S 12 KR 97/04

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
SG Augsburg (FSB)
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
12
1. Instanz
SG Augsburg (FSB)
Aktenzeichen
S 12 KR 97/04
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Der Bescheid vom 17. März 2003 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10. März 2004 wird aufgehoben.
II. Die Beklagte trägt die Gerichtskosten, die außergerichtlichen Kosten des Klägers sowie ihre eigenen Auslagen.
III. Der Streitwert wird auf 66.417,25 EUR festgesetzt.

Tatbestand:

Der Kläger wendet sich gegen eine Rückforderung zu Unrecht erbrachter Leistungen in Höhe von 66.417,25 EUR.

Der Kläger war nach Antragstellung ab 10.07.1995 über seine Ehefrau familienversichertes Mitglied der Beklagten. Bei mehrfachen Einkommensüberprüfungen gab er jeweils ein Einkommen unterhalb von einem Siebtel der monatlichen Bezugsgröße an. Am 19.11.1998 meldete er ein Einkommen von 300,00 DM, ohne Angaben über die Art des Einkommens zu machen. Am 27.09.1999 verneinte er eigenes Einkommen. Am 21.11.1999 gab er ein Einkommen von 630,00 DM monatlich an. Am 17.02.2002 verneinte er wieder eigenes Einkommen. Am 13.11.2002 wurde er geschieden. Seine Betreuerin stellte am 14.11.2002 Antrag auf freiwillige Mitgliedschaft. Der Betreuerausweis datiert vom 17.06.2002. Nach den nachgereichten Unterlagen bezog der Kläger ab 01.08.1990 Versorgungsbezüge nach dem Bahnversorgungsgesetz, die sich zuletzt ab 01.09.2002 auf einen Bruttozahlbetrag von 1.487,99 EUR beliefen. Im Rahmen einer telefonischen Anhörung am 13.01.2003 wurde die Betreuerin laut Aktenvermerk ausführlich über die Gründe einer Stornierung der Familienversicherung informiert. Bereits mit Bescheid vom 14.01.2003 "stornierte" die Beklagte rückwirkend die Familienversicherung, da deren Voraussetzungen nie vorlagen. Auch die Durchführung einer freiwilligen Versicherung sei daher nicht möglich. Zur Rückforderung der zu Unrecht bezogenen Leistungen erfolge ein gesonderter Bescheid. Widerspruch wurde gegen diesen Bescheid nicht eingelegt. Mit Schreiben vom 03.03.2003 zeigte der Klägerbevollmächtigte seine Mandatierung an. Die Beklagte forderte anschließend ohne weiteren Schriftwechsel mit Bescheid vom 17.03.2003 insgesamt 66.417,25 EUR vom Kläger zurück. Als Rechtsgrundlage wurde § 50 Abs. 2 in Verbindung mit § 48 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) genannt.

Der Bevollmächtigte des Klägers legte hiergegen am 16.04.2003 Widerspruch ein. Er bat zunächst um Vorlage der entsprechenden Rechnungen, da der Betrag ohne Aufstellung nicht nachvollzogen werden könne. Die Beklagte übersandte daraufhin mit Schreiben vom 14.05.2003 eine Aufstellung über ab 1997 entstandenen Kosten für Krankenhausaufenthalt, Fahrtkosten und Zahnersatz. Eine Widerspruchsbegründung ging nicht ein. Die Beklagte wies den Widerspruch dann mit Bescheid vom 10.03.2004 zurück. Dabei bezog sie sich zur Rechtsgrundlage auf § 50 Abs. 2 in Verbindung mit § 45 SGB X. Zum Vertrauensschutz führte sie aus, dass keine Schutzwürdigkeit bestehe, weil die Familienversicherung auf unrichtigen Angaben von Frau R. und dem Kläger beruhe, welche vorsätzlich unrichtig gemacht worden seien.

Der Bevollmächtigte hat hiergegen am 13.04.2004 Klage beim Sozialgericht Augsburg erhoben. Nach dem Betreuungsbeschluss vom 13.02.2004 zur Verlängerung der Betreuung ist der Kläger wegen einer paranoiden Schizophrenie nicht in der Lage, seine Angelegenheiten ausreichend zu besorgen. Nach mehrfacher Mahnung hat der Bevollmächtigte mit Schreiben vom 01.04.2005 zur Klagebegründung vorgetragen, dass der Kläger zwischenzeitlich schwer erkrankt ist und unter einer myatrophischen Lateralsklerose leidet. Die Atmung bestehe nur noch zu 30 % und er könne nicht mehr sprechen. Zudem bestehe seit vielen Jahren eine Psychose aus dem schizophrenen Formenkreis. Er hat auszugsweise Gutachten des Dr. R. vom 21.03.2002 zum Führerschein, des Bezirkskrankenhauses (BKH) A. vom 19.03.2002 in einem Strafverfahren sowie der Dr. R. vom 12.12.2003 im Betreuungsverfahren vorgelegt. Aus den Gutachten ergibt sich, dass der Kläger unter einer Psychose des schizophrenen Formenkreises leidet und dies erstmals im Jahr 2000 im BKH G. festgestellt wurde, aber schon seit Jahren ein chronisch produktiven Verlauf vorliege. Die lang andauernden psychischen Probleme beziehen sich dabei u.a. auf seine Zwangspensionierung, gegen die er in einer Fülle von Prozessen vorgegangen ist, wobei er auch der festen Überzeugung war, ihm stünde die Pension eines Bundesbahn-Vizepräsidenten zu. Dr. R. hält in ihrem Gutachten partielle Geschäftsunfähigkeit für die vom Wahn betroffenen Bereiche für gegeben. Der Klägerbevollmächtigte legte außerdem ein Schreiben des Klägers vom 17.06.2004 vor. Darin heißt es u.a. "meine Prozesse wollte ich geheimhalten und meine kleine Pension weil ich geklagt habe. Wenn ich mein Geld aus den Prozessen bekomme kann ich die DAK bezahlen". Die Beklagte ist mit Schreiben vom 25.04.2005 weiterhin davon ausgegangen, dass die Höhe der Einkünfte jeweils bewusst falsch angegeben wurde. Nach Ladung hat der Klägerbevollmächtigte dann noch ein Schreiben der Frau A. R., der früheren Ehefrau des Klägers, vom 22.04.2005 vorgelegt. Diese führt aus, dass sie die Prüfbogen vorher unterzeichnet habe im Glauben und Vertrauen, dass ihr Ehemann sie richtig und korrekt ausfülle. Die ganzen Büroarbeiten seien immer von ihm allein erledigt worden. Sie habe darüber nicht Bescheid gewusst. Der Klägerbevollmächtigte hat die Auffassung vertreten, dass der Kläger aufgrund seiner Wahnvorstellungen die Angaben in den Prüfbögen nicht vorsätzlich unrichtig getätigt habe.

Der Bevollmächtigte des Klägers beantragt,

den Bescheid vom 17.03.2003 in Gestalt des Widerspruchs- bescheides vom 10.03.2004 aufzuheben.

Die Bevollmächtigt der Beklagten bantragt,

die Klage abzuweisen.

Zur Ergänzung des Sachverhalts im Übrigen wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der Akte der Beklagten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Das angerufene Gericht ist gemäß §§ 57 Abs. 1, 51 Abs. 1, 8 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zur Entscheidung des Rechtsstreits örtlich und sachlich zuständig. Die form- und fristgerecht erhobene Klage ist zulässig und erweist sich auch als begründet. Der Bescheid der Beklagten vom 17.03.2003 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10.03.2004 ist rechtswidrig und daher aufzuheben.

Als Rechtsgrundlage für die Rückforderung stützt sich die Beklagte auf § 50 Abs. 2 in Verbindung mit § 45 SGB X. Es sei dahingestellt, ob die Beklagte damit insgesamt die richtige Rechtsgrundlage gewählt hat. Jedenfalls ist dies für die Krankenhausbehandlungskosten, die direkt im Verhältnis Beklagte/Krankenhaus gezahlt wurden ohne vorhergehenden Verwaltungsakt korrekt. Zweifelhaft ist jedoch, ob sich die Beklagte hinsichtlich der Rückforderung für Fahrtkosten und Kosten des Zahnersatzes nicht auf § 50 Abs. 1 SGB X stützen müsste. Die Argumentation, es seien keine Verwaltungsakte erteilt worden, weil die Leistungen direkt auf das Konto des Klägers überwiesen worden seien, vermag nicht zu überzeugen. Wenn jedoch Verwaltungsakte vorliegen, dann hätten diese zunächst nach § 45 SGB X aufgehoben werden und dann die Rückforderung nach § 50 Abs. 1 SGB X erfolgen müssen. Letzteres kann jedoch dahingestellt bleiben, weil die Voraussetzungen des § 45 SGB X auch im Rahmen des § 50 Abs. 2 SGB X zu prüfen sind und diese im vorliegenden Falle nicht gegeben sind.

Nach § 45 Abs. 2 SGB X darf ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt (im Fall des § 50 Abs. 2 steht anstelle des Verwaltungsaktes die ohne Verwaltungsakt erbrachte Leistung) nicht zurückgenommen werden, soweit der Begünstigte auf den Bestand des Verwaltungsaktes vertraut hat und sein Vertrauen unter Abwägung mit dem öffentlichen Interesse an einer Rücknahme schutzwürdig ist. Das Vertrauen ist in der Regel schutzwürdig, wenn der Begünstigte erbrachte Leistungen verbraucht oder eine Vermögensdisposition getroffen hat, die er nicht mehr oder nur unter unzumutbaren Nachteilen rückgängig machen kann. Auf Vertrauen kann sich der Begünstigte nicht berufen, soweit 1. er den Verwaltungakt durch arglistige Täuschung, Drohung oder Bestechung erwirkt hat, 2. der Verwaltungsakt auf Angaben beruht, die der Begünstigte vorsätzlich oder grob fahrlässig in wesentlicher Beziehung unrichtig oder unvollständig gemacht hat oder 3. er die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes kannte oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht kannte; grobe Fahrläs sigkeit liegt vor, wenn der Begünstigte die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt hat. Zudem wird nach § 45 Abs. 4 Satz 1 SGB X nur in den Fällen von Abs. 2 Satz 3 und Abs. 3 Satz 2 der Verwaltungsakt mit Wirkung für die Vergangenheit zurückgenommen. Dies bedeutet konkret, dass eine Rückforderung der geleisteten Zahlungen nur dann zulässig ist, wenn sich der Kläger deshalb nicht auf Vertrauensschutz berufen kann, weil er eine der Ziffern des § 45 Abs. 2 Satz 3 SGB X erfüllt. Die Beklagte hat dem Kläger vorgeworfen, vorsätzlich falsche Einkommensangaben (in der Antragstellung und den Einkommensfragebogen) im Sinne von § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 SGB X gemacht zu haben. Dieser Vorwurf ist jedoch zur Überzeugung des Gerichts nicht nachgewiesen. Nachweis bedeutet dabei, dass diese Tatsachen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit vorliegen müssen. Dies beinhaltet einen so hohen Grad an Wahrscheinlichkeit, dass kein vernünftiger Mensch mehr zweifelt. Zu beachten ist auch der Grundsatz der objektiven Beweislast. Danach sind die Folgen der objektiven Beweislosigkeit bzw. des Nichtfestgestelltseins einer Tatsache von demjenigen Beteiligten zu tragen, der aus dieser Tatsache ein Recht herleiten will (Meyer-Ladewig, SGG, 7. Aufl. § 103 Rdz 19a). Beweislastpflichtig dafür, dass die Voraussetzungen des § 45 Abs. 2 Satz 3 SGB X vorliegen ist die Beklagte. Wie sich aus den vom Klägerbevollmächtigten vorgelegten Gutachten von Dr. R., dem BKH A. und Dr. R. ergibt, leidet der Kläger unter einer Schizophrenie. Seine psychische Erkrankung bezieht sich dabei insbesondere auch auf die Pensionszahlungen der Deutschen Bahn. Es ist daher zur Überzeugung des Gerichts sehr gut vorstellbar, dass sich der Kläger bei den Angaben in den Einkommensfragebögen von seinem Wahn mit hat beeinflussen lassen und daher weder vorsätzlich noch grob fahrlässig unrichtige Angaben gemacht hat. Ebenso kann ihm damit nicht der Vorwurf im Sinne der Nr. 3 gemacht werden, dass er die Rechtswidrigkeit der Zahlung kannte bzw. infolge grober Fahrlässigkeit nicht kannte. Die Leistungen der Beklagten beruhen auch nicht auf arglistiger Täuschung, Drohung oder Bestechung. Da also die Voraussetzungen des § 45 Abs. 2 Satz 3 SGB X zur Überzeugung des Gerichts nicht nachgewiesen sind, damit § 45 Abs. 4 Satz 1 SGB X nicht erfüllt ist, war die Beklagte nicht zur Rückforderung der Leistungen nach § 50 Abs. 2 SGB X berechtigt.

Überdies fehlt es auch an der notwendigen Anhörung im Sinne von § 24 SGB X vor Bescheiderlass. Sinn und Zweck der Anhörung ist dabei, vor der endgültigen Verwaltungsentscheidung dem Versicherten Gelegenheit zur Stellungnahme zu allen aus Sicht der Beklagten entscheidungserheblichen Tatsachen zu geben. Die Beklagte hat den Kläger bzw. seine Betreuerin oder den Bevollmächtigten vor Erlass des Bescheides vom 17.03.2003 nicht angehört. Eine telefonische Anhörung erfolgte lediglich vor dem Bescheid vom 14.01.2003, jedoch nicht gesondert zur Rückforderung. Auch durch das Widerspruchsverfahren ist keine Heilung der fehlenden Anhörung nach § 41 Abs. 1 Nr. 3 SGB X eingetreten. Eine Heilung erfolgt nämlich nicht schon allein dadurch, dass ein Widerspruchsverfahren durchgeführt wird. Da die Anhörung Gelegenheit zur Stellungnahme zu den entscheidungserheblichen Tatsachen bieten soll ist Voraussetzung für die Nachholung der Anhörung, dass im Rahmen des Widerspruchsverfahrens alle wesentlichen entscheidungserheblichen Tatsachen aus Sicht der Beklagten den Versicherten bekannt gegeben werden. Dies war hier jedoch nicht der Fall. Weder enthält der Bescheid einen Hinweis auf § 45 SGB X und den Vorwurf, vorsätzlich unrichtige Angaben gemacht zu haben. Noch erfolgte eine telefonische oder schriftliche Anhörung, in der die Gründe für die Entscheidung im Sinne von § 45 SGB X skizziert worden wären vor Erlass des Widerspruchsbescheides. Erstmals hat die Beklagte dann im Widerspruchsbescheid die Entscheidungsgründe dargestellt. Damit aber konnte die Anhörung nicht mehr nachgeholt werden. Da es sich nämlich durch den Verweis von § 50 Abs. 2 SGB X auf § 45 SGB X um eine Ermessensentscheidung handelt, ist eine Anhörung nach Abschluss des Verwaltungsverfahrens nicht mehr möglich (s. dazu Steinwedel in KassKom § 41 SGB X Rdz 15 f. mit Verweisen auf die Rechtsprechung).

Der Klage war daher stattzugeben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a SGG, da der Kläger, wie von der Beklagten rechtsverbindlich festgestellt, zu keinem Zeitpunkt bei ihr Versicherter im Sinne von § 183 SGG war.

Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 197a Abs. 1 Satz 1 SGG in Verbindung mit dem Gerichtskostengesetz (GKG). Nach §§ 71 Abs. 1, 72 Abs. 1 GKG in der ab 01.07.2004 geltenden Fassung sind Kosten nach bisherigem Recht zu erheben, soweit der Rechtsstreit vor Inkrafttreten der Neuregelung anhängig war. Die Festsetzung beruht daher auf § 13 Abs. 2 GKG alter Fassung. Da der der Forderung zugrunde liegende Verwaltungsakt auf eine bestimmte Geldleistung gerichtet war, ist deren Höhe maßgeblich.
Rechtskraft
Aus
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