juli 2002 erstellt. Er ist zu dem Ergebnis gekommen, dass der Kläger leichte und mittelschwere körperliche Tätigkeiten mit gewissen Einschränkungen vollschichtig verrichten könne. Die zu bewegenden Gegenstände dürften nicht schwerer als 12 kg sein. Die Psychiaterin und Neurologin B. hat unter dem 30. Januar 2003 ein Gutachten nach Untersuchung erstattet. Der Kläger könne auch ihrer Ansicht nach noch leichte, zeitweilig mittelschwere körperliche Tätigkeiten mit gewissen Einschränkungen verrichten.

Das Sozialgericht hat die Gutachterin B. und den berufskundlichen Sachverständigen M. gehört. Es hat der Klage mit Urteil vom 12. März 2003 teilweise stattgegeben und die Beklagte verurteilt, dem Kläger ab 1. Februar 2000 eine Rente wegen Berufsunfähigkeit zu gewähren. Der Kläger könne nur noch leichte, zeitweilig mittelschwere Tätigkeiten mit gewissen Einschränkungen vollschichtig verrichten. Wegen seines herabgesetzten Leistungsvermögens könne er seinen bisherigen Beruf als Kraftfahrer nicht mehr ausüben. Er sei aufgrund seiner tariflichen Eingruppierung als Facharbeiter einzustufen. Denn bei Nichtberücksichtigung qualitätsfremder Merkmale wäre er nach den Tätigkeitsmerkmalen zumindest in die Facharbeiter-Lohngruppe IV für Arbeiter einzugruppieren gewesen.

Gegen das ihr am 18. März 2003 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 11. April 2003 Berufung eingelegt. Der Kläger sei nicht als Facharbeiter einzustufen. Er habe mit dem Fahren eines Fahrzeuges der Führerscheinklasse 3 nicht einmal einen Teilbereich der Tätigkeit eines Berufskraftfahrers ausgeübt. Die ursprüngliche Eingruppierung sei nach dem Tarifvertrag aufgrund der Ausübung einer Tätigkeit auf einem Beamtendienstposten und der abgelegten Postbetrieblichen Prüfung erfolgt. Es bestünden konkrete Anhaltspunkte, dass qualitätsfremde Erwägungen der Tarifvertragsparteien Berücksichtigung gefunden hätten.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 12. März 2003 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er hält der Auffassung der Beklagten entgegen, dass die tarifliche Einstufung der Kraftfahrer bei der Post den mit der Teilnahme am Straßenverkehr verbundenen Gefahren und der Beachtung der erforderlichen Sorgfalt sowie der Straßenverkehrsvorschriften habe Rechnung tragen sollen.

Die Beigeladene hat keinen Antrag gestellt.

Der Senat hat die Vollstreckung aus dem Urteil des Sozialgerichts bis zur Erledigung des Rechtsstreits in der Berufungsinstanz mit einstweiliger Anordnung vom 29. März 2004 ausgesetzt. Mit Beschluss vom 14. März 2005 hat er die Deutsche Post AG beigeladen. Er hat die Verwaltungsakten der Beklagten und des Versorgungsamtes Hamburg, sowie die Personalakte der Beigeladenen beigezogen und zusammen mit den Prozessakten zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemacht.

Entscheidungsgründe:

Die statthafte und form- und fristgerecht eingelegte Berufung ist zulässig und begründet.

Das Sozialgericht hat der Klage zu Unrecht teilweise stattgegeben. Der Bescheid der Beklagten vom 2. März 2000 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18. Juli 2000 ist rechtmäßig. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Gewährung einer Rente wegen Berufsunfähigkeit, weil er nicht berufsunfähig ist.

Berufsunfähig sind nach § 43 Abs. 2 Sätze 1 und 2 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI) in der Fassung bis 31. Dezember 2000 (a. F.) Versicherte, deren Erwerbsfähigkeit wegen Krankheit oder Behinderung auf weniger als die Hälfte derjenigen von körperlich, geistig und seelisch gesunden Versicherten mit ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten gesunken ist. Der Kreis der Tätigkeiten, nach denen die Erwerbsfähigkeit von Versicherten zu beurteilen ist, umfasst alle Tätigkeiten, die ihren Kräften und Fähigkeiten entsprechen und ihnen unter Berücksichtigung der Dauer und des Umfangs ihrer Ausbildung sowie ihres bisherigen Berufs und der besonderen Anforderungen ihrer bisherigen Berufstätigkeit zugemutet werden können. Berufsunfähig ist gemäß § 43 Abs. 2 Satz 4 SGB VI a. F. nicht, wer ohne Berücksichtigung der jeweiligen Arbeitsmarktlage eine zumutbare Tätigkeit vollschichtig ausüben kann. Diese Voraussetzungen sind nicht erfüllt.

Der Kläger ist nach der überzeugenden Einschätzung der Gutachter Dr. H. und B. noch in der Lage, leichte und zeitweilig mittelschwere körperliche Tätigkeiten in wechselnder Körperhaltung, nicht ausschließlich im Stehen, ohne Zeitdruck, Akkord- oder Nachtarbeit, in geschlossenen Räumen, zu ebener Erde und ohne besondere seelische Belastung vollschichtig zu verrichten. Die zu bewegenden Gegenstände dürfen nicht schwerer als 12 kg sein.

Mit diesem Leistungsvermögen vermag der Kläger seinen bisherigen Beruf als Kraftwagenfahrer bei der Deutschen Post AG nicht mehr auszuüben. Denn nach der Auskunft der Deutschen Post AG vom 20. August 2002 hat zu den körperlichen Anforderungen seiner Tätigkeit u. a. das Heben und Tragen von Beuteln bis 40 kg gehört.

Als bisheriger Beruf des Klägers ist der des Kraftfahrers mit Führerscheinklasse 2 anzusehen. Diese Tätigkeit hat er vor seiner Umsetzung im Betrieb von 1981 bis Mai 1999 ausgeübt. Durch seine Umsetzung ab Juni 1999 auf eine Stelle als Kraftfahrzeugführer der Führerscheinklasse 3 in der Briefkastenleerung hat er sich von dieser Tätigkeit nicht gelöst. Zwar liegt eine Lösung auch bei einer Umsetzung im Betrieb aus rein betrieblichen Gründen vor (vgl. BSG 21. 7. 76 - 5 RKn 19/75, SozSich 1976, 348). Voraussetzung ist aber, dass sich der Arbeitnehmer damit abfindet. Das ist nach der Rechtsprechung des BSG der Fall, wenn die neue Tätigkeit längere Zeit ohne Bemühungen der Rückkehr zur früheren Arbeit ausgeübt wird und der Arbeitgeber eine solche Rückkehr nicht in Aussicht stellt (vgl. BSG a. a. O.; BSG 25. 4. 78 - 5 RKn 9/77, SozR 2600 § 45 Nr. 22). Diese Voraussetzung ist vorliegend nicht erfüllt. Denn der Kläger war nicht längere Zeit, sondern nur 2 bis 3 Wochen auf der neuen Stelle eingesetzt. Bei einem so kurzen Zeitraum im Verhältnis zu seiner vorherigen fast 20 Jahre ausgeübten Tätigkeit ist nicht davon auszugehen, dass er sich bereits mit der Umsetzung im Betrieb abgefunden hatte.

Damit ist der Kläger aber noch nicht berufsunfähig. Denn ein Anspruch auf Rente wegen Berufsunfähigkeit steht dem Versicherten nicht schon dann zu, wenn er seinen bisherigen Beruf aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr ausüben kann. Hinzukommen muss vielmehr, dass für den Versicherten auch keine sozial zumutbare Erwerbstätigkeit im Sinne des § 43 Abs. 2 Satz 2 SGB VI a. F. mehr vorhanden ist, die er mit dem ihm verbliebenen Leistungsvermögen noch ausführen kann. Die soziale Zumutbarkeit einer Verweisungstätigkeit richtet sich dabei nach der Wertigkeit des bisherigen Berufs. Zur Prüfung der Wertigkeit des bisherigen Berufs hat die Rechtsprechung das so genannte Mehrstufenschema entwickelt; dieses Schema untergliedert die Arbeiterberufe in verschiedene Berufsgruppen. Diese Berufsgruppen werden durch die Leitberufe des Vorarbeiters mit Vorgesetztenfunktion bzw. des besonders hoch qualifizierten Facharbeiters, des Facharbeiters (anerkannter Ausbildungsberuf mit einer Regelausbildungszeit von mehr als zwei Jahren), des angelernten Arbeiters und des ungelernten Arbeiters charakterisiert (vgl. BSG 28. 11. 85 - 4a RJ 51/84, SozR 2200 § 1246 Nr. 132; 7. 8. 86 - 4a RJ 73/84, SozR 2200 § 1246 Nr. 138; 9. 9. 86 - 5b RJ 82/85, SozR 2200 § 1246 Nr. 140). Im Rahmen dieses Mehrstufenschemas ist der Kläger der dritten Berufsgruppe mit dem Leitberuf des Facharbeiters zuzuordnen. Denn er übte mit seiner fast 20-jährigen Tätigkeit als Kraftwagenfahrer mit Führerscheinklasse 2 die Arbeiten eines Berufskraftfahrers mit 3-jähriger Berufsausbildung aus. Darüber hinaus war er mit der Lohngruppe II (heute: 6) des TV Arb von Beginn seiner Beschäftigung an in eine Facharbeiterlohngruppe eingruppiert. Zwar war die konkrete Einstufung des Klägers in Lohngruppe 6 a TV Arb auch dadurch begründet, dass er einen Beamtendienstposten ausübte und einen Tätigkeitsaufstieg erfahren hatte (TV Nr. 406). Jedoch wäre er als Kraftfahrer mit Führerscheinklasse 2 im Straßenpostdienst auch ohne Vorliegen dieser qualitätsfremden Merkmale nach dem Verzeichnis der Tätigkeitsmerkmale (§ 17 der Anlage 2 zum TV Arb) in Lohngruppe 5 Ziffer 5 – eine Facharbeiterlohngruppe – einzustufen gewesen.

Auf Grund dieser Bewertung des bisherigen Berufs des Klägers als Facharbeitertätigkeit ist er sozial zumutbar auf alle Tätigkeiten der nächstniedrigeren Berufsgruppe verweisbar, für die sein Restleistungsvermögen noch ausreicht (vgl. BSG 21. 7. 87 - 4a RJ 39/86, SozR 2200 § 1246 Nr. 143 m. w. N.). Als solcher Verweisungsberuf kommt beim Kläger der Einsatz als Telefonist in Betracht. Die Tätigkeit eines Telefonisten umfasst die Bedienung von Telefon- und Fernsprechzentralen, die Erteilung von Auskünften, die Registrierung von Gesprächen, die Entgegennahme und Weitergabe von Telegrammen, Telefaxen und ähnlichem sowie die Entgegennahme und Niederschrift von Nachrichten für Teilnehmer, die vorübergehend abwesend sind (vgl. Hessisches LSG 26.05.00 – L 13 RJ 411/98, n. v.; Bayerisches LSG 15.12.04 – L 20 RJ 500/02, n. v.). Die Arbeit des Telefonisten verlangt nur leichte körperliche Anforderungen und es ist je nach Organisation des Betriebes und des einzelnen Arbeitsplatzes im Bedarfsfall ein Wechsel der Körperhaltung möglich. Ein längeres Stehen ist nicht erforderlich. Diese Arbeiten sind dem Kläger daher unter Berücksichtigung seines bereits festgestellten Leistungsvermögens zumutbar. Der Senat ist auch davon überzeugt, dass der Kläger in der Lage ist, sich auf neue berufliche Anforderungen einzustellen und für den Einsatz als Telefonist keine über den Zeitraum von drei Monaten hinausgehende Einweisungs- oder Anlernzeit benötigt. Denn die Psychiaterin und Neurologin B. hat ihm in ihrem Gutachten vom 30. Januar 2003 ein noch vorhandenes Leistungsvermögen für durchschnittliche geistige Tätigkeiten bescheinigt. Sie hat sein Denken als weder verlangsamt noch beschleunigt beschrieben. Seine Konzentration sei über den gesamten Untersuchungszeitraum gut, die Ein- und Umstellfähigkeit nicht verzögert und die Kritik nicht gemindert gewesen.

Bei der Tätigkeit des Telefonisten handelt es sich zwar weder um einen Ausbildungsberuf noch um eine Tätigkeit, die eine echte betriebliche Ausbildung von wenigstens drei Monaten Dauer erfordert. Die Tätigkeit des Telefonisten wird jedoch wegen ihrer Qualität wie sonstige Ausbildungsberufe bewertet und tariflich eingestuft (vgl. Hessisches a. a. O.; Bayerisches LSG a. a. O.). Die tarifliche Zuordnung erfolgt überwiegend zumindest als angelernte Tätigkeit, in einigen Fällen sogar als Facharbeitertätigkeit.

Mit dem vorstehend beschriebenen Leistungsvermögen und der aufgezeigten Verweisungsmöglichkeit ist der Kläger deshalb nicht berufsunfähig im Sinne des § 43 SGB VI a. F.

Nach dem ab 1. Januar 2001 geltenden Recht besteht kein Anspruch auf Gewährung einer Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit, weil die insoweit ab 1. Januar 2001 geltende Vorschrift des § 240 SGB VI noch weitergehende Leistungsvoraussetzungen normiert als das bisherige Recht.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Sozialgesetzbuch (SGG).

Der Senat hat die Revision gemäß § 160 Abs. 2 Nr. 1 oder Nr. 2 SGG nicht zugelassen, weil die Voraussetzungen hierfür nicht vorliegen.
Rechtskraft
Aus
Saved