L 1 KR 42/04

Land
Rheinland-Pfalz
Sozialgericht
LSG Rheinland-Pfalz
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
1
1. Instanz
SG Speyer (RPF)
Aktenzeichen
S 7 KR 525/03
Datum
2. Instanz
LSG Rheinland-Pfalz
Aktenzeichen
L 1 KR 42/04
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
1. Ein Rollstuhlrückhaltesystem für Behindertentransportkraftwagen (sog. Kraftknoten) ist ein Hilfsmittel zum Ausgleich einer Behinderung.
2. Zur Erforderlichkeit der Versorgung im Einzelfall.
1. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Speyer vom 12.02.2004 - S 7 KR 525/03 - wird zurückgewiesen.

2. Außergerichtliche Kosten des Berufungsverfahrens sind nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten darüber, ob die Beklagte den Rollstuhl des Klägers mit einem Rückhaltesystem für Behindertentransportkraftwagen (sog. Kraftknoten) auszustatten hat.

Bei dem 1959 geborenen und bei der Beklagten versicherten Kläger besteht eine Tetraspastik. Er lebt eigenständig im Rahmen des betreuten Wohnens in einer Wohngemeinschaft. Der Kläger verfügt über einen Selbstfahrrollstuhl, den er innerhalb der Wohnung selbst bedienen kann. Außerhalb der Wohnung benutzt er einen Elektrorollstuhl. Zur Arbeit in einer Behindertenwerkstatt und zurück wird er von einem Behindertenfahrdienst im Rollstuhl sitzend transportiert. Seinen Hausarzt im Nachbarort kann er mit dem Elektrorollstuhl selbständig aufsuchen. Zum Besuch anderer Ärzte außerhalb des Wohnortes benötigt er einen Fahrdienst. Eine krankengymnastische Behandlung wird an seiner Arbeitsstelle durchgeführt. Gelegentlich wird er von seinem Bruder abgeholt und in dessen PKW sitzend auf dem Beifahrersitz transportiert. Fahrkosten wurden von der Beklagten nicht übernommen.

Seit 01.10.1999 ist in der DIN 75078-2 für den Transport von Personen in Rollstühlen in Behindertentransportkraftwagen die Ausstattung mit einem Personen- und einem Rollstuhlrückhaltesystem vorgesehen. Ein Kraftknoten stellt dabei der Punkt dar, in dem idealerweise die Rückhaltekräfte des Personenrückhaltesystems in das Rollstuhlrückhaltesystem eingeleitet werden. An dieser Stelle im Bereich der Hinterachse ist der Rollstuhlrahmen verstärkt und von dort aus ist der Rollstuhl nach unten zum Fahrzeugboden hin verankert und nach oben wird das Personenrückhaltesystem mittels Gurten fixiert. Der Kraftknoten soll im Falle eines Unfalles eine etwaige Verformung des Rollstuhls verhindern. Die Anbauteile dieses Rückhaltesystems können nachträglich am Rollstuhl angebracht werden.

Der Kläger beantragte bei der Beklagten im Januar 2003 die Übernahme der Kosten der Nachrüstung seines Rollstuhles und legte einen Kostenvoranschlag über 461,92 Euro und eine Verordnung des Dr. K vom 05.12.2002 vor. Die Beklagte lehnte eine Kostenbeteiligung durch Bescheid vom 05.02.2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 02.06.2003 ab, da dadurch nicht die medizinische Rehabilitation des Klägers sichergestellt werden solle.

Das Sozialgericht Speyer (SG) hat die Klage durch Urteil vom 12.02.2004 abgewiesen. Das Ermöglichen des Autofahrens sei dem Bereich der sozialen oder beruflichen Eingliederung Behinderter zuzuordnen, für welche die Beklagte nicht zuständig sei. Der Kraftknoten ermögliche nur eine sicherere Nutzung und sei erst recht nicht durch die gesetzliche Krankenversicherung zur Verfügung zu stellen. Die Ausstattung mit dem Kraftknotensystem sei auch nicht unter dem Gesichtspunkt der Erhaltung der Gebrauchsfähigkeit des Rollstuhles gerechtfertigt, da keine Anhaltspunkte vorlägen, dass der Rollstuhl des Klägers ohne dieses Hilfsmittel häufigen Beschädigungen ausgesetzt sei. Das SG hat die Berufung zugelassen.

Gegen das ihm am 28.02.2004 zugestellte Urteil hat der Kläger am 11.03.2004 Berufung eingelegt.

Er macht geltend, dass er den Kraftknoten für sämtliche Fahrten im Behindertentransportfahrzeug, d.h. z.B. auch zu Ärzten, Behörden und zur Bank, benötige. Damit werde es ihm ermöglicht, ein selbständiges Leben zu führen. Außerdem übernähmen die Hersteller von Rollstühlen keine Garantie für Schäden an Rollstühlen, wenn die Ausstattung mit dem Kraftknoten fehle.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Speyer vom 12.02.2004 - S 7 KR 525/03 - sowie den Bescheid der Beklagten vom 05.02.2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 02.06.2003 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, den Rollstuhl des Klägers mit einem Rückhaltesystem für Behindertentransportkraftwagen auszustatten.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie erachtet die angefochtene Entscheidung für zutreffend.

Zur Ergänzung des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalte der Gerichts- sowie der Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen. Er war Gegenstand der mündlichen Verhandlung und Beratung.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung ist unbegründet. Das SG hat zu Recht entschieden, dass dem Kläger gegen die Beklagte kein Anspruch auf Versorgung mit einem Rollstuhlrückhaltesystem für Behindertentransportkraftwagen zusteht. Der Bescheid vom 05.02.2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 02.06.2003 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten.

Die Beklagte hat die Ausstattung mit diesem Hilfsmittel nicht zu Unrecht (§ 13 Abs. 3 Satz 2 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch - SGB V - i.V. mit § 15 Abs. 1 Sätze 3 und 4 Sozialgesetzbuch Neuntes Buch - SGB IX -) abgelehnt. Versicherte haben nach § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V sowie nach § 31 Abs. 1 SGB IX Anspruch auf Versorgung mit Hilfsmitteln, die im Einzelfall erforderlich sind, um den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern, einer drohenden Behinderung vorzubeugen oder eine Behinderung auszugleichen, soweit die Hilfsmittel nicht als allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens anzusehen oder nach § 34 Abs. 4 SGB V ausgeschlossen sind.

Ein Anspruch des Klägers ergibt sich nicht bereits daraus, dass Dr. K hinsichtlich der begehrten Leistung eine ärztliche Verordnung am 05.12.2002 ausgestellt hat. Der vertragsärztlichen Verordnung kommt bei Hilfsmitteln keine die Leistungsverpflichtung der Beklagten verbindlich regelnde Wirkung zu (BSG, Urteil vom 29.09.1997 - 8 RKN 27/96, SozR 3 - 2500 § 33 Nr. 25).

Dem Kläger geht es um einen Behinderungsausgleich nach der dritten Alternative des § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V und nach § 31 Abs. 1 Nr. 3 SGB IX. Allerdings sind auch hierdurch nicht sämtliche direkten und indirekten Folgen einer Behinderung auszugleichen. Damit würde nämlich der von der gesetzlichen Krankenversicherung allein abzudeckende Bereich der medizinischen Rehabilitation verlassen. Eine darüber hinausgehende berufliche oder soziale Rehabilitation, die auch die Versorgung mit einem Hilfsmittel umfassen kann, ist hingegen Aufgabe anderer Sozialleistungssystem (BSG, Urteil vom 06.08.1998 - B 3 KR 3/97 R, SozR 3 - 2500 § 33 Nr. 29). Dass der Kläger das Rückhaltesystem benötigt, um seine Arbeitsstelle zu erreichen, kann eine Leistungspflicht der Beklagten somit nicht begründen.

Das vom Kläger begehrte Rollstuhlrückhaltesystem gleicht nicht unmittelbar die beeinträchtigte Funktion der Gliedmaßen aus, sondern setzt am vom Kläger benutzten Rollstuhl an, ermöglicht einen sicheren Transport und gewährleistet damit einen mittelbaren Ausgleich der Behinderung. Der Anspruch auf ein Hilfsmittel umfasst dabei auch dasjenige, was erforderlich ist, um dem Versicherten den bestimmungsgemäßen Gebrauch zu ermöglichen (vgl. BSG, Urteil vom 27.11.1990 - 3 RK 31/89, SozR 3 - 2200 § 182b Nr. 3 (Geräteschrank für Rollstuhl); Urteil vom 14.09.1994 - 3/1 RK 56/93, SozR 3 - 2500 § 33 Nr. 11 (Kosten einer gesetzlich vorgeschriebenen Haftpflichtversicherung für einen Elektrorollstuhl)).

Nur mittelbar die Organfunktionen ersetzende Mittel wie das einen Sicherheitsvorteil bietende Rollstuhlrückhaltesystem werden allerdings nur dann als Hilfsmittel der Krankenversicherung angesehen, wenn sie die Auswirkungen der Behinderung nicht nur in einem bestimmten Lebensbereich (Beruf/Gesellschaft/Freizeit) sondern im gesamten täglichen Leben beseitigen oder mildern und damit ein "Grundbedürfnis des täglichen Lebens" betreffen. Nach ständiger Rechtsprechung gehören zu derartigen Grundbedürfnissen die allgemeinen Verrichtungen des täglichen Lebens wie Gehen, Stehen, Greifen, Sehen, Hören, Nahrungsaufnahme, Ausscheidung, elementare Körperpflege, das selbständige Wohnen, sowie die dazu erforderliche Erschließung eines gewissen körperlichen und geistigen Freiraums, die auch die Aufnahme von Informationen, die Kommunikation mit Anderen zur Vermeidung von Vereinsamung sowie das Erlernen eines lebensnotwendigen Grundwissens (Schulwissens) umfassen. Maßstab ist stets der gesunde Mensch, zu dessen Grundbedürfnissen der kranke und behinderte Mensch durch die medizinische Rehabilitation und mit Hilfe des von der Krankenkasse gelieferten Hilfsmittels wieder aufschließen soll (BSG, Urteil vom 06.08.1998 - B 3 KR 3/97 R, SozR 3 - 2200 § 33 Nr. 29).

Jedoch wird das im vorliegenden Fall allein in Betracht kommende Grundbedürfnis der Erschließung eines gewissen körperlichen Freiraums nur im Sinne eines Basisausgleichs der Behinderung selbst und nicht im Sinne des vollständigen Gleichziehens mit den letztlich unbegrenzten Mobilitätsmöglichkeiten des Gesunden verstanden (BSG, Urteil vom 26.03.2003 - B 3 KR 23/02 R, SozR 4 - 2500 § 33 Nr. 3). Das BSG hat zwar die Bewegungsfähigkeit als Grundbedürfnis bejaht, aber dabei nur auf diejenigen Entfernungen abgestellt, die ein Gesunder zu Fuß zurücklegt. Soweit die Frage eines größeren Radius über das zu Fuß Erreichbare aufgeworfen worden ist, sind zusätzliche qualitative Momente verlangt worden, die ausschließlich Jungendliche und deren Integration betrafen (BSG a.a.O.). Bei dem 1959 geborenen Kläger liegen solche qualitativen Gesichtspunkte nicht vor.

Nach neuerer Rechtsprechung des BSG zählt aber auch das Bedürfnis, bei Krankheit oder Behinderung Ärzte und Therapeuten aufzusuchen, zu den Grundbedürfnissen des täglichen Lebens. Denn die notwendige medizinische Versorgung ist grundlegende Voraussetzung, um die elementaren Bedürfnisse des täglichen Lebens befriedigen zu können (BSG, Urteil vom 16.09.2004 - B 3 KR 19/03 R, SozR 4-2500 § 33 Nr. 7). Das vom Kläger begehrte Rollstuhlrückhaltesystem kann damit als Hilfsmittel zum Ausgleich seiner behinderungsbedingten Beeinträchtigung geeignet sein. Es ermöglicht den nach der DIN 75078-2 vorgesehenen bestimmungsgemäßen Gebrauch des Rollstuhls durch eine Sicherung während des Transports in Behindertentransportkraftwagen bei Fahrten zu Ärzten und Therapeuten. Dadurch wird ein mittelbarer Ausgleich der Behinderung des Klägers gewährleistet.

Ob ein Anspruch auf Versorgung mit dem grundsätzlich als Hilfsmittel anzusehenden Rollstuhlrückhaltesystem gegeben ist, richtet sich immer nach der Erforderlichkeit im Einzelfall (§ 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V, § 31 Abs. 1 SGB IX). Der Kläger ist jedoch bereits ausreichend mit Hilfsmitteln ausgestattet, die seine Bewegungsfähigkeit im Nahbereich seiner Wohnung gewährleisten. Er verfügt über einen Selbstfahrrollstuhl, den er innerhalb seiner Wohnung eigenständig benutzen kann. Mit Hilfe des Elektrorollstuhls kann er seinen Hausarzt Dr. K im Nachbarort Offenbach eigenständig aufsuchen. Er könnte Termine bei Ärzten in seinem Wohnort wahrnehmen. Dass dies nach seinen Angaben bei ungünstigem Wetter und bei schlechtem Gesundheitszustand nicht möglich ist, ändert nichts daran, dass er grundsätzlich die im Nahbereich seiner Wohnung liegenden Stellen mit den ihm zur Verfügung stehenden Hilfsmitteln erreichen kann, an denen Alltagsgeschäfte zu erledigen sind. Die krankengymnastische Behandlung findet an seiner Arbeitsstelle statt. Das Rollstuhlrückhaltesystem soll damit nicht die Bewegungsfähigkeit des Klägers im Nahbereich seiner Wohnung aufrecht erhalten, sondern einen Transport zu weiter entfernt liegenden Orten ermöglichen. Da sich die Aufgabe der Krankenkassen zum Behinderungsausgleich hinsichtlich des Grundbedürfnisses auf Bewegung und körperlichen Freiraum auf den Nahbereich beschränkt, steht ihm kein Anspruch auf Versorgung mit dem Rollstuhlrückhaltesystem zu. Das Aufsuchen von weiter entfernt praktizierenden Ärzten seiner Wahl wird von der Leistungspflicht der Krankenkasse nicht umfasst. Auf Besonderheiten des Wohnortes und -gebietes kommt es dabei nicht an (BSG, Urteil vom 21.11.2002 - B 3 KR 8/02 R, veröffentlicht in Juris).

Ein über die Befriedigung von Grundbedürfnissen hinausgehender Behinderungsausgleich ist als Leistung der gesetzlichen Krankenversicherung nicht vorgesehen. Diese Begrenzung der Leistungsverpflichtung verstößt nicht gegen das verfassungsrechtliche Verbot der Benachteiligung behinderter Menschen aus Artikel 3 Abs. 3 Satz 2 Grundgesetz (BSG, Urteil vom 16.09.2004 - B 3 KR 15/04 R, veröffentlicht in Juris).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz.

Revisionszulassungsgründe nach § 160 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 SGG liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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