L 3 SB 7/11

Land
Hamburg
Sozialgericht
LSG Hamburg
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
3
1. Instanz
SG Hamburg (HAM)
Aktenzeichen
S 30 SB 467/09
Datum
2. Instanz
LSG Hamburg
Aktenzeichen
L 3 SB 7/11
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung wird zurückgewiesen. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen. &8195;

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Nutzung von Parkplätzen mit Rollstuhlfahrersymbol (Zeichen 314 und 315) nach § 45 der Straßenverkehrsordnung (StVO) streitig.

Bei der am 21. November 1961 geborenen Klägerin bestehen seit Geburt Fehlbildungen der Arme und Finger durch Contergan in Form von hypoplastischen Armen, verkürzten Unterarmen, Fehlbildung der Hände (Klumphände) und Finger sowie Funktionseinschränkungen der Gelenke. Wegen dieser Gesundheitsstörungen waren bei ihr ein Grad der Behinderung (GdB) von 100 sowie Hilflosigkeit (Merkzeichen H) und eine erhebliche Gehbehinderung (Merkzeichen G) festgestellt worden (Bescheide vom 2. November 1976 und 20. Februar 1984). Am 19. Mai 2009 beantragte die Klägerin bei der Beklagten die Ausstellung eines Parkausweises für Behindertenparkplätze. Diesen Antrag lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 12. Juni 2009 mit der Begründung ab, dass nach § 6 Straßenverkehrsgesetz (StVG) nur die Personengruppe der schwerbehinderten Menschen berechtigt sei, bei denen eine beidseitige Amelie (vollständiges Fehlen beider Arme) oder Phokomelie (Hände sitzen unmittelbar an der Schulter an) oder eine vergleichbare Funktionseinschränkung vorliege. Zu dieser Personengruppe gehöre die Klägerin nicht. Mit ihrem gegen diese Entscheidung eingelegten Widerspruch machte die Klägerin geltend, sie gehöre zu der Personengruppe, bei der eine vergleichbare Funktionseinschränkung vorliege. Die Beklagte zog das Schreiben des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales vom 25. Juni 2009 zu den "erweiterten Parkmöglichkeiten für Schwerbehinderte Menschen" bei, in welchem es unter anderem heißt, dass unter vergleichbaren Funktionseinschränkungen ein völliger Funktionsverlust der Arme inklusive der Schulter- und Ellenbogengelenke zu verstehen sei. Unter Hinweis auf diese Ausführungen wies die Beklagte den Widerspruch durch Widerspruchsbescheid vom 2. September 2009 zurück.

Mit ihrer dagegen erhobenen Klage hat die Klägerin unter Hinweis auf das Attest der Internisten Dres. M./ Z. vom 15. Januar 1998 und das Gutachten zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung H. vom 27. Januar 1998 geltend gemacht, bei ihr liege eine Phokomelie vor. Zwar seien die Oberarme vorhanden, jedoch leide sie unter stark eingeschränkten Schulterfunktionen, so dass ihr für die Alltagsverrichtungen notwendige Drehbewegungen im Schulterbereich nicht möglich seien. Auch seien bei ihr zwar Elle und Speiche auf beiden Seiten vorhanden, jedoch ebenso wie Hand- und Ellenbogengelenke völlig funktionslos. Umwendebewegungen der Arme seien daher nicht möglich. Unabhängig davon sei es Wille des Gesetzgebers gewesen, der Forderung des Bundesverbandes Contergangeschädigter nachzukommen und allen Contergangeschädigten die entsprechende Parkerleichterung zu ermöglichen. Ausweislich der Begründung der Bundesregierung zum Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des StVG vom 13. Oktober 2008 (BT-Drucksache 16/10534) seien die Bedürfnisse der Contergangeschädigten nachvollziehbar und auch auf Grund der relativ geringen Anzahl der Betroffenen aus verkehrsrechtlicher Sicht vertretbar. Nach dem Willen des Gesetzgebers seien daher Contergangeschädigte, bei denen nicht ein vollständiges Krankheitsbild der ausdrücklich erwähnten Amelie und Phokomelie vorliege, grundsätzlich unter den Begriff der "vergleichbaren Funktionseinschränkungen" zu subsumieren. Deshalb würden auch nach der Verwaltungspraxis der Städte Wuppertal und Münster sowie der Bayerischen Staatsregierung alle Menschen mit Conterganschäden ohne Differenzierung in den Berechtigtenkreis aufgenommen werden.

Der Orthopäde Dr. N. hat in seinem auf Veranlassung des Sozialgerichts nach Untersuchung der Klägerin erstellten Gutachten vom 18. Juni 2010 das Vorliegen einer Amelie oder Phokomelie wie auch das Vorliegen eines völligen Funktionsverlustes der Arme inklusive Schulter- und Ellenbogengelenke verneint. Trotz der komplexen Fehlbildung sei die Klägerin in der Lage, die Arme zumindest in einem gewissen Umfang im täglichen Leben einzusetzen. Es bestehe eine funktionell durchaus bedeutsame Bewegungsmöglichkeit mit auch nicht unbedeutender Kraftentfaltung im Bereich beider Schultern. Im Termin zur mündlichen Verhandlung am 30. März 2011 hat das Sozialgericht zusätzlich die Chirurgin Dr. S. als medizinische Sachverständige gehört, die darauf hingewiesen hat, dass der Klägerin ein Aneinanderbringen der Hände vor dem Körper zum Bedienen einer Computertastatur möglich sei. Auch könne sie leichtere Gegenstände zwischen Oberarm und Rumpf einklemmen und so transportieren. Darüber hinaus sei die Spitzgrifffunktion zwischen dem als Daumen operativ umgebildeten Zeigefinger und den übrigen Langfingern möglich.

Durch Urteil vom 30. März 2011 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Die nach § 69 Abs. 4 Neuntes Sozialgesetzbuch – Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen – (SGB IX) für die Feststellung gesundheitlicher Merkmale zur Inanspruchnahme von Nachteilsausgleichen (§ 126 SGB IX), unter anderem von Parkerleichterungen zuständige Beklagte habe das Begehren der Klägerin zu Recht mit den angefochtenen Bescheiden abgelehnt, da die Klägerin die Voraussetzungen der §§ 6 Abs. 1 Nr. 14 StVG, 42 Abs. 4 Nr. 2 Satz 1 i.V.m. 45 Abs. 1b Nr. 2 StVO und den zu §§ 45, 46 StVO ergangenen Allgemeinen Verwaltungsvorschriften (VwV zu § 45 Abs. 1 bis 1e Nr. IX RdNr. 19-22, zu § 46 Abs. 1 Nr. 11, RdNr. 135) für die begehrte Parkerleichterung nicht erfülle. Bei ihr bestehe weder eine Amelie noch eine Phokomelie. Auch bestünden keine der Amelie oder Phokomelie vergleichbaren Funktionseinschränkungen, da die Klägerin ihre Arme und Hände noch in dem von den Sachverständigen beschriebenen Umfang einsetzen könne. Der Kreis der Begünstigten könne auch nicht durch eine weitergehende Auslegung der "vergleichbaren Funktionseinschränkungen" auf alle Contergangeschädigten ausgeweitet werden, da der Gesetzgeber bei der Formulierung des Berechtigtenkreises ausdrücklich nicht auf eine Conterganschädigung, sondern auf die körperliche Einschränkung unabhängig von deren Ursache abgestellt habe. Aus einer abweichenden Verwaltungspraxis anderer Bundesländer oder einzelner Kommunen könne die Klägerin nichts herleiten, da es einen Anspruch auf gleichermaßen rechtswidrige Verwaltungsgewährung nicht gebe.

Gegen das am 26. April 2011 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 26. Mai 2011 Berufung eingelegt, mit der sie ihr Begehren weiter verfolgt. Zur Begründung macht sie geltend, dass es medizinhistorisch Definitionsschwierigkeiten hinsichtlich der Conterganschädigungen und der damit einhergehenden Verwendung medizinischer Fachbegriffe gebe. Viele der Fehlbildungen ließen sich nicht oder nur unzureichend unter die bereits bestehenden medizinischen Begrifflichkeiten subsumieren. Soweit bei ihr sowohl in dem Attest des behandelnden Internisten vom 15. Januar 1998 als auch in dem Pflegegutachten vom 27. Januar 1998 die Diagnose "Phokomelie" gestellt worden sei, sei nicht ersichtlich, warum diese Diagnose keinen Bestand mehr haben solle. Unabhängig davon liege bei ihr ausweislich der Feststellungen des Sachverständigen Dr. N. eine der Amelie oder Phokomelie vergleichbare Funktionseinschränkung vor. Der Sachverständige habe unter anderem auf die fehlende Innenrotation der Arme und im Bereich der Schultern, die Verkümmerung der Oberarmmuskulatur, die hochgradige Verkürzung der Unterarme und die Klumphandstellung hingewiesen. Diese vom Sachverständigen bestätigten starken Einschränkungen führten dazu, dass sie unter die vom Gesetzgeber angedachte Personengruppe für Parkerleichterungen falle. Ausweislich des bereits eingereichten Gesetzentwurfes sei es dem Gesetzgeber ausdrücklich darauf angekommen, allen Contergangeschädigten die Nutzung von Behindertenparkplätzen zu ermöglichen. Diese Erleichterung solle gewährt werden, um die zum Ausgleich der fehlenden Handfunktion besonders belasteten Füße zu schonen. Dies hätten andere Bundesländer richtig erkannt, indem sie entsprechend dem Willen des Gesetzgebers allen contergangeschädigten Menschen die Parkerleichterungen zu Gute kommen ließen.

Die Klägerin beantragt, das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 30. März 2011 sowie den Bescheid der Beklagten vom 12. Juni 2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 2. September 2009 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, der Klägerin eine Bescheinigung über die Erfüllung der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Nutzung von Parkplätzen mit Rollstuhlfahrersymbol (Zeichen 314 und 315) nach § 45 der Straßenverkehrsordnung auszustellen.

Die Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen.

Sie ist der Auffassung, das Sozialgericht habe die Klage zu Recht und mit zutreffenden Gründen abgewiesen.

Hinsichtlich des weiteren Vorbringens der Beteiligten und des Sachverhalts im Übrigen wird Bezug genommen auf den Inhalt der in der Sitzungsniederschrift vom 3. Juli 2012 aufgeführten Akten und Unterlagen, die vorgelegen haben und Gegenstand der mündli-chen Verhandlung und Beratung gewesen sind.

Entscheidungsgründe:

Die statthafte, form- und fristgerecht eingelegte und auch im Übrigen zulässige Berufung (§§ 143, 144, 151 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz – SGG –) der Klägerin ist unbegründet. Zu Recht hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen, da die Bescheide der Beklagten betreffend die Ablehnung der Ausstellung einer Bescheinigung über die Erfüllung der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Nutzung von Parkplätzen mit Rollstuhlfahrersymbol rechtmäßig sind.

Die Benutzung der gekennzeichneten Behindertenparkplätze ist der Personengruppe der außergewöhnlich Gebehinderten sowie der Blinden und seit 2009 zusätzlich Menschen mit Amelie oder Phokomelie oder vergleichbaren Funktionseinschränkungen vorbehalten. Streitgegenstand des Verfahrens ist allein, ob die Klägerin zu der letztgenannten Personengruppe gehört. Das Sozialgericht hat mit seinem Urteil vom 30. März 2011 unter vollständiger Darlegung der Sach- und Rechtslage und mit zutreffenden Gründen entschieden, dass die in den straßenverkehrsrechtlichen Regelungen aufgeführten Voraussetzungen für die Parkerleichterung bei der Klägerin nicht vorliegen, weil bei ihr weder eine Amelie oder Phokomelie noch mit diesen Gesundheitsstörungen vergleichbare Funktionseinschränkungen bestehen. Es hat dabei zu Recht die von den Sachverständigen Dr. N. und Dr. S. anhand der Untersuchung bzw. der Aktenlage festgestellten Befunde dahingehend bewertet, dass bei der Klägerin Gliedmaßen vorhanden sind, so dass eine Amelie nicht vorliegt. Zwar ist der Unterarm der Klägerin extrem verkürzt und dysplastisch, jedoch ist der Oberarm vom äußeren Aspekt her weitgehend regelgerecht angelegt und an den Unterarm schließt sich – wenn auch in massiver Fehlstellung – eine Hand an, so dass auch keine Phokomelie vorliegt. Da die Klägerin trotz der vorliegenden Fehlbildungen ihre Arme und Hände in einem gewissen Umfang sinnvoll einsetzen kann, wie zum Beispiel beim An- und Ablegen ihrer Kleidung oder bei ihrer beruflichen Tätigkeit, liegt auch kein völliger Funktionsverlust der Arme inklusive der Schulter- und Ellenbogengelenke und damit keine der Amelie oder Phokomelie vergleichbare Funktionseinschränkung vor. Der Senat schließt sich den diesbezüglichen überzeugenden Ausführungen des Sozialgerichts an und nimmt vollen Umfangs auf sie Bezug (§ 153 Abs. 2 SGG).

Das Vorbringen der Klägerin während des Berufungsverfahrens vermag zu keiner anderen rechtlichen Beurteilung zu führen. Entgegen ihrer Auffassung sind die Begriffe Amelie und Phokomelie insoweit eindeutig, als der erste das Fehlen beider Arme und der zweite das Ansetzen der Hände und/oder Füße unmittelbar am Rumpf bezeichnet. Diese Gesundheitsstörungen liegen bei der Klägerin nach den übereinstimmenden gutachterlichen Beurteilungen von Dr. N. und Dr. S. nicht vor. Schon angesichts der vorhandenen Oberarme ist die Diagnose "Phokomelie" in dem Attest der behandelnden Internisten Dres. M./ Z. vom 15. Januar 1998 sowie dem Pflegegutachten des Internisten Dr. G. vom 27. Januar 1998 zweifellos unrichtig. Entgegen ihrer Auffassung zählt die Klägerin auch nicht zu dem Personenkreis mit einer der Amelie oder Phokomelie vergleichbaren Funktionseinschränkung. Insbesondere Dr. N. hat in seinem Gutachten überzeugend herausgearbeitet, welche Verrichtungen die Klägerin mit ihren Armen und Händen, die ohne Zweifel erhebliche Fehlbildungen aufweisen, noch ausüben kann. So ist sie zum Beispiel in der Lage, sich selbständig an- und auszuziehen, jedenfalls leichte Gegenstände vom Boden aufzuheben und auch zu transportieren sowie ihre berufliche Tätigkeit am PC auszuüben. Insofern kann das nach dem Schreiben des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales vom 25. Juni 2009 entscheidende Gleichstellungskriterium, nämlich ein völliger Funktionsverlust der Arme inklusive der Schulter- und Ellenbogengelenke, mit Sicherheit nicht festgestellt werden. Soweit die Klägerin die Auffassung vertritt, die streitigen Parkerleichterungen sollen nach dem Willen des Gesetzgebers allen contergangeschädigten Menschen unabhängig von deren konkreter Funktionsbeeinträchtigung zu Gute kommen, lässt sich dieser entgegen ihrer Darstellung gerade nicht dem Gesetzentwurf (BT-Drucksache 16/10534) entnehmen. Dort heißt es nämlich unter B. Lösung: Deshalb wird die Gruppe der Berechtigten, die Behindertenparkplätze nutzen dürfen, um schwerbehinderte Menschen mit beidseitiger Amelie (das Fehlen beider Arme) oder Phokomelie (Hände und Füße setzen unmittelbar am Rumpf an) erweitert. Damit wird nicht ursachenbezogen auf eine Conterganschädigung, sondern generell auf eine bestimmte körperliche Einschränkung abgestellt.

Diese Formulierung lässt erkennen, dass entgegen der Auffassung der Klägerin nicht jeder durch Contergan Geschädigte die Parkerleichterung erhalten soll, sondern nur derjenige mit ganz konkret definierten Funktionsbeeinträchtigungen unabhängig von deren Ursache. Entsprechendes muss für den Begriff der "vergleichbaren Funktionseinschränkungen" gelten. Auch insoweit gilt die Berechtigung nicht für alle Contergangeschädigten, sondern nur solche – wie auch andere Behinderte – mit entsprechend gleich schweren Einschränkungen wie bei der Amelie und Phokomelie.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG und entspricht dem Ergebnis der Hauptsache.

Der Senat hat die Revision gegen dieses Urteil nicht zugelassen, weil die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 Nr. 1 oder Nr. 2 SGG nicht vorliegen.
Rechtskraft
Aus
Saved