L 4 AY 4/19

Land
Hamburg
Sozialgericht
LSG Hamburg
Sachgebiet
Sozialhilfe
Abteilung
4
1. Instanz
SG Hamburg (HAM)
Aktenzeichen
S 7 AY 66/15
Datum
2. Instanz
LSG Hamburg
Aktenzeichen
L 4 AY 4/19
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
1. Die Berufung wird zurückgewiesen. 2. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten. 3. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Kläger begehren mit ihrer Klage höhere Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) entsprechend dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 18. Juli 2012 (1 BvL 10/10, 1 BvL 2/11) für den Zeitraum von Januar 2011 bis Juni 2012.

Die Kläger bezogen in der Zeit von Januar 2011 bis Juni 2012 Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz. Für die Monate Juni, Juli, August, September und Dezember 2011 sowie für die Monate Februar und März 2012 ergingen Verwaltungsakte. Für die Monate Januar bis Mai, Oktober und November 2011 sowie Januar, April und Mai 2012 liegen Realakte vor, d.h. Leistungen wurden ohne Bescheid ausgezahlt.

Am 18. Juli 2012 erging das Urteil des Bundesverfassungsgerichts, wonach die Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz gegen das Grundgesetz verstießen und eine Neuberechnung angeordnet wurde.

Der Prozessbevollmächtigte der Kläger beantragte mit Schreiben vom 28. Mai 2013 die rückwirkende Neuberechnung der Geldleistungen ab dem 1. Januar 2011 aufgrund der Neuregelung zur Sicherung des menschenwürdigen Existenzminimums.

Mit Bescheid vom 28. Mai 2013 lehnte die Beklagte den Antrag ab. Mit Urteil vom 18. Juli 2012 habe das Bundesverfassungsgericht entscheiden, dass die Regelungen in Form der Geldleistungen gem. § 3 AsylbLG mit dem Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 GG unvereinbar seien. Bis zum Inkrafttreten einer Neuregelung habe das BVerfG eine Übergangsregelung angeordnet. Für die § 3-Berechtigten, die bereits im Juli und August 2012 im Leistungsbezug gestanden hätten, sei bis 1. September automatisch die Auszahlung der Differenzbeträge für Juli und August 2012 erfolgt. Dies sei auch bei den Klägern erfolgt. Über die genannte Rückwirkung hinaus komme eine rückwirkende Leistung nur in Betracht, wenn Leistungsbescheide infolge eine Widerspruchsverfahrens oder gerichtlichen Verfahren nicht bestandskräftig seien. Da der Dienststelle keine Leistungsbescheide bekannt seien, auf die das zutreffe, sei kein Raum für Nachzahlungen. Auf die Nichtanwendbarkeit des § 44 SGB X für den Zeitraum vom 1. Januar 2011 bis 31. Juli 2012 werde hingewiesen.

Gegen diesen Bescheid vom 28. Mai 2013 erhob der Bevollmächtigte der Kläger für diese am 12. Juni 2013 Widerspruch. Am 13. Juni 2013 erhoben die Kläger über ihren Bevollmächtigten gegen alle Bewilligungsbescheide ab dem 1. Januar 2011 Widerspruch. Zugleich beantragten sie Wiedereinsetzung in den vorigen Stand.

Mit Bescheid vom 2. Juli 2013 half die Beklagte dem Anliegen der Klägerin in Bezug auf den Monat Juni 2012 ab und gewährte eine Nachzahlung in Höhe von 726,61 Euro. In Bezug auf die übrigen Zeiträume lehnte sie die Abhilfe ab und gab den Vorgang an das Rechtsamt ab.

Mit Widerspruchsbescheid vom 30. Oktober 2015 wies die Beklagte den Widerspruch der Kläger gegen den Bescheid vom 28. Mai 2013 unter Berufung auf dessen Gründe zurück. Mit weiterem Widerspruchsbescheid vom 30. Oktober 2015 wies die Beklagte die Widersprüche der Kläger gegen sämtliche Bewilligungen ab Januar 2011 als unzulässig zurück. Die Widersprüche seien verfristet. Eine Wiedereinsetzung käme nicht in Betracht.

Die Kläger erhoben Klage zum Sozialgericht. Dieses wies die Klage der Kläger mit Gerichtsbescheid vom 22. Mai 2019 ab. Die insbesondere form- und fristgerecht erhobene Klage sei zulässig, aber nicht begründet. Das Bundesverfassungsgericht habe in der angeführten Entscheidung herausgestellt, dass der Gesetzgeber nicht zu einer rückwirkenden Neufestsetzung der Leistungen verpflichtet sei, gleichzeitig aber eine für bis zum 1. Januar 2011 geltende Rückwirkung für nicht bestandskräftige Bescheide für vertretbar gehalten (a.a.O., Rz. 111 ff.). Nur wenn die Bescheide für Zeiträume ab dem 1. Januar 2011 noch nicht bestandskräftig geworden seien, sollten die Betroffenen einen Anspruch auf höhere Leistungen nach einer Übergangsregelung haben. Eine ansonsten im Sozialrecht grundsätzlich vorgegebene Anwendung des § 44 SGB X sei ausdrücklich verneint worden (Rz. 113). Diese Vorgaben habe die Beklagte auf den Widerspruch der Kläger vom Juni 2013 für den Monat Juni 2012 berücksichtigt. Im Übrigen sei sie fehlerfrei von bestandskräftigen Bescheiden und damit von einem Ausschluss höherer rückwirkender Leistungen ausgegangen. Gründe für eine Wiedereinsetzung seien nicht ersichtlich.

Gegen das ihrem Bevollmächtigten am 5. Juni 2019 zugestellte Urteil haben die Kläger am 4. Juli 2019 Berufung eingelegt. Zur Begründung führen sie aus, dass sie bzgl. der Monate Juni, Juli, August, September und Dezember 2011 sowie Februar und März 2012 noch keine Kenntnis vom Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 18. Juli 2012 hätten haben können, so dass ihnen die Bestandskraft der Bescheide nicht entgegengehalten werden könne und ihnen Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren sei. Gleiches gelte für die Leistungszeiträume, in denen keine mit einer Rechtsmittelfrist versehenen Einzelbescheide ergangen seien. Zudem stehe der Bestandskraft auch § 44 SGB X entgegen.

Die Kläger beantragen, den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts vom 22. Mai 2019 aufzuheben sowie die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 28. Mai 2013 sowie der Widerspruchsbescheide vom 30. Oktober 2015 zu verpflichten, rückwirkend Geldleistungen ab dem 1. Januar 2011 bis einschließlich 31. Mai 2012 auf der Grundlage des BVerfG-Urteils vom 18. Juli 2012 zu gewähren, hilfsweise dem vorsorglich gestellten Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu entsprechen.

Die Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen.

Sie beruft sich zur Begründung auf den Gerichtsbescheid vom 22. Mai 2019.

Mit Beschluss vom 26. März 2020 ist nach Anhörung der Beteiligten die Berufung gem. § 153 Abs. 5 Sozialgerichtsgesetz (SGG) dem Berichterstatter zur Entscheidung mit den ehrenamtlichen Richtern übertragen worden. Den Antrag der Kläger auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe hat der Senat mit Beschluss vom 30. März 2020 abgelehnt.

Am 17. Juli 2020 hat der Senat eine mündliche Verhandlung durchgeführt. In dieser hat der Bevollmächtigte der Kläger ausgeführt, er habe bereits Ende 2010 einen Antrag auf Prüfung der Leistungshöhe und Umstellung der Leistungen nach § 3 AsylbLG auf Leistungen nach § 2 AsylbLG bei der Beklagten gestellt. Dieser sei nicht beschieden worden. Auch vor diesem Hintergrund müsse Einsetzung in den vorigen Stand gewährt werden.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Prozessakten und der Verwaltungsakten verwiesen. Sie haben dem Senat vorgelegen und sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen.

Entscheidungsgründe:

I. Der Senat konnte in der Besetzung mit der Berichterstatterin als Vorsitzenden und zwei ehrenamtlichen Richtern entscheiden, weil die Berufung durch Beschluss vom 6. Dezember 2018 gem. § 153 Abs. 5 SGG übertragen wurde.

II. Die Berufung ist zulässig, insbesondere statthaft (§§ 143, 144 SGG) und form- und fristgerecht (§ 151 SGG) erhoben. Die Berufung ist jedoch unbegründet.

Die zulässige Klage ist unbegründet. Der Bescheid vom 28. Mai 2013 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30. Oktober 2015 (617/2013) erweist sich als rechtmäßig. Gleiches gilt für den Widerspruchsbescheid vom 30. Oktober 2015 (1147/3013).

Einen Anspruch auf höhere Leistungen gemäß Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 18. Juli 2012 für den vergangenen Zeitraum vom 1. Januar 2011 bis 31. Mai 2012 besteht nicht. Auf die zutreffenden Ausführungen des Sozialgerichts im Gerichtsbescheid vom 22. Mai 2019 wird gem. § 153 Abs. 2 SGG Bezug genommen. Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 18. Juli 2012 (1 BvL 10/10, 1 BvL 2/11) finden die Regelungen über die Rücknahme eines rechtswidrigen nicht begünstigenden Verwaltungsaktes des § 9 Absatz 3 AsylbLG in Verbindung mit § 44 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) und über die Aufhebung eines Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung bei Änderung der rechtlichen Verhältnisse zugunsten der Betroffenen des § 9 Absatz 3 AsylbLG in Verbindungmit § 48 Absatz 1 Satz 2 Nummer 1 SGB X für Leistungszeiträume bis Ende Juli 2012 keine Anwendung. Dieser Ausspruch hat unmittelbare Gesetzeskraft (§ 31 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG). Des Weiteren war der Gesetzgeber nicht verpflichtet, die Leistungen rückwirkend neu festzusetzen. Eine Rückwirkung der vom Bundesverfassungsgericht ausgesprochenen Übergangsregelung schließlich gilt lediglich hinsichtlich nicht bestandskräftiger Bescheide für Leistungszeiträume ab dem 1. Januar 2011. Die Leistungsbescheide für die Monate Juni, Juli, August, September und Dezember 2011 sowie für die Monate Februar und März 2012 sind bestandskräftig, weil die Kläger sie nicht innerhalb der Frist des § 84 Abs. 1 SGG mit Widerspruch angefochten haben. Der Widerspruch vom 13. Juni 2013 erfolgte außerhalb der Rechtsbehelfsfrist von einem Monat ab Bekanntgabe. Soweit Leistungen für die Monate Januar bis Mai, Oktober und November 2011 sowie Januar, April und Mai 2012 ohne Bescheid ausgezahlt wurden, liegen Realakte vor, denen jeweils konkludente Leistungsbescheide der Beklagten gem. § 33 Abs. 2 SGB X vorausgegangen sind (Bundessozialgericht, Urteil vom 17.6.2008, B 8/9b AY 1/07 R). Diese konnten – wegen fehlender Rechtsbehelfsbelehrung – binnen Jahresfrist gem. § 66 Abs. 2 Satz 1 SGG angefochten werden. Die Anfechtung mit Widerspruch vom 13. Juni 2013 erfolgte ebenfalls verspätet.

Auch dem Hilfsantrag der Kläger war nicht zu entsprechen. Die Voraussetzungen für eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gem. § 67 SGG liegen nicht vor. War danach jemand ohne Verschulden verhindert, eine gesetzliche Verfahrensfrist einzuhalten, so ist ihm auf Antrag Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren (§ 67 Abs. 1 SGG). Der Antrag ist binnen eines Monats nach Wegfall des Hindernisses zu stellen (§ 67 Abs. 1 Satz 2 SGG). Es ist bereits weder vorgetragen noch ersichtlich, dass die Kläger gehindert waren, innerhalb der Widerspruchsfrist Widerspruch gegen die Leistungsbescheide einzulegen. Sofern sie sich darauf berufen, von der zukünftigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht gewusst haben zu können, liegt darin kein Hindernis im genannten Sinne. Jedenfalls aber ist die weitere Voraussetzung nicht erfüllt. Denn die Kläger haben nicht binnen eines Monats nach Wegfall des Hindernisses, sondern erst im Juni 2013 Widerspruch erhoben. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts wurde aber bereits am 18. Juli 2012 verkündet. Mit Verkündung des Urteils jedoch ist der vorgetragene Hinderungsgrund weggefallen.

Ein Wiedereinsetzungsgrund kann auch nicht darin gesehen werden, dass die Kläger bereits im Dezember 2010 einen Antrag auf Umstellung der Leistungen von Leistungen gem. § 3 AsylbLG auf Leistungen gem. § 2 AsylbLG gestellt haben. Einen gleichsam vorbeugenden Widerspruch gegen zukünftige Bewilligungsbescheide gibt es nicht. Ein diesbezüglicher Rechtsirrtum (vgl. Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, Kommentar, 12. Aufl. 2017, § 67 Rn. 8a) wäre vermeidbar gewesen. Die Bescheide waren dahingehend eindeutig, dass sie abschließende Bewilligungen ohne Prüfung anderer oder weitergehender Ansprüche enthielten. Auch die Rechtsbehelfsbelehrungen waren klar. Dagegen hat die Beklagte allerdings noch über den Antrag vom 7. Dezember 2010 (Blatt 152 der Akte) zu entscheiden.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und folgt dem Ergebnis in der Hauptsache.

Die Revision ist nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 Nr. 1 oder Nr. 2 SGG nicht vorliegen.
Rechtskraft
Aus
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