S 3 U 96/14

Land
Hessen
Sozialgericht
SG Gießen (HES)
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
3
1. Instanz
SG Gießen (HES)
Aktenzeichen
S 3 U 96/14
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 3 U 108/17
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 2 U 212/19 B
Datum
Kategorie
Gerichtsbescheid
1. Die Klage wird abgewiesen.

2. Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.

Tatbestand:

Im Streit steht die Anerkennung des Ereignisses vom 07.12.1977 als Arbeitsunfall.

Die 1970 geborene Klägerin hatte am 07.12.1977 gegen 6:55 Uhr in D-Stadt einen Verkehrsunfall erlitten, als sie beim Überqueren der D-Straße am Fußgängerüberweg während der Grünphase der Ampel von einem Lkw erfasst worden war. Sie hatte sich dabei eine Fraktur des linken Unterschenkels zugezogen.

Die Klägerin, welche damals im 2. Schuljahr stand, hatte sich zum Zeitpunkt des Unfalles auf dem Weg zum Kinderhort des Evangelischen Vereins E. in der F-Straße in D-Stadt befunden. Wegen der Folgen des Unfalles hatte die Klägerin seinerzeit von der gegnerischen Haftpflichtversicherung Schadensersatz in Form einer Abfindung i.H.v. 2500 DM erhalten.

In der Akte findet sich die verfilmte Unfallanzeige vom 21.12.1977, ausgestellt vom Evangelischen Verein für gemeinnützige Diakonie, E. – Kindertageseinrichtung -, D-Stadt, sowie die unleserliche ärztliche Unfallmeldung des Orthopäden Dr. G ...

Nachdem sich im Oktober 2012 für die Klägerin ein Bevollmächtigter gemeldet hatte, versuchte die Beklagte vergeblich, weitere unfallnahe Unterlagen beizuziehen. Zur Akte gelangten aktuellere Befundberichte, worin fortbestehende Beschwerden am linken Fußgelenk dokumentiert sind, die die Klägerin auf den Unfall vom Dezember 1977 zurückführte, es erfolgten mehrere operative Eingriffe.

Die Beklagte veranlasste außerdem ein chirurgisches Gutachten vom 12.09.2013. Der Sachverständige bejahte den Zusammenhang zwischen den aktuell am linken Knöchel bestehenden Beschwerden und dem Unfallereignis und schätzte die MdE unter anderem ab November 2003 mit 30 bzw. 20 v. H. ein, ab 01.03.2012 mit 10 v. H.

Durch Bescheid vom 24.02.2014 lehnte die Beklagte die Anerkennung und Entschädigung des Ereignisses vom 07.12.1977 als Arbeitsunfall ab, da sich der Verkehrsunfall nicht auf einem versicherten Weg ereignet habe.

Nach der zum Unfallzeitpunkt geltenden Reichsversicherungsordnung (RVO) habe gemäß § 539 Abs. 1 Nr. 14 a) RVO für Kinder während des Besuchs von Kindergärten und gemäß § 539 Abs. 1 Nr. 14 b) RVO für Kinder während des Besuchs von allgemeinbildenden Schulen Versicherungsschutz in der gesetzlichen Unfallversicherung bestanden. Während des Besuchs von Tageseinrichtungen (Kinderhorten) habe für Kinder zum Unfallzeitpunkt jedoch kein Versicherungsschutz bestanden, so dass der Unfall nicht als Arbeitsunfall anerkannt werden könne.

Unfallversicherungsschutz sei erst durch § 2 Abs. 1 Nr. 8 a) SGB VII ab dem 01.01.1997 auch für Kinder während des Besuchs von Tageseinrichtungen gesetzlich vorgesehen worden.

Der hiergegen fristgerecht eingelegte, jedoch nicht begründete Widerspruch wurde durch Widerspruchsbescheid vom 06.06.2014 als unbegründet zurückgewiesen. Zur Begründung wurde ausgeführt, dass während des Besuchs von Tageseinrichtungen (Horten) für Kinder zum Unfallzeitpunkt kein Versicherungsschutz bestanden habe. Erst durch die Einführung des SGB VII ab dem 01.01.1997 seien Kinder über die Vorschrift des § 2 Abs. 1 Nr. 8 a) SGB VII auch während des Besuchs von Tageseinrichtungen (Horten) unfallversichert. Vor diesem Zeitpunkt seien diese Kinder jedoch nicht versichert gewesen.

Die Klägerin hat hiergegen vor dem Sozialgericht Gießen am 09.07.2014 Klage erhoben.

Die Klägerin trägt vor, es erscheine diskriminierend und als Verstoß gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz des Art. 3 GG, wenn seinerzeit trotz Bestehens von Kinder Horten diese in der Reichsversicherungsordnung ausgeklammert worden seien, wenngleich Kindergärten, Schulen etwaige Kindertagesstätten mitberücksichtigt waren, so dass auch vorliegend der Kinderhort, der bei dem streitigen Unfall Ziel der Klägerin gewesen sei, nicht in den Versicherungsschutz mit einbezogen werde.

Die Klägerin beantragt sinngemäß,

den Bescheid der Beklagten vom 24.02.2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 06.06.2014 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, der Klägerin unter Anerkennung des Ereignisses vom 07.12.1977 als Arbeitsunfall für dessen gesundheitliche Folgen Leistungen der gesetzlichen Unfallversicherung, insbesondere Verletztenrente entsprechend dem Gutachten des Professor Dr. H., in gesetzlichem Umfang zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Die Beklagte hält die getroffenen Feststellungen für zutreffend.

Mit Schreiben vom 13.05.2015 hat das Gericht die Beteiligten zu einer Entscheidung durch Gerichtsbescheid gemäß § 105 SGG angehört.

Zum Sach- und Streitstand im Einzelnen wird auf die Gerichtsakte sowie die Verwaltungsakte der Klägerin bei der Beklagten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Das Gericht konnte gemäß § 105 Abs. 1 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) über den Rechtsstreit ohne mündliche Verhandlung durch Gerichtsbescheid entscheiden, denn die Sache weist keine Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art auf. Die Beteiligten sind vorher zur Entscheidung durch Gerichtsbescheid angehört worden und haben nichts vorgetragen, was einer Entscheidung gemäß § 109 SGG entgegenstehen würde.

Die insbesondere form-und fristgerecht vor dem zuständigen Gericht erhobene Klage ist zulässig, jedoch nicht begründet.

Der angegriffene Bescheid der Beklagten ist nicht aufzuheben, denn er ist nicht rechtswidrig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten. Diese hat keinen Anspruch auf Anerkennung des Ereignisses vom 07.12.1977 als Arbeitsunfall, denn sie erfüllt nicht die hierfür erforderlichen gesetzlichen Voraussetzungen.

Rechtsgrundlage für die von der Klägerin begehrte Feststellung sind die bis zum 31.12.1996 geltenden Vorschriften der RVO, weil das als Arbeitsunfall geltend gemachte Ereignis am 07.12.1977 und damit vor dem Inkrafttreten des SGB VII am 1.1.1997 stattfand (vgl. §§ 212, 214 SGB VII).

Nach § 548 Abs. 1 Satz 1 RVO ist ein Arbeitsunfall ein Unfall, den ein Versicherter bei einer der in den §§ 539, 540 und 543 bis 545 RVO genannten Tätigkeiten erleidet. Als Arbeitsunfall gilt nach § 550 Abs. 1 RVO auch ein Unfall auf einem mit einer der in den §§ 539, 540 und 543 bis 545 RVO genannten Tätigkeiten zusammenhängenden Weg nach und von dem Ort der Tätigkeit.

Die Klägerin erlitt am 07.12.1977 auf dem Weg zu dem Kinderhort des Evangelischen Vereins E. in der F-Straße in D-Stadt keinen als Arbeitsunfall geltenden Unfall auf einem mit einer versicherten Tätigkeit zusammenhängenden Weg bzw. von dem Ort einer solchen Tätigkeit.

Die Voraussetzungen für einen hier allein in Betracht kommenden Versicherungsschutz in der gesetzlichen Unfallversicherung gemäß § 539 Abs. 1 Nr. 14 a) bzw. b) RVO erfüllt die Klägerin nicht. Zum Zeitpunkt des Ereignisses am 07.12.1977 befand sie sich nicht auf einem Weg als Kind während des Besuchs eines Kindergartens oder als Schülerin während des Besuchs der allgemeinbildenden Schule, sondern auf dem Weg in die Betreuungsstätte im Kinderhort des Evangelischen Vereins E. in der F-Straße in D-Stadt.

Soweit die Klägerin meint, eine andere Auslegung des Begriffs der Kindergärten in § 539 Abs. 1 Nr. 14a RVO sei notwendig, um eine ungerechtfertigte Benachteiligung der Klägerin im Vergleich zu dem Besuch einer Kinderbetreuungseinrichtung wie dem Kinderhort des Evangelischen Vereins mit dem versicherten Besuch eines Kindergartens/einer Schule zu vermeiden, ist nicht ersichtlich, dass die geltend gemachte Benachteiligung gegen den Gleichheitsgrundsatz des Art 3 Abs 1 GG verstoßen und deshalb eine andere, verfassungskonforme Auslegung geboten sein könnte.

Art 3 Abs 1 GG ist verletzt, wenn eine Gruppe von Normadressaten im Vergleich zu anderen Normadressaten anders behandelt wird, obwohl zwischen beiden Gruppen keine Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, dass sie die ungleiche Behandlung rechtfertigen können (vgl. z. B. BVerfG vom 21.11.2001 - 1 BvL 19/93 u. a. - BVerfGE 104, 126, 144 f = SozR 3-8570 § 11 Nr. 5 S 48 f). Dies ist hier zu verneinen.

Vorliegend unterscheiden sich Kindergärten und Kinderhorte nämlich wesentlich hinsichtlich ihres Handlungsauftrages.

Kindergärten waren/sind Einrichtungen zur Förderung der Entwicklung drei – bis sechsjähriger Kinder vor dem Besuch einer allgemeinbildenden Schule und gewährleisten eine fachspezifische vorschulische Erziehung und spezielle Förderung und Ausbildung. Kindergärten haben die soziale und pädagogische Aufgabe, durch allgemeine und gezielte erzieherische Hilfen und Bildungsangebote die Lern- und Entwicklungsfähigkeit eines Kindes zu fördern und umweltbedingte Lerndefizite auszugleichen (vgl. Lauterbach, Gesetzliche Unfallversicherung, 3. Auflage, § 539 S. 148/1).

Kinderhorte sind demgegenüber Einrichtungen, in denen sich Schulkinder während der schulfreien Zeit aufhalten können.

Diese fielen seinerzeit nicht unter den Begriff des Kindergartens. Schulkinder, die außerhalb der Schulzeit in Kinderhorten verweilen, waren damit während des dortigen Aufenthaltes weder als "Kinder in Kindergärten" noch als Schüler gem. § 539 Abs. 1 Nr. 14 RVO versichert (ebenso BMA vom 24.06.1971 – IV a 5 – 4417.2 – 442/71; BSG Urteil vom 14.12.1978, 2 RU 75/78).

Vorliegend ist somit eine Ungleichbehandlung der Klägerin im Vergleich zu einem Kind, das auf einem Weg zu einem Kindergarten verunfallt, nicht ersichtlich, denn es bestanden nach Auffassung des Gerichts hinreichend gewichtige systematische Gründe, einen Kinderhort anders zu beurteilen wie einen Kindergarten.

Die gesetzliche Unfallversicherung gewährte in Ausweitung der Versicherung der in § 539 Abs. 1 Nr. 1 RVO genannten Beschäftigten durch die Versicherungstatbestände der § 539 Abs. 1 Nr. 14 a), Nr. 14 b) RVO bewusst Versicherungsschutz nur für die dort ausdrücklich genannten Einrichtungen, nicht jedoch in jeder sonstigen, irgendwie gearteten Betreuung, da seinerzeit nur der Versicherungsschutz im Rahmen staatlicher bzw. schulähnlicher Bildungsmaßnahmen gewollt war.

Ein Kind sollte nur dann versichert sein, wenn der institutionelle Rahmen, die räumlichen und materiellen Gegebenheiten und die fachspezifische Betreuung eine Kindergartens gegeben waren, vgl. LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 19.01.1989, L 7 U 1249/87.

Dies ergibt sich bereits aus der Stellungnahme des Bundesrates zu dem seinerzeitigen Gesetzentwurf, mit dem der Kreis der Versicherten auf Kinder während des Besuchs von Kindergärten erweitert wurde (BT-Drucks. VI/1333 S. 7), in der es heißt: "Im Bericht der Bundesregierung (BT-Drucks. 364/70) wird die Bedeutung der vorschulischen Erziehung für die Förderung der individuellen Begabung ausdrücklich hervorgehoben und die Reform und der Ausbau der Vorschulerziehung als erste Stufe des Bildungswesens als vordringliche bildungspolitische Aufgabe bezeichnet. Die Kindergartenstufe soll danach als Elementarbereich in das Bildungssystem einbezogen werden."

Der Hinweis des Bundesrates auf die Bedeutung der vorschulischen Erziehung und die seinerzeitigen Bestrebungen, die Kindergartenstufe als Elementarbereich des Bildungswesens auszugestalten, machen deutlich, dass es sich dabei um Einrichtungen handeln musste, deren Aufgabe es war, die Kinder durch eine altersgemäße erzieherische Einwirkung zu fördern und sie nicht lediglich zu "bewahren". § 539 Abs. 1 Nr. 14 a RVO erfasste hiernach grundsätzlich nur die – der versicherten Schulausbildung gleichgestellte – vorschulische Erziehung in Kindergärten, nicht den Aufenthalt in Kinderhorten.

Die seinerzeitige gesetzliche Regelung des § 539 Abs. 1 Nr. 14 RVO umfasste somit den Versicherungsschutz im Bildungs- und Ausbildungsbereich in allen Varianten, zu dem – wie ausgeführt – auch die Kindergärten als Elementarstufe des Bildungssystems gehörten. Demgemäß wurde Versicherungsschutz nicht für alle "irgendwie betreuten" Kinder gewährt, sondern nur für diejenigen, die im Kindergarten zwecks vorschulischer Erziehung untergebracht waren. Eine Ausdehnung des Versicherungsschutzes auf alle vorschulischen oder schulbegleitenden Tageseinrichtungen, Kinderkrippen oder Kinderhorte oder Hausaufgabenüberwachungseinrichtungen mit reiner Betreuungsfunktion wäre nach diesen Vorgaben de lege lata mit gesetzeskonformer Auslegung auch nicht unter Berufung auf den Gleichheitsgrundsatz oder das Sozialstaatsprinzip zu rechtfertigen.

Es ist auch nicht ersichtlich, wieso der Gesetzgeber seinerzeit verfassungsrechtlich hätte gehalten sein können, jede Person, die sich auf einem Weg befindet, in den letztlich hier aus Steuermitteln zu tragenden Versicherungsschutz der gesetzlichen Unfallversicherung einzubeziehen. Soweit in der Betreuungssituation von Kindern gesellschaftliche Änderungen eintreten, muss es dem Gesetzgeber überlassen bleiben, hieraus etwaige erforderliche sozialpolitische Konsequenzen zu ziehen (s. Kunze/Molentin, Die SV 1994 S. 284; Marschner, Die SV 1994 S. 117).

Die Klage war danach abzuweisen, da die Klägerin auf einem unversicherten Weg verunfallt ist.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG, die Rechtsmittelbelehrung folgt aus § 143 SGG.
Rechtskraft
Aus
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