S 11 AL 27/05

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Aachen (NRW)
Sachgebiet
Arbeitslosenversicherung
Abteilung
11
1. Instanz
SG Aachen (NRW)
Aktenzeichen
S 11 AL 27/05
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Beklagte wird unter Abänderung des Bescheides vom 30.12.2004 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 16.02.2005 verurteilt, dem Kläger ungemindertes Arbeitslosengeld auch für die Zeit vom 11.12. 2004 bis 23.02.2005 zu zahlen. Die Beklagte hat die Kosten des Klägers zu erstatten.

Tatbestand:

Der Kläger wendet sich gegen eine Minderung des an ihn erbrachten Arbeitslosengelds (Alg) wegen verspäteter Meldung als arbeitsuchend.

Der am 00.00.1977 geborene Kläger arbeitete zunächst bis zum 31.12.2003 aufgrund eines befristeten Vertrages bei der Firma B1+T GmbH in B2, danach bezog er Alg. Vom 24.05.2004 bis zum 19.08.2004 arbeitete er bei zwei weiteren Firmen und bezog anschließend erneut Alg. Sodann arbeitete er bei der Firma C in B3 vom 14.09.2004 befristet bis zum 10.12.2004.

Am 10.12.2004 meldete der Kläger sich arbeitslos und beantragte Alg. Nach Einholung einer Arbeitsbescheinigung gewährte die Beklagte mit Bescheid vom 30.12.2004 Alg ab dem 11.12.2004 und nahm hierbei eine Minderung i.H.v. ingsesamt 1.050.- Euro für die Zeit vom 11.12.2004 bis 23.02.2005 vor, da der Kläger sich um 87 Tage zu spät arbeitsuchend gemeldet habe. Den am 12.01.2005 eingelegten Widerspruch wies sie mit Bescheid vom 16.02.2005 zurück mit der Begründung zurück, dem Kläger sei am 28.08.2004 anlässlich einer früheren Arbeitslosmeldung ein Merkblatt ausgehändigt worden, aus dem sich seine Meldeobliegenheit einschließlich des Zeitpunkts ergeben habe.

Hiergegen richtet sich die am 00.00.0000 erhobene Klage.

Der Kläger beantragt,

die Beklagte unter Abänderung des Bescheides vom 30.12.2004 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 16.02.2005 zu verurteilen, ihm ungemindertes Arbeitslosengeld auch für die Zeit vom 11.12.2004 bis 23.02.2005 zu zahlen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Die Beteiligten wiederholen ihr bisheriges Vorbringen.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die gewechselten Schriftsätze und die übrige Gerichtsakte sowie die beigezogene Verwaltungsakte, deren wesentlicher Inhalt Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist, verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Klage ist begründet. Die angefochtenen Entscheidungen der Beklagten sind rechtswidrig i. S. von § 54 Abs. 2 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG). Die Beklagte durfte den Alg-Anspruch des Klägers nicht wegen verspäteter Meldung mindern. Nach § 140 Satz 1 SGB III mindert sich der Anspruch auf Alg, das dem Arbeitslosen auf Grund des Anspruchs zusteht, der nach der Pflichtverletzung entstanden ist, wenn sich der Arbeitslose entgegen § 37 b SGB III nicht unverzüglich arbeitsuchend gemeldet hat. Nach § 37 b Satz 1 SGB III sind Personen, deren Versicherungspflichtverhältnis endet, verpflichtet, sich unverzüglich nach Kenntnis des Beendigungszeitpunkts persönlich bei der Agentur für Arbeit arbeitsuchend zu melden. Gemäß § 37 b Satz 2 SGB III hat die Meldung im Falle eines befristeten Arbeitsverhältnisses frühestens drei Monate vor dessen Beendigung zu erfolgen.

Die Voraussetzungen aus § 140 Satz 1 SGB III sind bereits deswegen nicht erfüllt, weil nach einem unterstelltem Verstoß gegen § 37 b Satz 1 und 2 SGB III kein Anspruch auf Alg entstanden ist. Gemindert wird nach § 140 Satz 1 SGB III nur der Alg-Anspruch, der nach der Pflichtverletzung entstanden ist. Da jedoch der Alg-Anspruch als Stammrecht auch über die Neuaufnahme einer Beschäftigung hinaus fortbesteht, führt auch ein Verstoß gegen § 37 b SGB III nicht zur Minderung, wenn das letzte Versicherungspflichtverhältnis nicht zur Entstehung eines eigenen Stammrechts geführt hat (SG Duisburg, Urteil vom 29.06.2004, S 12 AL 369/03, info also 2004, 256 (258); Brand, in: Niesel, SGB III, 3.Aufl., 2005, § 140, Rn. 3; Winkler, in: Gagel, SGB III, § 140, Rn 5; Coseriu/Jakob, in: PK-SGB III, 2. Aufl., 2004, § 140, Rn 15). Wird also nach Beendigung der Beschäftigung lediglich aus einem bereits vorher entstandenen Stammrecht weitergezahlt, so kann § 140 SGB III nicht greifen. Im vorliegenden Fall hatte der Kläger durch die noch nicht einmal dreimonatige Beschäftigung bei der Firma C nicht die Anwartschaftszeit erfüllt und somit keinen "neuen" Anspruch auf Alg erworben (§§ 123 Satz 1, 124 Abs. 1, Abs. 2 SGB III). Die Weiterbewilligung von Alg aus einem bereits zuvor entstandenen Stammrecht ist jedoch von der Meldeobliegenheit aus § 37 b SGB III unabhängig.

Die Beklagte durfte den Anspruch weiterhin auch deswegen nicht mindern, weil die §§ 37 b Satz 1 und 2, 140 Sozialgesetzbuch Drittes Buch - Arbeitsförderung - (SGB III) zu unbestimmt sind, um zur Minderung des Anspruchs auf Alg zu ermächtigen.

Die §§ 37 b, 140 SGB III sind keine geeignete Ermächtigungsgrundlage zur Minderung von Alg in Zusammenhang mit befristeten Arbeitsverhältnissen. § 37 b Satz 2 SGB III ist in Verbindung mit § 37 b Satz 1 SGB III derart unbestimmt, dass er (wiederum i.V.m. § 140 SGB III) keine taugliche Ermächtigungsgrundlage für einen Eingriff in den Anspruch auf Alg darstellt (SG Dortmund, Urteil vom 26.07.2004 - S 33 AL 127/04). Die Vorschrift besagt mithin nicht, dass sich der Alg-Anspruch (nach Maßgabe von § 140 SGB III) mindert, wenn die genannte Frist verstrichen ist und der Versicherte sich nicht arbeitsuchend gemeldet hat. Vielmehr ist § 37 b Satz 2 SGB III bei verfassungsrechtlich gebotener geltungserhaltender Reduktion (vgl. BVerfGE 69, 1, 55 m.w.N.) dahingehend auszulegen, dass er lediglich regelt, ab wann sich ein Versicherter arbeitsuchend melden und somit die Pflicht der Beklagten zur Arbeitsvermittlung nach § 38 Abs. 4 SGB III auslösen kann.

Aus dem Rechtsstaatsprinzip, Art. 1 Abs. 3, Art. 20 Abs. 3 GG, ergibt sich, dass eine Ermächtigung der Verwaltung zum Eingriff in Grundrechte durch Gesetz erfolgen und insbesondere hinreichend bestimmt sein muss. Klarheit und Bestimmtheit einer Vorschrift bedeutet Erkennbarkeit des gesetzgeberisch Gewollten. Betroffene müssen die Rechtslage erkennen und ihr Verhalten danach einrichten können (BVerfGE 52, 1, 41). Das Handeln der Verwaltung muss für den Bürger voraussehbar und berechenbar sein (BVerfGE 56, 1, 12; BVerwGE 100, 230, 236; Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, 7. Aufl., 2004, Art. 20, Rn. 60, 61).

§ 37 b Satz 2 SGB III wird diesen Anforderungen schon deswegen nicht gerecht, weil die Vorschrift in Zusammenschau mit § 37 b Satz 1 SGB III, auf den sie sich unmittelbar bezieht, mehrere ungefähr gleich naheliegende und plausible Auslegungen zulässt, die jedoch im Einzelfall zu völlig unterschiedlichen Ergebnissen führen: § 37 b Satz 1 und 2 SGB III kann zum einen so verstanden werden, dass die Meldung mit Ablauf des nächsten dienstbereiten Tages zu erfolgen hat, nachdem der Versicherte Kenntnis von der Befristung hat und es nur mehr 3 Monate bis zur Beendigung des Versicherungspflichtverhältnisses sind (Satz 1 als nähere Ausgestaltung des Tatbestandsmerkmals "frühestens" in Satz 2). Denkbar ist jedoch auch eine Auslegung, wonach die Meldung ab Kennntnis und Unterschreitung der Frist erfolgen kann, jedoch nicht unverzüglich erfolgen muss (das Tatbestandsmerkmal "frühestens" in Satz 2 verdrängt das Tatbestandsmerkmal "unverzüglich" in Satz 1). Diese Unklarheiten betreffen nicht nur den isoliert betrachteten Norminhalt von § 37 Satz 2 SGB III, sondern auch die Frage, ob neben § 37 b Satz 2 SGB III noch Raum für eine subsidiäre Anwendung von § 37 b Satz 1 SGB III ist. Welche der möglichen Auslegungen die vom Gesetzgeber gewollte ist, erschließt sich den - regelmäßig mit juristischen Auslegungsmethoden ohnehin nicht vertrauten - Betroffenen selbst bei genauer Kenntnis des Wortlauts von § 37 b SGB III nicht. Die von dieser Regelung betroffenen Versicherten haben mithin keinerlei Möglichkeit, das gesetzgeberisch Gewollte zu erkennen und ihr Verhalten an der gesetzlichen Regelung auszurichten.

Es handelt sich schließlich auch nicht um einen derjenigen Fälle, in denen ein Minus an inhaltlicher Bestimmtheit zulässig ist, da der Gesetzgeber die fragliche Materie nur durch Generalklauseln und/oder durch Verwendung unbestimmter Rechtsbegriffe regeln kann (zu derartigen Konstellationen Jarass, a.a.O., Rn. 61). Dies mag auf die Verwendung des Begriffs "unverzüglich" in § 37 b Satz 1 SGB III zutreffen, der Begriff "frühestens" ist jedoch kein unbestimmter Rechtsbegriff.

Dies gilt auch dann, wenn der Kläger - wie die Beklagte behauptet - auf die Meldeobliegenheit und ihren Zeitpunkt hingewiesen worden ist (vgl. SG Aachen, Urteil vom 15.12.2004, S 11 AL 68/04). Wo verfassungsrechtliche Vorgaben eine bestimmte (einschränkende oder erweiterende) Auslegung gesetzlicher Bestimmungen gebieten, gilt diese Auslegung grundsätzlich in allen Anwendungsfällen der Vorschriften. Anders ist es nur, wenn die verfassungsrechtlichen Vorgaben nur bei Vorliegen bestimmter tatbestandlicher Voraussetzungen eingreifen. Dies ist etwa der Fall bei einer Minderung von Alg nach Beendigung eines unbefristeten Versicherungspflichtverhältnisses (§§ 140, 37 b Satz 1 SGB III), wo aus verfassungsrechtlichen Gründen eine Minderung dann unterbleiben muss, wenn der Betroffene seine Obliegenheit zu frühzeitiger Meldung als arbeitsuchend weder kennt noch aufgrund grober Fahrlässigkeit nicht kennt und weiterhin auch keine allgemein bekannten Verhaltenserwartungen der Versichertengemeinschaft missachtet hat (SG Aachen Urteil vom 30.07.2004, S 11 AL 4/04). Grund für die verfassungskonforme Auslegung von § 37 b Satz 1 SGB III bei der Beendigung unbefristeter Versicherungspflichtverhältnisse ist die durch Artikel 14 GG vorgegebene Prüfung des verfassungsrechtlichen Übermaßverbots. Während aber gerade das Übermaßverbot regelmäßig zu einer Einzelfallabwägung zwingt, steht der (hier zu beurteilenden) Minderung von Alg nach der Beendigung befristeter Versicherungspflichtverhältnisse - wie dargelegt - das sich aus dem Rechtsstraatsprinzip ergebende Erfordernis von Klarheit und Bestimmtheit einer Vorschrift entgegen. Genügt eine Vorschrift aber bereits diesen fundamentalen rechtsstaatlichen Anforderungen nicht, so kommt es auf eine Einzelfallprüfung nicht mehr an.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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