S 11 RJ 98/03

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Aachen (NRW)
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
11
1. Instanz
SG Aachen (NRW)
Aktenzeichen
S 11 RJ 98/03
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Der Bescheid vom 23.05.2003 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 05.08.2003 wird aufgehoben. Die Beklagte hat die Kosten des Klägers zu erstatten.

Tatbestand:

Der Kläger wendet sich gegen teilweise Auszahlung seiner Rente an die Beigeladene.

Der am 00.00.1955 geborene Kläger leidet an multipler Sklerose und bezieht von der Beklagten Rente wegen Erwerbsunfähigkeit in Höhe von derzeit 925,39 Euro monatlich. Er ist Vater der drei Kinder T1 (geb. 00.00.1984), T2 (geb. 00.00.1984) und T3 (geb. 00.00.1988). Die beiden erstgenannten Kinder leben in seinem Haushalt, beide befinden sich derzeit in Berufsausbildung. Der Sohn T3 lebt nicht beim Kläger und erhält von der Beigeladenen Hilfe zum Lebensunterhalt in Höhe von monatlich 382,65 Euro.

Im April 2003 beantragte die Beigeladene bei der Beklagten die Auszahlung der Rente an sich. Die Beklagte teilte dem Kläger daraufhin mit, dass sie beabsichtige, ab Juni 2003 einen monatlichen Betrag von 195,39 Euro aus der Rente an die Beigeladene auszuzahlen und führte zur Begründung aus, der Kläger komme seiner Unterhaltspflicht gegenüber seinem Sohn T3 nicht nach. Da ihm gemäß der Düsseldorfer Tabelle nur ein notwendiger Eigenbedarf i.H.v. 730 Euro monatlich zustünde, dürfe der Restbetrag an die Beigeladene ausgezahlt werden. Der Kläger trat dem entgegen und legte eine Berechnung des Sozialhilfebedarfs durch die Stadt K für sich und seine jetzige Ehefrau sowie umfangreiche Unterlagen über die Einkommensverhältnisse aller in seinem Haushalt lebender Personen vor.

Mit Bescheid vom 23.05.2003 entschied die Beklagte, einen Betrag iHv 195,39 Euro ab 01.06.2003 an die Beigeladene auszuzahlen.

Seinem an 12.06.2003 erhobenen Widerspruch begründete der Kläger mit seiner Unterhaltspflicht gegenüber seinen beiden älteren Kindern, mangelnder eigener Leistungsfähigkeit sowie erheblichen, nicht näher spezifizierten Mehraufwendungen aufgrund Schwerbehinderung. Die Beigeladene berief sich im Widerspruchsverfahren darauf, die Unterhaltspflicht gegenüber den beiden älteren Kindern sei nach deren Eintritt in die Volljährigkeit entfallen.

Mit Bescheid vom 05.08.2003 wies die Beklagte den Widerspruch mit der Begründung zurück, Sozialhilfebedarf bestehe beim Kläger ausweislich der von ihm selbst vorgelegten Berechnung nicht. Im Übrigen sei der Kläger nach dem Entfallen einer Unterhaltspflicht gegenüber den beiden älteren Kindern nunmehr zu Unterhaltsleistungen für T3 heranzuziehen.

Hiergegen richtet sich die am 00.00.0000 erhobene Klage.

Der Kläger wiederholt und vertieft sein bisheriges Vorbringen und hat wiederum umfangreiche Unterlagen zu den Einkommensverhältnissen von T1 und T2 vorgelegt. Weiterhin führt er aus, er sei aufgrund seiner Erkrankung zu erheblichen Mehraufwendungen für eine besondere Diät, nicht von der Krankenversicherung getragene Behandlungskosten und - da er auf die Benutzung eines Rollstuhls angewiesen sei - auch für einen behinderungsgerechten Kraftwagen genötigt.

Das Gericht hat den an T3 leistenden Sozialhilfeträger zum Verfahren beigeladen.

Der Kläger beantragt,

den Bescheid vom 23.05.2003 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 05.08.2003 aufzuheben.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Die Beigeladene beantragt,

die Klage abzuweisen.

Beklagte und Beigeladene wiederholen und vertiefen ihr bisheriges Vorbringen.

Zu den Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die gewechselten Schriftsätze und die beigezogene Verwaltungsakte, deren wesentlicher Inhalt Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist, verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Klage ist begründet. Die angefochtene Entscheidung ist rechtswidrig iSd § 54 Abs. 2 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG). Die Beklagte durfte die Rente jedenfalls nicht i.H.v. 195,39 Euro an die Beigeladene auszahlen. An der Entscheidung über eine etwaige zulässige Auszahlung an die Beklagte sieht sich das Gericht durch den der Beklagten eingeräumten Beurteilungsspielraum gehindert. Die Beklagte hat bei der Ermittlung eines an die Beigeladene auszuzahlenden Betrages von ihrem Beurteilungsspielraum in einer Weise Gebrauch gemacht, die gerichtlicher Überprüfung zugänglich ist und ihr nicht standhält. Sie hat den maßgeblichen Sachverhalt nicht vollständig und zutreffend ermittelt und in ihre Prüfung eingestellt und keine nachvollziehbare zutreffende Gewichtung der Beurteilungsmaßstäbe vollzogen.

Nach § 48 Abs. 1 Satz 1 und 4 Sozialgesetzbuch Erstes Buch - Allgemeiner Teil - (SGB I) können laufende Geldleistungen, die der Sicherung des Lebensunterhalts zu dienen bestimmt sind, in angemessener Höhe an den Ehegatten oder die Kinder des Leistungsberechtigten ausgezahlt werden, wenn er ihnen gegenüber seiner gesetzlichen Unterhaltspflicht nicht nachkommt. Die Auszahlung kann auch an die Person oder Stelle erfolgen, die dem Ehegatten oder den Kindern Unterhalt gewährt. Bei der Rente wegen Erwerbsunfähigkeit handelt es sich um eine laufende Geldleistung zur Sicherung des Lebensunterhalts (Seewald, in: Kasseler Kommentar zum Sozialversicherungsrecht, § 48 SGB I, Rn 5); der Hilfeempfänger T3 ist auch unstreitig Kind des Klägers und bezieht Leistungen der Beigeladenen.

Eine Verletzung der Unterhaltspflicht liegt vor, wenn der Leistungsberechtigte nach den Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB) zur Zahlung von Unterhalt verpflichtet ist und dieser Verpflichtung nicht nachkommt. Liegt ein Rechtstitel über die Unterhaltspflicht (wie hier) nicht vor, so hat sich der Leistungsträger bei seiner Prüfung an den gebräuchlichen, von der Rechtsprechung entwickelten Tabellen, insbesondere der sog. Düsseldorfer Tabelle zu orientieren (Bundessozialgericht, Urteil vom 29.08.2002 - B 11 AL 95/01 R). Die grundsätzliche Verpflichtung zum Unterhalt gegenüber eigenen minderjährigen Kindern ergibt sich aus § 1601 BGB, wonach Verwandte in gerader Linie verpflichtet sind, einander Unterhalt zu gewähren, und setzt nach § 1602 BGB Bedürftigkeit des Anspruchstellers (hier: des Kindes) sowie nach § 1603 Abs. 1 BGB Leistungsfähigkeit des in Anspruch genommenen (hier: des Sozialleistungsempfängers) voraus. Leistungsfähigkeit des Sozialleistungsempfängers ist gegeben, wenn er über Mittel verfügt, die über das hinausgehen, was er für eigenen Lebensbedarf benötigt (Seewald, aaO, Rn 11). Hinsichtlich der sich letztlich unter Berücksichtigung der Unterhaltsverpflichtung (und somit der Tatbestandsmerkmale Leistungsfähigkeit und Bedürftigkeit) ergebenden angemessenen Höhe der Abzweigung besteht nach Rechtsprechung und Literatur zugunsten des Leistungsträgers ein Beurteilungsspielraum, der nur begrenzt gerichtlicher Überprüfung zugänglich ist (Bundessozialgericht E 55, 245, 247; zuletzt Landessozialgericht Neubrandenburg, Urteil vom 10.12.2002 - L 2 AL 19/00 mwN; Seewald, aaO, Rn 14 ff) und sich auf den Selbstbehalt des Leistungsberechtigten und die Berechnungsweise des an den Unterhaltsberechtigten zu zahlenden Betrags erstreckt (Landessozialgericht Neubrandenburg, aaO).

Gerichtlich überprüfbar ist jedoch, ob der Leistungsträger diesen Spielraum hinsichtlich der Begrenzung und Auslegung des ihn eröffnenden Rechtsbegriffs eingehalten hat (Bundessozialgericht E 27, 286, 287; SozR 4100 § 36 Nr. 7). Prüfen kann und muss das Gericht daher, ob erstens der Entscheidung ein richtig und vollständig ermittelter Sachverhalt zugrunde lag, zweitens die durch Auslegung ermittelten Grenzen eingehalten worden und drittens die Subsumtionserwägungen in der Begründung verdeutlicht sind, so dass eine zutreffende Anwendung der Beurteilungsmaßstäbe erkennbar wird (Landessozialgericht Neubrandenburg, aaO). Ausgehend hiervon darf auch der Ermittlung des Einzelbedarfs grundsätzlich ein Pauschalierungsmaßstab zugrunde gelegt werden, wobei allerdings besondere Umstände des Einzelfalles wie insbesondere die Notwendigkeit zu diätischer Ernährung Berücksichtigung finden müssen (Seewald, aaO, Rn 11). Der Mindestselbstbehalt muss sich - auch unter Anerkennung eines Beurteilungsspielraums - an den Regelungen über die Hilfe zum Lebensunterhalt (§§ 11 ff des Bundessozialhilfegesetzes - BSHG) orientieren (Seewald, Rn 18).

Unter Anwendungen dieser Grundsätze ist die Entscheidung der Beklagten deswegen zu beanstanden, weil sie die Erkrankung des Klägers an mulitpler Sklerose und sich hieraus ergebende Umstände, die ein Abweichen vom Regelfall nahe legten, nicht hinreichend aufgeklärt berücksichtigt hat (dazu sogleich). Nicht zu beanstanden ist die Entscheidung hingegen, soweit sich der Kläger auf Unterhaltsverpflichtungen gegenüber seinen anderen Kindern beruft (dazu sodann).

Die Beklagte hat die Erkrankung des Kläger an multipler Sklerose und einen sich hieraus möglicherweise ergebenden Mehrbedarf zu Unrecht nicht berücksichtigt und nicht hinreichend aufgeklärt. Konsequenz aus der Anerkennung eines Beurteilungsspielraums ist, dass die Beklagte, deren Entscheidungen nur eingeschränkter gerichtlicher Überprüfung unterliegen, verpflichtet ist, den im Einzelfall maßgeblichen Sachverhalt vollständig zu ermitteln, alle maßgeblichen Umstände in ihre Abwägung einzustellen und die Abwägung für Außenstehende nachvollziehbar zu gestalten hat. Angesichts der nicht unerheblichen verfassungsrechtlichen Bedenken gegen die Anerkennung eines behördlichen Beurteilungsspielraums (vgl. etwa Bundesverfassungsgericht E 94, 307, 309 f) ist eine Entscheidung bereits dann rechtswidrig und aufzuheben, wenn der Leistungsträger nicht erkennen lässt, dass er allen maßgeblichen Kriterien Rechnung getragen hat. Gerade weil das Gericht eigene Erwägungen und das Ergebnis eigener Ermittlungen nicht an die Stelle der vom Leistungsträger vorzunehmenden Beurteilung setzen kann, rechtfertigen Fehler wie die genannten die Aufhebung des darauf gestützten Bescheides.

Im vorliegenden Fall hat die Beklagte unberücksichtigt gelassen, dass der Kläger seit mehreren Jahren an multipler Sklerose leidet und inzwischen auf die Benutzung eines Rollstuhls angewiesen ist. Obwohl die Beklagte diesen Umstand kannte - sie zahlt deswegen Rente wegen Erwerbsunfähigkeit - ist sie dem Einwand des Klägers, er sei durch seine Erkrankung zu erheblichen Mehraufwendungen gezwungen, nicht weiter nachgegangen, sondern hat den Widerspruchsbescheid auf den Wegfall der Unterhaltspflicht gegenüber den anderen Kindern sowie die Frage nach einem möglichen Anspruch des Klägers auf Sozialhilfe gestützt. Als Eigenbedarf hat sie mit 730 Euro den grund-sätzlichen einschlägigen Richtwert aus der Düsseldorfer Tabelle angenommen, ohne jedoch Nachforschungen zu einem etwaigen krankheitsbedingten Mehrbedarf des Klägers anzustellen. Hierzu verpflichtet war sie jedoch deswegen, weil das Recht der Hilfe zum Lebensunterhalt, welches (wie dargelegt) als Maßstab dient, entsprechenden Mehrbedarf insbesondere in § 23 Abs. 1 BSHG (Mehrbedarf wegen Gehbehinderung) und Abs. 4 BSHG (Krankenkost) kennt. Insbesondere ist multiple Sklerose jedenfalls nach der Tabelle des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge über Krankheiten und Regelwerte für den Mehrbedarf nach § 23 Abs. 4 BSHG, Stand: 31.12.1997 (abgedruckt etwa in: LPK-BSHG nach § 23), grundsätzlich geeignet, Mehrbedarf nach § 23 Abs. 4 BSHG zu begründen, wobei auch über die in dieser Tabelle vorgeschlagenen Werte hinaus die tatsächlichen Kosten der Diät zu decken sind (Hofmann, in: LPK-BSHG, § 23, Rn 29) und unter Umständen auch ein Anspruch auf nicht der Schulmedizin entsprechende Diätformen bestehen kann (vgl. Verwaltungsgericht Hamburg, info also 1989, 183; Hofmann, aaO). Anlass zu derartigen Ermittlungen hatte die Beklagte nicht nur deswegen, weil sie von der Erkrankung des Klägers wusste, sondern auch und insbesondere angesichts des (im Widerspruchsverfahren geäußerten) klägerischen Einwands, er habe erhebliche Mehraufwendungen aufgrund seiner Krankheit. Die Beklagte war von diesen Ermittlungen auch nicht etwa deswegen befreit, weil der Kläger eine Berechnung der Stadt K vorgelegt hat, in der ein Anspruch auf Sozialhilfe verneint wurde. Denn erstens war mit der Verneinung eines solchen Anspruchs nichts dazu gesagt, ob der Kläger aufgrund krankheitsbedingter Mehraufwendungen seiner Rente in voller Höhe bedarf, zweitens darf die Behörde derlei Auskünfte gerade in den Fällen eines behördlichen Beurteilungsspielraums nicht ungeprüft übernehmen.

An einer eigenen Ermittlung, ob Mehraufwendungen durch eine vom Kläger eingehaltene Diät sowie weitere krankheitsbedingte Ausgaben zu einer Erhöhung des Eigenbedarfs führen, sieht sich das Gericht indes durch den der Beklagten stehenden Beurteilungsspielraum gehindert. Wie bereits dargelegt, darf es seine eigenen Erwägungen nicht an die Stelle der wertenden Beurteilung durch die Beklagte setzen. Die Beklagte wird - so sie und die Beigeladene die Sache weiter verfolgen - Notwendigkeit und Umfang behinderungsbedingter Mehraufwendungen zu prüfen und hierbei den Gang und das Ergebnis ihrer Erwägungen für den Kläger transparent zu gestalten haben.

Zu Recht hat die Beklagte hingegen etwaige Unterhaltsansprüche des Klägers gegenüber seinen beiden älteren Kindern unberücksichtigt gelassen. Das Gericht braucht nicht zu erörtern, ob und inwieweit der Kläger auch den beiden älteren Kindern zu Unterhalt verpflichtet ist, denn nach den §§ 1609 Abs. 1 1.Alt., 1603 Abs. 2 Satz 1 BGB gehen unverheiratete minderjährige Kinder unterhaltsrechtlich allen anderen Kindern vor, wenn mehrere Bedürftige vorhanden sind und der Unterhaltspflichtige außerstande ist, allen davon Unterhalt zu gewähren. Die beiden älteren Kinder des Klägers sind im Jahr 1984 geboren und waren somit zum Zeitpunkt der behördlichen Entscheidung nicht mehr minderjährig (§ 2 BGB). Sie fallen auch nicht etwa gemäß § 1603 Abs. 2 Satz 2 BGB unter § 1609 Abs. 1 1.Alt BGB, weil sie sich beide nicht mehr in der allgemeinen Schulausbildung befinden, sondern in der Berufsausbildung. Die bürgerlichrechtliche Rangfolge der Unterhaltsansprüche findet auf § 48 SGB I deswegen Anwendung, weil dieser an das Bestehen eines Unterhaltsanspruchs nach Bürgerlichem Recht anknüpft.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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