L 5 KR 20/04

Land
Schleswig-Holstein
Sozialgericht
Schleswig-Holsteinisches LSG
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
5
1. Instanz
SG Lübeck (SHS)
Aktenzeichen
S 19 KR 106/00
Datum
2. Instanz
Schleswig-Holsteinisches LSG
Aktenzeichen
L 5 KR 20/04
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Lübeck vom 3. November 2003 wird mit der Maßgabe zurückgewiesen, dass die Beklagte zur Zahlung von 4 % Zinsen erst ab 1. Juni 2000 auf 818,01 EUR und ab 1. Mai 2003 auf 945,00 EUR verurteilt wird. Die Beklagte hat der Klägerin die ihr entstandenen notwendigen außergerichtlichen Kosten auch für die zweite Instanz zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten darüber, ob die Beklagte verpflichtet ist, der Klägerin die ihr entstandenen Kosten für blonde Echthaarperücken zu erstatten.

Die 1966 geborene Klägerin ist bei der Beklagten versichert. Sie leidet unter einer hydrotischen ektodermalen Dysplasie. Dabei handelt es sich um eine genetisch erworbene Störung der Haarbildung im Bereich des Kopfes, der Augenbrauen und der Wimpern. Von Beruf ist sie Bürokauffrau. Seit 1988 steht die Klägerin mit Unterbrechung in psychiatrischer Behandlung. Zunächst gewährte die Beklagte ihr jeweils nach Ablauf von zwei Jahren eine Echthaarperücke. Am 10. November 1999 beantragte die Klägerin erneut eine Perücke und legte ein Kostenangebot des Toupetstudios M in H vor, wonach der Preis einer neuen Damen-Straßenperücke bei 3.400,00 DM inklusive Anproben, Schnitt und Frisur liege. Mit Bescheid vom 16. November 1999 bot die Beklagte ihr eine Echthaarperücke zum Preis von 1.800,00 DM an und verwies als beauftragten Leistungserbringer ebenfalls auf das Toupetstudio M und die übliche Gebrauchsdauer von zwei Jahren. Hiergegen legte die Klägerin Widerspruch ein. Sie habe Anspruch auf anspruchsvollen Haarersatz. Ihr berufsbedingt ständiger Kontakt mit vielen Menschen mache es unzumutbar, sich mit einem unansehnlichen, abgenutzten Haar "über Wasser zu halten". Die Beklagte holte eine Stellungnahme des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK) ein und lehnte mit Bescheid vom 23. Dezember 1999 einen höheren Kostenerstattungsbetrag ab. Die Leistungsbeträge für Haarersatz seien im August 1999 von der Kasse neu festgesetzt worden. Auf Grund geänderter Produktionsabläufe, verbilligter Rohstoffe und des regulierenden Preiskampfes habe sich der Preis bei einem Haarersatz in den letzten zwei Jahren verringert. Mit Widerspruchsbescheid vom 24. Mai 2000, zur Post aufgegeben am 26. Mai, wies die Beklagte den Widerspruch der Klägerin, den diese weiterhin aufrecht hielt, zurück.

Die Klägerin hat am 30. Juni 2000 beim Sozialgericht Lübeck Klage erhoben und zur Begründung vorgetragen: Durch die bestehende Haarlosigkeit sei sie psychisch extrem belastet. Dieser Zustand verstärke sich seit der Geburt ihrer Tochter, die diese Haarlosigkeit geerbt habe. Da die Haarlosigkeit nicht nur das Kopfhaar, sondern auch die Wimpern und Augenbrauen betreffe, sei besonderer Wert auf eine anspruchsvolle Perücke zu legen, um ein annähernd "normales" Erscheinungsbild zu haben. Falsch sei die Behauptung der Beklagten, dass Friseure eine Echthaarperücke zum Preis von 1.800,00 DM anböten. Preisvereinbarungen der Leistungserbringer mit den Krankenkassen gebe es offensichtlich nicht. Ihr, der Klägerin, sei ein anspruchsvoller Haarersatz verordnet worden, nicht ein durchschnittlicher oder sonst mittelmäßiger. So, wie die Ärzte sie verordnet hätten, sei die Leistung durch die Beklagte zu erbringen. Außerdem leide sie unter einer tiefgreifenden Störung der Haut, wodurch diese wesentlich empfindlicher auf äußere Reize reagiere. Dem müsse durch die Wahl einer Echthaarperücke Rechnung getragen werden, da eine Kunsthaarperücke wegen der fehlenden Luftdurchlässigkeit aus medizinischen Gründen kontraindiziert sei. Dies bestätige die vorgelegte Bescheinigung der Uni-Klinik H -E vom 3. September 2002. Auch der Internist Dr. S habe die Notwendigkeit einer Echthaarperücke am 5. Juni 2002 bescheinigt.

Am 7. Oktober 2002 hat die Klägerin bei der Beklagten erneut die Versorgung mit einer Perücke beantragt und sich auf das Kostenangebot der Firma Toupetstudio M vom 4. Oktober 2002 bezogen, wonach die Kosten einer Echthaarperücke für eine Langzeitversorgung 1.845,00 EUR betrage. Durch Bescheid vom 16. Oktober 2002 bot die Beklagte der Klägerin eine Echthaarperücke zum Preis von 900,00 EUR inklusive Mehrwertsteuer an und verwies wiederum auf den beauftragten Leistungserbringer Toupetstudio M. Die Klägerin hat am 23. Oktober 2002 Widerspruch erhoben, den die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 12. Februar 2003 zurückgewiesen hat. Dagegen richtet sich die am 27. Februar 2003 beim Sozialgericht Lübeck eingegangene Klage (S 3 KR 121/03). Diese hat das Sozialgericht mit Beschluss vom 1. Juli 2003 mit dem bereits anhängigen Verfahren verbunden.

Die Beklagte hat vorgetragen: Es sei nicht nachvollziehbar, aus welchen Gründen sie verpflichtet sei, der Klägerin die Vollkosten für einen anspruchsvollen Haarersatz zu erstatten. Da keine örtlichen Preisabsprachen im Sinne von Vertragspreisen bestanden hätten, sei die Festsetzung des Leistungsbetrages 1999 anhand einer durchgeführten Marktanalyse erfolgt. Aus der Liste und den Ergebnissen der schriftlichen Befragung ihrer Haarersatz-Lieferanten sei ein Durchschnittswert ermittelt worden.

Das Sozialgericht hat in der mündlichen Verhandlung vom 28. Mai 2002 die Ärztin für Neurologie und Psychiatrie, Diplom-Psychologin Dr. P und den Friseurmeister Ha als Sachverständige vernommen. Anschließend hat es ein schriftliches Gutachten von dem Arzt für Hautkrankheiten Chefarzt Prof. Dr. C , Universität K , eingeholt. Sodann hat es eine Stellungnahme des Toupetstudios M beigezogen und in der mündlichen Verhandlung vom 3. November 2003 den Friseurmeister L als Sachverständigen vernommen.

Mit Urteil vom gleichen Tag hat das Sozialgericht die Beklagte unter Abänderung der angefochtenen Bescheide verurteilt, der Klägerin 818,01 EUR nebst 4 % Zinsen seit 17. November 1999 und weitere 945,00 EUR nebst 4 % Zinsen seit 7. Oktober 2002 zu zahlen. Zur Begründung hat es ausgeführt: Die von der Beklagten vorgenommene Kostenbegrenzung sei schon deshalb rechtswidrig, weil zwischen der Beklagten und möglichen Leistungserbringern kein Vertrag über eine angemessene Versorgung mit Haarersatz geschlossen worden sei. Auch seien keine Festbeträge für Haarersatz von den Spitzenverbänden der Krankenkassen nach § 36 Sozialgesetzbuch 5. Buch (SGB V) festgelegt worden. Die Beklagte habe deshalb keine Möglichkeit gehabt, die Kosten des bewilligten Hilfsmittels zu begrenzen. Der Leistungsanspruch der Klägerin richte sich nach allgemeinen Grundsätzen. Danach habe sie einen Anspruch auf Haarersatz in einer Qualität, die den Verlust des natürlichen Haupthaares für einen unbefangenen Beobachter nicht sogleich erkennen lasse. Das sei zu den von der Beklagten angegebenen Kosten aber nicht möglich. Nach Aussage des Sachverständigen L koste eine Blondhaarperücke aus europäischem Haar zwischen 2.800,00 und 3.600,00 EUR. Es sei daher davon auszugehen, dass die vom Toupetstudio M in Ansatz gebrachten Kosten angemessen seien. Zwar könne auch asiatisches Haar gefärbt werden, jedoch habe dies einen erheblichen Qualitätsverlust zur Folge, weshalb eine solche Perücke für den täglichen Gebrauch ungeeignet sei.

Gegen die ihr am 30. Januar 2004 zugestellte Entscheidung richtet sich die Berufung der Beklagten, eingegangen beim Schleswig-Holsteinischen Landessozialgericht am 16. Februar 2004. Zur Begründung trägt die Beklagte vor: Die Klägerin habe keinen Anspruch auf eine blonde Echthaarperücke. Das Bundessozialgericht (BSG) habe in einer gleichgelagerten Entscheidung vom 23. Juli 2002 (B 3 KR 66/01 R = SozR 3-2500 § 33 Nr. 45) ausgeführt, dass die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben bei einer Frau nicht voraussetze, dass ihr ursprüngliches Aussehen durch die Perücke soweit wie möglich wieder hergestellt werde. Ziel der Hilfsmittelversorgung sei nicht die möglichst umfassende Rekonstruktion des verlorengegangenen früheren Zustandes, sondern nur die Gewährleistung der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Daraus folge, dass auch der Wunsch der Versicherten nach einer bestimmten Frisur dann nicht maßgebend sei, wenn er - wie hier - mit Mehrkosten verbunden sei. Somit umfasse der Behinderungsausgleich nur die Versorgung, die notwendig sei, um den Verlust des natürlichen Haupthaares für einen unbefangenen Beobachter nicht sogleich erkennbar werden zu lassen. Denn die freie Bewegung unter den Mitmenschen sei bereits dann gewährleistet; es bedürfe dazu keiner kompletten "Nachbildung" des ursprünglichen Aussehens, das ohnehin, insbesondere wenn der Haarverlust wie hier schon jahrelang zurückliege, nur noch den wenigsten Menschen bekannt und gegenwärtig sein dürfte. Andererseits sei auch bei einer möglichst naturgetreuen Rekonstruktion nicht zu verhindern, dass ein geschulter Beobachter den Haarersatz als solchen erkenne. Ein ausreichender Behinderungsausgleich werde bei der Perückenversorgung nicht bereits in Frage gestellt, wenn einige wenige vertraute Personen oder Fachleute das Haupthaar als "künstlich" erkennen würden. Das wäre erst dann der Fall, wenn dies auch jedem unbefangenen Beobachter nach kurzem Blick auffiele. Damit sei eine Versorgung mit asiatischen Echthaarperücken zumutbar. Dies bestätige auch die erneute Begutachtung durch den MDK. Beachtenswert sei dabei der Hinweis, dass Perückenböden, auf dem Echt- bzw. Kunsthaare eingeflochten würden, häufig aus demselben synthetischen Material gefertigt seien. Insofern könne die im bisherigen Verfahren in Stellungnahmen angegebene Notwendigkeit einer Versorgung mit einer Echthaarperücke im Hinblick auf eine angebliche Hautunverträglichkeit nicht nachvollzogen werden. Der Hinweis der Klägerin darauf, sie trage seit ihrer Kindheit eine blonde Perücke, überzeuge nicht, da auch gesunde Personen infolge ihres Alters die Haarfarbe änderten.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Lübeck vom 3. November 2003 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie trägt vor: Auch das BSG habe in der zitierten Entscheidung einen Anspruch auf Haarersatz anerkannt, der als solcher für einen unbefangenen Beobachter nicht sogleich erkennbar sei und deswegen den Rechtsstreit an das Landessozialgericht zurückverwiesen. Der Sachverständige habe gegenüber dem Sozialgericht ausgeführt, dass sich gefärbtes asiatisches Perückenhaar nach kurzer Zeit aufrolle und unnatürlich herumflattere. Damit wäre der Verlust des Haupthaares für einen unbefangenen Beobachter unschwer zu erkennen und ihrem Anspruch nicht Genüge getan. Sie, die Klägerin, könne auch nicht durch die Beklagte auf eine der Hautfarbe nicht gemäße Haarfarbe verwiesen werden. Bedingt durch Haut- und Haartyp könne sie nur durch blonde Haare eine möglichst naturgetreue Rekonstruktion des Äußeren erreichen. Zudem habe der Sachverständige die Lebensdauer einer Perücke aus asiatischem Haar mit einem Jahr angegeben.

Wegen weiterer Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichts- und Verwaltungsakten verwiesen. Diese waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung, in der der Senat die Klägerin persönlich angehört hat.

Entscheidungsgründe:

Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung ist zulässig aber unbegründet. Zutreffend hat das Sozialgericht die Beklagte verurteilt, der Klägerin die Kosten für die streitgegenständlichen Perücken zu erstatten.

Da der Klägerin der Widerspruchsbescheid vom 24. Mai 2000 nach dem darauf befindlichen Vermerk am 2. Juni 2000 zugestellt wurde, steht ihrem Anspruch nicht die Bestandskraft des Bescheides entgegen. Zwar ist der Widerspruchsbescheid nach dem Datumsstempel der Beklagten am 26. Mai 2000 zur Post aufgegeben worden. Die Zugangsvermutung des § 37 Abs. 2 Satz 1 Sozialgesetzbuch 10. Buch (SGB X) mit drei Tagen nach Aufgabe zur Post ist jedoch nach Satz 2 Halbsatz 1 widerlegbar. Nach Satz 2 Halbsatz 2 hat im Zweifel die Behörde den Zugang des Verwaltungsaktes und den Zeitpunkt des Zugangs nachzuweisen. Das ist ihr ausweislich ihres Schriftsatzes vom 1. März 2005 nicht möglich.

Grundlage des Erstattungsanspruchs ist § 13 Abs. 3 SGB V. Diese Vorschrift lautet: "Konnte die Krankenkasse eine unaufschiebbare Leistung nicht rechtzeitig erbringen oder hat sie eine Leistung zu Unrecht abgelehnt und sind dadurch Versicherten für die selbstbeschaffte Leistung Kosten entstanden, sind diese von der Krankenkasse in der entstandenen Höhe zu erstatten, soweit die Leistung notwendig war". In Betracht kommt hier allein der Fall der unberechtigten Ablehnung einer Leistung (2. Alternative). Der Erstattungsanspruch ist begründet, weil die Beklagte dem Antrag der Klägerin auf Versorgung mit einer maßgefertigten Perücke aus blondem europäischen Haar entsprechend den vorgelegten Kostenangeboten des Toupetstudios M stattgeben musste.

Hinsichtlich der Rechtsgrundlage für den Versorgungsanspruch weist das Sozialgericht zutreffend auf § 27 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 SGB V i.V.m. § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V hin. Danach haben Versicherte Anspruch auf Versorgung mit Seh- und Hörhilfen, Körperersatzstücken, orthopädischen und anderen Hilfsmitteln, die im Einzelfall erforderlich sind, um den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern (1. Alternative) oder eine Behinderung auszugleichen (2. Alternative), soweit die Hilfsmittel nicht als allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens anzusehen oder nach § 34 Abs. 4 SGB V ausgeschlossen sind. Die Beteiligten gehen zu Recht davon aus, dass der fast totale Haarverlust, unter dem die Klägerin leidet, eine Behinderung im Sinne der genannten Vorschriften darstellt und die Klägerin aus diesem Grund einen Anspruch auf eine angemessene Versorgung durch Haarersatz hat. Streitig ist zwischen den Beteiligten allein, ob die vorgelegten streitgegenständlichen Angebote einer Versorgung mit Haarersatz angemessen und daher von der Beklagten deren Kosten zu übernehmen sind. Das ist entgegen der Auffassung der Beklagten der Fall.

In dem Zusammenhang mit der Versorgung behinderter Menschen mit Hilfsmitteln und hier der Versorgung einer Frau mit einer Perücke hat das BSG (a. a. O.) ausgeführt, dass Ziel der Versorgung behinderter Menschen mit Hilfsmitteln die Förderung ihrer Selbstbestimmung und ihrer gleichberechtigten Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft sei. Die sich daraus ergebende Frage, welche Qualität und Ausstattung ein Hilfsmittel haben müsse, um als geeignet, notwendig, aber auch ausreichend gelten zu können, beantworte sich danach, welchem konkreten Zweck die Versorgung im Einzelfall diene. Dabei müsse Qualität und Wirksamkeit der Leistung insoweit dem allgemeinen anerkannten Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse entsprechen und den medizinischen Fortschritt berücksichtigen. Gehe es um einen Ausgleich ohne Verbesserung elementarer Körperfunktionen allein zur Befriedigung eines sonstigen allgemeinen Grundbedürfnisses des täglichen Lebens (u.a. Teilhabe am gesellschaftlichen Leben), bemesse sich der Umfang der Leistungspflicht der Krankenkasse nicht nach dem technisch Machbaren. Die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben setze bei einer Frau nicht voraus, dass ihr ursprüngliches Aussehen durch die Perücke so weit wie möglich wieder hergestellt werde; Ziel der Hilfsmittelversorgung sei nicht die möglichst umfassende Rekonstruktion des verlorengegangenen früheren Zustands, sondern nur die Gewährleistung der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Daraus folge, dass auch der Wunsch der Versicherten nach einer bestimmten Frisur dann nicht maßgeblich sei, wenn er - wie hier und in dem vom BSG entschiedenen Fall - mit Mehrkosten verbunden sei. Denn die freie Bewegung unter den Mitmenschen sei bereits dann gewährleistet; es bedürfe dazu keiner kompletten "Nachbildung" des ursprünglichen Aussehens. Ein ausreichender Behinderungsausgleich werde bei der Perückenversorgung nicht bereits in Frage gestellt, wenn einige wenige vertraute Personen oder Fachleute das Haupthaar als "künstlich" erkennen. Das wäre erst dann der Fall, wenn dies auch jedem unbefangenen Beobachter nach kurzem Blick auffiele.

Unter Zugrundelegung dieser Rechtsprechung, der der Senat folgt, hat die Klägerin einen Anspruch auf Versorgung mit den ihr vom Toupetstudio M angebotenen Perücken. Das folgt zum Einen aus dem durch Vernehmung der Sachverständigen deutlich gewordenen Umstand, dass jede andere Versorgung bei der Klägerin dazu geführt hätte, dass die Perückenversorgung einem unbefangenen Betrachter nach kurzem Blick aufgefallen wäre.

Neben der blonden Echthaarperücke bestand für die Klägerin die Möglichkeit der Versorgung mit einer indischen Echthaarperücke oder einer Kunsthaarperücke. Beide Versorgungen hätten jedoch nicht zu einer angemessenen Nachbildung des ursprünglichen Aussehens der Klägerin geführt. So ist eine Perücke mit asiatischem Echthaar, deren Kosten in etwa denen entsprechen würde, die die Beklagte 1999 für ausreichend hielt, kein gleichwertiger Ersatz. Um ein Erkennen als Haarnachbildung zu verhindern, hätte eine solche grundsätzlich schwarze Perücke blond gefärbt werden müssen, da die Klägerin von Natur aus blond ist und bisher entsprechende Perücken trug. Zwar kann auch asiatisches Haar blond gefärbt werden, dies geschieht jedoch mit einem erheblichen Qualitätsverlust. Der Friseurmeister L hat als Sachverständiger vor dem Sozialgericht darauf hingewiesen, dass indisches Haar in der Struktur wesentlich glatter und stärker als europäisches Haar und grundsätzlich dunkel sei. Färbe man dieses Haar, werde es wesentlich trockener und erheblich pflegebedürftiger und für den täglichen Gebrauch nur bedingt brauchbar. So rolle sich blondiertes asiatisches Haar schon nach kurzer Zeit auf und flattere unnatürlich herum. Zwar hält der Sachverständige bei Kurzhaarperücken bis 10 cm die Blondierung indischen Haares für vertretbar. Dies habe aber eine erhebliche Verkürzung der Lebensdauer auf ein Jahr zur Folge. Das ist auf Grund der notwendigen Bearbeitung und damit Beanspruchung des Haares nachvollziehbar. Der von der Beklagten der Klägerin als Leistungserbringer benannte Friseurmeister M bestätigt diese Einschätzung in seiner Stellungnahme vom 24. Juli 2003, dass blonde Perücken aus indischem Echthaar nur für zeitweiliges Tragen konzipiert seien. Die voraussichtliche Nutzungsdauer schätzt er sogar auf nur drei bis fünf Monate. Dabei beschreibt Friseurmeister M Erfahrungen der Klägerin selbst, die 1996 mit einer solchen Importware versorgt war und bei der die Haare "struppig abstanden".

Eine Kunsthaarperücke schließt offensichtlich auch die Beklagte als alternative Versorgung der Klägerin aus, da sie ihr eine teurere Echthaarperücke bewilligt hat. Dies entspricht auch der Einschätzung des Sachverständigen Chefarzt Prof. Dr. Dr. C , der eine Versorgung mit einer Echthaarperücke aus letztlich zwei Gründen für notwendig ansieht. So weist er darauf hin, dass das optische Erscheinungsbild von Kunsthaarperücken bereits nach kurzer Tragezeit beeinträchtigt sei und die gesamte Lebensdauer der Perücke limitiere. Damit bestätigt er die Einschätzung des Sachverständigen L und des Friseurmeisters M. Zweiter Grund sei, dass die Kunsthaarperücke im Gegensatz zu Echthaarperücken Feuchtigkeit, Fette und Salze (vom Körperschweiß) nicht aufnehme, so dass diese von der darunter liegenden Haut nicht abgedunstet werden könnten und es zu vermehrter Schweißbildung komme. Damit sei die Klimatisierung der Kopfhautregion eingeschränkt und schließe weitestgehend eine Langzeitversorgung mit einer solchen Perücke aus. Dieser Umstand sei gerade im Falle der Klägerin zu berücksichtigen, da auf Grund ihrer atopischen Hautdiathese eine erhöhte Verletzbarkeit bzw. gegenüber der Norm verminderte Resistenz auf mechanische, physikalische oder chemische Hautbelastungen gegeben sei. So sei es bei der Klägerin beim Tragen einer Kunsthaarperücke in der frühesten Jugend zu einer ausgeprägten irritativen Hautreaktion am Capillitum gekommen. Eine derartige Hautbelastung sei bei einer Langzeitversorgung nicht zumutbar.

Neben der oben näher beschriebenen verminderten Belastbarkeit der Haut hat die Sachverständige, Ärztin für Neurologie und Psychiatrie, Diplom-Psychologin Dr. P darüber hinaus auf die "immense Bedeutung" hingewiesen, die es auf Grund der psychischen Situation der Klägerin notwendig mache, hinsichtlich des äußeren Erscheinungsbildes möglichst wenig aufzufallen. Die Klägerin befinde sich seit vielen Jahren in einem ausgesprochen labilen psychischen Zustand, was seit acht Jahren zusätzlich dadurch verstärkt werde, dass die damals geborene Tochter an dem selben genetischen Defekt leide. Dies habe die Klägerin in ihrer ängstlichen Erwartungshaltung, ihrem Pessimismus und ihrer zum Teil sehr deutlich sensitiven Umgebungswahrnehmung bestärkt. Auf Grund dieser psychischen Störung befinde sich die Klägerin seit 1990 in ambulanter Psychotherapie, die sie nach einer Therapiepause 1995 wieder aufgenommen habe. Eine solche Therapie sei im Falle der Klägerin auch unbedingt erforderlich, da sie letztlich durchgängig am Rande der psychischen Dekompensation lebe und nur unter Aufbietung sämtlicher psychischer Ressourcen in der Lage sei, nicht schwerergradig depressiv zu dekompensieren. Auf Grund eines solchen psychischen Befundes ist der Senat der Auffassung, dass bei der Klägerin, anders als in der Entscheidung des BSG vom 23. Juli 2002, eine erhöhte Anforderung an das äußere Erscheinungsbild und hier an die "Nachbildung" ihres ursprünglichen Aussehens zu stellen ist. Da dieser erhöhten Anforderung nur die streitgegenständlichen blonden (nicht blondierten!) Echthaarperücken genügen und darüber hinaus ihr Preis, was von der Beklagten nicht in Streit gestellt wird und auch nicht ersichtlich ist, angemessen ist, hat das Sozialgericht die Beklagte zu Recht zur Übernahme der Kosten verurteilt. Ihre Berufung ist insoweit zurückzuweisen.

Allerdings ist der Urteilsausspruch des Sozialgerichts hinsichtlich des Zinsanspruchs abzuändern. Nach § 44 Abs. 2 Sozialgesetzbuch 1. Buch beginnt die Verzinsung nämlich frühestens nach Ablauf von sechs Kalendermonaten nach Eingang des vollständigen Leistungsantrags zu laufen. Dies hat das Sozialgericht nicht beachtet. Da der erste Antrag mit dem Kostenangebot im November 1999 und der zweite im Oktober 2002 bei der Beklagten einging, beginnt die jeweilige Verzinsung erst ab 1. Juni 2000 bzw. 1. Mai 2003.

Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 183, 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG).

Gründe dafür, die Revision zuzulassen, bestehen nicht. Insbesondere weicht der Senat nicht von der Rechtsprechung des BSG und hier dem zitierten Urteil vom 23. Juli 2002 ab (§ 160 Abs. 2 Nr. 2), da anders als dort beim Versorgungsanspruch der Klägerin ihr psychischer Befund und die extreme Hautempfindlichkeit zu berücksichtigen sind.
Rechtskraft
Aus
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