L 4 SO 55/17 B ER

Land
Hamburg
Sozialgericht
LSG Hamburg
Sachgebiet
Sozialhilfe
Abteilung
4
1. Instanz
SG Hamburg (HAM)
Aktenzeichen
S 52 SO 255/17 ER
Datum
2. Instanz
LSG Hamburg
Aktenzeichen
L 4 SO 55/17 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
1. Nach dem Wortlaut des § 23 Abs. 3 Satz 7 Halbsatz 2 SGB XII führt die Feststel-lung des Verlusts des Freizügigkeitsrechts ohne weiteres zur Unanwendbarkeit der Ausnahme nach Halbsatz 1 wegen 5-jährigen Aufenthalts vom Leistungsausschluss nach § 23 Abs. 3 Satz 1 Nrn. 2 und 3 SGB XII. Die Rechtskraft der Verlustfeststellung wird nicht vorausgesetzt.

2. Dass es auf die Rechtskraft der Verlustfeststellung nicht ankommen kann, ent-spricht auch der Systematik der Regelung des § 23 Abs. 3 SGB XII.
Auf die Beschwerde der Beigeladenen wird der Beschluss des Sozialgerichts Hamburg vom 29. Juni 2017 abgeändert und der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung vollen Umfangs abgelehnt. Außergerichtliche Kosten sind in beiden Rechtszügen nicht zu erstatten.

Gründe:

Die am 18. August 2017 erhobene Beschwerde der Beigeladenen gegen den ihr am 19. Juli 2017 zugestellten Beschluss des Sozialgerichts vom 29. Juni 2017 ist statthaft und auch sonst zulässig (§§ 172, 173 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG).

Die Beschwerde ist auch begründet. Zu Unrecht hat das Sozialgericht die Beigeladene im Wege einer einstweiligen Anordnung verpflichtet, den Antragstellern für den Zeitraum vom 29. Mai 2017 bis zum rechtskräftigen Abschluss des Verfahrens in der Hauptsache Leistungen nach § 23 Abs. 1 Satz 1 Zwölftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII) zu gewähren. Denn entgegen der Auffassung des Sozialgerichts vermag der Senat nicht zu erkennen, dass ein entsprechender Leistungsanspruch hinreichend glaubhaft gemacht ist.

Zwar ist das Sozialgericht zu Recht und mit zutreffender Begründung davon ausgegangen, dass infolge des tatsächlichen Aufenthalts der Antragsteller in H. örtlich zuständig die Beigeladene – und nicht der Antragsgegner – ist, doch fehlt es an den materiell-rechtlichen Voraussetzungen für einen Anspruch auf Leistungen nach § 23 Abs. 1 Satz 1 SGB XII.

Nach § 23 Abs. 1 Satz 1 SGB XII ist Ausländern, die sich im Inland tatsächlich aufhalten, u.a. Hilfe zum Lebensunterhalt zu gewähren. Nach § 23 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 SGB XII erhalten Ausländer und ihre Familienangehörigen jedoch dann keine Leistungen, wenn sie kein Aufenthaltsrecht haben oder sich ihr Aufenthaltsrecht allein aus dem Zweck der Arbeitssuche ergibt. Nach dem Erkenntnisstand des Eilverfahrens ist nicht erkennbar, dass die Antragsteller über ein materielles Aufenthaltsrecht verfügen (vgl. dazu bereits den die Antragsteller betreffenden Beschluss des erkennenden Senats vom 26.10.2016 – L 4 SO 57/16 B ER). Die Ausländerbehörde der Beigeladenen hat zudem mit Verfügung vom 13. Juni 2016 nach § 6 Abs. 1 Freizügigkeitsgesetz/EU (FreizügG/EU) den Verlust der Freizügigkeit der Antragsteller festgestellt, was gemäß § 7 Abs. 1 FreizügG/EU schon vor Bestandskraft dieser Entscheidung eine Ausreisepflicht begründet (vgl. Geyer, in: Hofmann, Ausländerrecht, 2. Auflage 2016, § 7 FreizügG/EU Rn. 3; siehe hierzu auch unten). Soweit die Antragsteller im Beschwerdeverfahren vortragen, ihnen stünde ein Aufenthaltsrecht nach dem Aufenthaltsgesetz (AufenthG) aus humanitären oder familiären Gründen zu, vermag der Senat dem nicht zu folgen. Ein Aufenthaltsrecht aus humanitären Gründen nach § 25 Abs. 5 AufenthG setzt zunächst voraus, dass die Ausreisepflicht vollziehbar ist, was hier infolge der noch anhängigen Klageverfahren gegen die Verlustfeststellung nicht der Fall sein dürfte. Auch ist nicht glaubhaft gemacht, dass den Antragstellern eine Ausreise aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen auf unabsehbare Zeit unmöglich ist. Ein Aufenthaltsrecht aus familiären Gründen nach Abschnitt 6 AufenthG ist ebenfalls nicht hinreichend glaubhaft gemacht. Insbesondere ist weder der Lebensunterhalt der Antragsteller gesichert (§ 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG) noch ersichtlich, dass die Voraussetzungen des § 36 Abs. 2 AufenthG vorliegen.

Entgegen der Auffassung des Sozialgerichts sind die in § 23 Abs. 3 Satz 7 SGB XII geregelten Voraussetzungen für eine Ausnahme vom Leistungsausschluss nicht erfüllt. Denn diese Ausnahme, die für Ausländer gilt, die sich seit mindestens fünf Jahren ohne wesentliche Unterbrechung im Bundesgebiet aufhalten, greift dann nicht ein, wenn der Verlust des Freizügigkeitsrechts nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU festgestellt wurde. Das ist hier der Fall, die Ausländerbehörde der Beigeladenen hat für beide Antragsteller mit Verfügungen vom 13. Juni 2016 eine Verlustfeststellung getroffen.

Dass die Verlustfeststellungen von den Antragstellern angefochten wurden und die diesbezüglichen Klagen beim Verwaltungsgericht Hamburg noch anhängig sind, führt zu keiner anderen Beurteilung. Der Senat vermag der Ansicht des Sozialgerichts und der Antragsteller, nur eine bestands- bzw. rechtskräftige Verlustfeststellung stünde einer Ausnahme vom Leistungsausschluss entgegen, nicht zu folgen. Nach dem Wortlaut des § 23 Abs. 3 Satz 7 Halbsatz 2 SGB XII führt bereits die Feststellung des Verlusts des Freizügigkeitsrechts zur Unanwendbarkeit der Ausnahme, die Rechtskraft der Verlustfeststellung wird nicht vorausgesetzt. Dass es auf die Rechtskraft nicht ankommen kann, entspricht auch der Systematik der Regelung des § 23 Abs. 3 SGB XII: Die Ausnahme vom Leistungsausschluss für Ausländer, die sich seit mindestens fünf Jahren ohne wesentliche Unterbrechung im Bundesgebiet aufhalten, soll dem Umstand Rechnung tragen, dass auch ohne materielles Aufenthaltsrecht tatsächlich eine Verfestigung des Aufenthalts in Deutschland eintreten kann. Hat die Ausländerbehörde allerdings den Verlust des Freizügigkeitsrechts festgestellt, so steht dies der Annahme eines verfestigten Aufenthalts entgegen (so die Gesetzesbegründung der derzeitigen Fassung des § 23 Abs. 3 SGB XII, BT-Drs. 18/10211, S. 16 i.V.m S. 14). Denn bereits die behördliche Verlustfeststellung führt zur Ausreisepflicht des Ausländers nach § 7 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU, ihre Rechtskraft ist dafür nicht erforderlich (vgl. hierzu die Begründung zur Änderung des § 7 Abs. 1 durch das Gesetz zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union vom 19.8.2007, BT-Drs. 16/5065 S. 211 zu Nummer 8 a. aa.). Zwar haben Widerspruch und Klage gegen die Verlustfeststellung aufschiebende Wirkung, doch beseitigt diese nicht die Ausreisepflicht als solche. § 7 Abs. 1 Satz 4 FreizügG/EU bestimmt nur, dass in den Fällen, in denen mit der Verlustfeststellung bereits die Abschiebung angedroht und hiergegen einstweiliger Rechtsschutz beantragt wird, die Abschiebung nicht vor Entscheidung über den Eilantrag erfolgen darf (vgl. hierzu Dienelt, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 11. Auflage 2016, § 7 FreizügG/EU Rn. 16 f.). Rechtsmittel hemmen folglich nicht die Ausreisepflicht selbst, sondern nur deren Durchsetzung. Bereits das Bestehen der Ausreisepflicht steht aber der Annahme eines verfestigten Aufenthalts im Sinne der Ausnahmeregelung des § 23 Abs. 3 Satz 7 SGB XII entgegen (so auch LSG Nieders.-Bremen, Beschluss vom 26.5.2017 – L 15 AS 62717 B ER, juris Rn. 12 für die entsprechende Regelung in § 7 Abs. 1 Satz 4 Halbsatz 2 SGB II). Ohne Verfestigung des Aufenthalts fehlt es jedoch an einem Grund für eine Ausnahme von dem Leistungsausschluss.

Das von den Antragstellern zitierte Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 14. Dezember 2016 (1 C 13/16) ist nicht geeignet, ihre abweichende Auffassung zu begründen. Das Bundesverwaltungsgericht hat dort ausgeführt, dass eine vor Erlangung des Unionsbürgerstatus ausgesprochene, bestandskräftige und weiterhin wirksame Ausweisungsverfügung eine Vermutung für ein Freizügigkeitsrecht ausschließe und im Rahmen des § 11 Abs. 2 FreizügG/EU (der die Anwendbarkeit des AufenthG regelt) einer Verlustfeststellung gleichstehe. Aussagen zu den Auswirkungen einer fehlenden Bestands- bzw. Rechtskraft einer Verlustfeststellung nach § 6 FreizügG/EU finden sich in dem Urteil nicht.

Ebenso wenig vermag der Verweis auf das Urteil des Bundessozialgerichts vom 30. August 2017 (B 14 AS 31/16 R) die Argumentation der Antragsteller zu unterstützen. Zum einen liegt bislang lediglich ein Terminbericht vor, schriftliche Urteilsgründe sind noch nicht veröffentlicht, zum anderen war in dem dortigen Verfahren lediglich die alte Gesetzeslage zu beurteilen. Für die Auslegung der im hiesigen Rechtsstreit anwendbaren, ab dem 29. Dezember 2016 geltenden Fassung des § 23 SGB XII finden sich in dem Terminbericht keine Anhaltspunkte.

Der Senat hat keine Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit und Europarechtskonformität der Regelung des § 23 SGB XII. Er hat bereits mehrfach befunden, dass der Leistungsausschluss von EU-Ausländern, die über kein anderes Aufenthaltsrecht als ein solches zur Arbeitssuche verfügen, weder verfassungs- noch europarechtswidrig ist (vgl. nur den Beschluss vom 15.10.2015 – L 4 AS 403/15 B ER; ebenso Beschluss vom 14.4.2016 – L 4 AS 76/16 B ER). Dem Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 Grundgesetz (GG) i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG kann durch einen Anspruch auf eine Mindestsicherung in Form der unabweisbar gebotenen Leistungen – deren Umfang von den Umständen des Einzelfalls abhängt und die durch die Regelungen in § 23 Abs. 3 Sätze 3 und 6 SGB XII gewährleistet werden – Rechnung getragen werden.

Soweit die Antragsteller vortragen, eine Rückkehr nach P1 sei ihnen deshalb nicht zuzumuten, weil eine längere Abwesenheit aus dem Bundesgebiet die Chancen ihrer verwaltungsgerichtlichen Klagen gegen die Verlustfeststellungen beeinträchtigen würde, können sie damit nicht durchdringen. Unabhängig davon, dass diese Erwägungen derzeit rein spekulativen Charakter haben, können sie eine abweichende Auslegung der leistungsrechtlichen Vorschriften nicht begründen. Sie sind allein der aufenthaltsrechtlichen Beurteilung zuzuordnen.

Anhaltspunkte dafür, dass den Antragtellern aus Härtefallgründen gem. § 23 Abs. 3 Satz 6 SGB XII Leistungen zu gewähren wären, sind nach dem Erkenntnisstand des Eilverfahrens nicht ersichtlich. Der Vortrag einer engen familiären Bindung in Deutschland, insbesondere zu den Söhnen, ist bereits in sich widersprüchlich. So heißt es zwar in der Antragsschrift vom 29. Mai 2017, ein Sohn der Antragsteller lebe in S., wohin auch die Antragsteller ziehen wollten. Im Leistungsantrag beim Antragsgegner hatten die Antragsteller jedoch angegeben, ihre beiden Söhne lebten in H ... Der Vortrag im Schriftsatz an das Verwaltungsgericht vom 8. September 2017, der Antragsteller zu 2. sei auf die Hilfe und Unterstützung seiner in H. lebenden Söhne angewiesen, ist angesichts dessen, dass die Antragsteller noch vor kurzem einen Umzug nach S. beabsichtigt hatten, nicht nachvollziehbar. Hinsichtlich ihrer gesundheitlichen Einschränkungen haben die Antragsteller zwar Bescheinigungen ihres Hausarztes vorgelegt. Dass sie infolgedessen nicht ausreisefähig wären bzw. keine ausreichende Behandlung in P. möglich wäre, geht aus diesen jedoch nicht hervor.

Über eine Pflicht der Beigeladenen zur Gewährung von Überbrückungsleistungen nach § 23 Abs. 3 Satz 3 SGB XII musste der Senat nicht entscheiden. Denn die Beigeladene hat bereits mit Schriftsatz vom 22. Juni 2017 erklärt, dass sie zur Erbringung derartiger Leistungen bereit ist.

Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.

Dieser Beschluss ist nicht anfechtbar (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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