S 1 U 161/17

Land
Hessen
Sozialgericht
SG Gießen (HES)
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
1
1. Instanz
SG Gießen (HES)
Aktenzeichen
S 1 U 161/17
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
1) Bei der Beurteilung der Zusammenhangsfrage zwischen Unfallfolgen und angeschuldigtem Ereignis in der gesetzlichen Unfallversicherung ist im Verwaltungsverfahren, von einfachsten Fällen abgesehen, regelmäßig ein Zusammenhangsgutachten einzuholen.

2) Kommt ein Unfallversicherungsträger dieser Nr. 1 im Rahmen des Amtsermittlungsgrundsatzes nach § 20 SGB X nicht nach, wird er in Anwendung des § 192 Abs. 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG) regelmäßig die Kosten einer im Gerichtsverfahren nachgeholten Begutachtung von Amts wegen zu übernehmen haben.

3) Es steht nicht nur die Kostenübernahme für ein Gutachten nach § 106 SGG im Ermessen des entscheidenden Gerichts, vielmehr können auch weitere Kosten des Verfahrens, insbesondere die Kosten einer Begutachtung nach § 109 SGG dem im Verwaltungsverfahren säumigen Unfallversicherungsträger auferlegt werden.
Die im Gerichtsverfahren entstandenen notwendigen Gesamtkosten der Zusammenhangsbegutachtung durch Dr. C., Universitätsklinikum Gießen-Marburg, in Höhe von 2.859,90 EUR hat die Beklagte zu tragen.

Gründe:

I.

In der Hauptsache stritten die Beteiligten wegen der Anerkennung eines Ereignisses als Arbeitsunfall und der Feststellung einer Deckplattenfraktur des 11. Brustwirbelkörpers als Unfallfolge nach den Vorschriften des Siebten Buches Sozialgesetzbuch – Gesetzliche Unfallversicherung – (SGB VII).

Am 04.08.2016 spürte die Klägerin bei ihrer versicherten Tätigkeit als Altenpflegerin Schmerzen in der Lendenwirbelsäule und begab sich in durchgangsärztliche Behandlung bei Dr. D., D-Stadt. Dieser diagnostizierte eine Lumboischialgie und führte eine Behandlung mittels Schmerzspritze durch. Aufgrund dieses Durchgangsarztberichtes veranlasste die Beklagte nichts Weiteres im Verwaltungsverfahren.

Mit Schriftsatz vom 16.03.2017 beantragte die Klägerin über ihren Prozessbevollmächtigten förmlich die Anerkennung des Ereignisses als Arbeitsunfall. Die Beklagte holte im Verwaltungsverfahren verschiedene Befundberichte und Arztbriefe, insbesondere den OP-Bericht der Klinik Bad Brückenau vom 20.01.2017 über eine Wirbelsäulenoperation und den Bericht über eine Computertomographie ein. Diese leitete sie ihrem radiologischen Beratungsarzt Dr. E. zur Stellungnahme zu. Der Beratungsarzt kam in seiner Stellungnahme vom 06.07.2017 zu dem Ergebnis, die Deckplattenfraktur sei als noch frisch zu interpretieren und stehe in zeitlicher Übereinstimmung mit dem angeschuldigten Ereignis. Weiter holte die Beklagte eine chirurgische Stellungnahme ihres Beratungsarztes Dr. F. ein. Dieser kam in seiner Stellungnahme vom 12.07.2017 zu dem Ergebnis, bei dem geschilderten Ereignis habe es sich um einen physiologischen Arbeitsablauf gehandelt. Aus der radiologischen Befundung würden sich konkurrierende Ursachen ergeben. Es handele sich deswegen um eine Gelegenheitsursache. Mit Bescheid vom 08.08.2017 lehnte die Beklagte die Anerkennung des Ereignisses als Arbeitsunfall ab. Hiergegen legte die Klägerin über ihren Prozessbevollmächtigten rechtzeitig Widerspruch ein, den die Beklagte ohne weitere Ermittlungen mit Widerspruchsbescheid vom 05.10.2017 zurückwies.

Aufgrund der am 06.11.2017 erhobenen Klage holte das Gericht ein orthopädisches Zusammenhangsgutachten von Amts wegen bei Dr. C. ein. Nach Einholung dieses Gutachtens stellte die Klägerin einen Antrag nach § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG). Aufgrund dieses Antrags wurde ein weiteres Zusammenhangsgutachten bei Dr. G., G-Stadt, eingeholt. Nachdem die beiden Sachverständigen zu divergierenden Ansichten kamen, gab ihnen das Gericht Gelegenheit zur ergänzenden Stellungnahme. Hiervon machte Dr. C. Gebrauch. Aufgrund des Gutachtens von Dr. C. wies das Gericht die Klage mit Urteil vom 14.02.2020 ab.

Das Gericht hat in der mündlichen Verhandlung den Beklagtenvertreter darauf hingewiesen, dass es eine Entscheidung nach § 192 Abs. 4 SGG wegen der fehlenden Ermittlungstätigkeit im Verwaltungsverfahren beabsichtige und insoweit Frist zur Stellungnahme eingeräumt. Die Beklagte hat von dem Recht zur Stellungnahme mit Schriftsatz vom 20. März 2020 Gebrauch gemacht.

II.

Die Beklagte hat die im Gerichtsverfahren entstandenen Gesamtkosten der Zusammenhangsbegutachtung durch Dr. C., Universitätsklinikum Gießen-Marburg, zu tragen.

Gemäß § 192 Abs. 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht der Behörde ganz oder teilweise die Kosten auferlegen, die dadurch verursacht werden, dass die Behörde erkennbare und notwendige Ermittlungen im Verwaltungsverfahren unterlassen hat, die im gerichtlichen Verfahren nachgeholt wurden. Diese Fallkonstellation ist vorliegend gegeben, da die Ermittlung der Zusammenhangsfrage zwischen der Deckplattenfraktur des 11. Brustwirbelkörpers der Klägerin und dem angeschuldigten Ereignis vom 04.08.2016 im Verwaltungs- und insbesondere auch im Widerspruchsverfahren absolut unzureichend waren. Die beigezogenen Befundunterlagen allein beratungsärztlich auswerten zu lassen, wie es die Beklagte getan hat, kann dem Amtsermittlungsgrundsatz des § 20 des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch – Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz – (SGB X) in einfachen Fällen genügen, muss es aber nicht. Es kommt hierbei zum einen darauf an, wie sorgfältig sich Verwaltung und Beratungsarzt mit der Thematik beschäftigen, zum anderen kommt es darauf an, welche Rechtsfrage im Streit steht. Soweit es sich im Recht der gesetzlichen Unfallversicherung allein um die Feststellung der Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) handelt, kann dieses Verfahren den Ansprüchen des § 20 SGB X genügen. Bei der Beurteilung der Zusammenhangsfrage (Kausalität) wird aber regelmäßig auch ein Zusammenhangsgutachten einzuholen sein. Insoweit wird die Beurteilung der Zusammenhangsfrage von der Rechtsprechung und insbesondere auch dem Gesetzgeber, der für diese Begutachtung die höchsten Entschädigungssätze vorsieht, als eine der schwierigsten Fragen im Recht der gesetzlichen Unfallversicherung angesehen. Hier kann eine beratungsärztliche Stellungnahme nur ausnahmsweise Grundlage der Entscheidung sein. Vorliegend hat der beratungsärztlich gehörte Radiologe jedenfalls feststellen müssen, dass zumindest ein zeitlicher Zusammenhang zwischen dem Ereignis und der Deckplattenfraktur besteht. Allein dies wäre für die Beklagte Grund gewesen, ein Zusammenhangsgutachten in Auftrag zu geben. Die Kurzstellungnahme des chirurgischen Beratungsarztes reicht hierbei keinesfalls dazu aus, im Vollbeweis die konkurrierende und allein wesentliche Ursache festzustellen.

Soweit die Beklagte im Verwaltungsverfahren insoweit ungenügende Feststellungen getroffen hat, hätte sie im Widerspruchsverfahren die Möglichkeit gehabt, diesen Ermittlungsfehler zu heilen. Sie hat hier jedoch keinerlei weitere Ermittlungen angestellt. Erst das im Gerichtsverfahren bei Dr. C. eingeholte Gutachten und seine ergänzende Stellungnahme hierzu haben umfangreich, detailgenau und widerspruchsfrei die Zusammenhänge dargestellt. Erst aufgrund dessen konnte eine überzeugende Entscheidung gefällt werden. Dabei muss darauf verwiesen werden, dass diese ärztliche Ansicht nicht einmal unumstritten gewesen ist, wie das Gutachten nach § 109 SGG des ebenfalls erfahrenen Sachverständigen Dr. G., G-Stadt, bestätigen musste. Allein dies zeigt, wie detailliert sich das Gericht mit der Zusammenhangsfrage im Rahmen einer wertenden Entscheidung auseinandersetzen musste. Dies wäre eigentlich Aufgabe der Beklagten gewesen.

Bei Ausübung des nach § 192 Abs. 4 SGG bestehenden Ermessensspielraums war zugunsten der Beklagten nur zu berücksichtigen, dass sie im Ergebnis ihrer Entscheidung richtig lag. Zu ihren Lasten war zu berücksichtigen, dass die fehlerhaften Ermittlungen ein insgesamt sehr kostspieliges Gerichtsverfahren mit zwei Begutachtungen zumindest mit veranlasst haben. Die Begutachtung nach § 109 SGG ist dabei auch auf die ungenügende Entscheidung der Beklagten zurückzuführen, denn nur durch die Veranlassung zum Klageverfahren entstand das Recht der Klägerin, einen derartigen Antrag zu stellen.

Nach alledem hält es das Gericht unter Berücksichtigung aller bekannten Tatsachen für angemessen, der Beklagten die Gesamtkosten der Begutachtung von Amts wegen nach § 106 SGG bei Dr. C. aufzuerlegen und von einer Auferlegung der weiteren, auf die Staatskasse zu übernehmenden Kosten der Begutachtung nach § 109 SGG abzusehen. Weitere Tatsachen waren bei der Ermessensausübung nicht zu berücksichtigen, der Schriftsatz der Beklagten vom 20.03.2020 enthält zur Ermessensausübung des Gerichts keine wesentlichen relevanten Argumente.
Rechtskraft
Aus
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