S 11 AL 107/04

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Aachen (NRW)
Sachgebiet
Arbeitslosenversicherung
Abteilung
11
1. Instanz
SG Aachen (NRW)
Aktenzeichen
S 11 AL 107/04
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 12 AL 181/05
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Klage wird abgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten darum, ob die Klägerin die Anwartschaftszeit auf Arbeitslosengeld (Alg) erfüllt hat.

Die am 00.00.1969 geborene Klägerin arbeitete zuletzt bis April 1998 bei der BPL S.Vom 21.08.1998 bis 03.06.2001 befand sie sich in Erziehungsurlaub, anschließend bis zum 03.06.2004 in Sonderurlaub. Am 27.05.2004 meldete sie sich für die Zeit ab dem 04.06.2004 arbeitslos und beantragte entsprechend Alg. Die Beklagte lehnte den Antrag mit Bescheid vom 15.07.2004 mit der Begründung ab, die Klägerin habe innerhalb der - hier einschlägigen - dreijährigen Rahmenfrist (04.06.2001 bis 03.06.2004) nicht mindestens 12 Monate in einem Versicherungspflichtverhältnis gestanden.

Mit ihrem am 16.08.2004 erhobenen Widerspruch rügte die Klägerin die Berechnung der Rahmenfrist: Sie habe in den drei vergangenen Jahren ihre am 04.06.1998 geborene Tochter B gepflegt, bei der das Versorgungsamt Aachen einen Grad der Behinderung (GdB) von 100 sowie die Nachteilsausgleiche mit den Merkzeichen "G", "B" und "H" festgestellt habe. Dieser Bescheid entspreche dem einer Pflegekasse; finanzielle Leistungen wegen der Pflegebedürftigkeit ihrer Tocher erhalte sie - entsprechend dem Merkzeichen "H" (Hilflosigkeit) - in Form von Steuererleichterungen.

Die Beklagte wies den Widerspruch mit Bescheid vom 25.10.2004 zurück. Sie führte aus, eine Anwendung von § 124 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 Sozialgesetzbuch - Drittes Buch - Arbeitsförderung - (SGB III) in der bis zum 31.12.2003 geltenden Fassung (a.F.; hier einschlägig gemäß § 434 j Abs. 3 SGB III), scheitere am Fehlen eines Bescheides der Pflegekasse. § 124 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 SGB III in der bis zum 31.12.2002 geltenden Fassung (a.F.; einschlägig nach § 434 d Abs. 2 SGB III) führe ebenfalls nicht zur Erfüllung der Anwartschaftszeit, denn die Tochter der Klägerin habe das dritte Lebensjahr bereits am 04.06.2001 vollendet.

Hiergegen richtet sich die am 00.00.0000 erhobene Klage.

Die Klägerin führt aus, sie habe in der Vergangenheit keinen Antrag auf Leistungen aus der Pflegeversicherung gestellt, da eine finanzielle Unterstützung nicht nötig gewesen sei. Die Voraussetzungen mindestens der Pflegestufe I hätten jedoch im fraglichen Zeitraum durchgehend vorgelegen. Im Übrigen habe das BSG (Urteil vom 29.01.2001, B 7 AL 16/00 R) entschieden, dass der Bezug anderer Leistungen als der aus der Pflegeversicherung keine Zuordnung zu einer Pflegestufe voraussetze und dass es ausreiche, wenn die Pflegebedürftigkeit zur Zuordnung einer Pflegestufe habe führen können. Ein solcher Bezug einer gleichartigen Leistung i.S.d. § 124 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 SGB III a.F. liege hier in der Zuerkennung des Merkzeichens "H". Schließlich behauptet die Klägerin, ihr Ehemann habe sich am 30.05.2001 mit der Beklagten in Verbindung gesetzt und dort die Auskunft erhalten, auch das Merkzeichen "H" führe zur Anwendung von § 124 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 SGB III a.F. Der Name des Sachbearbeiters sei jedoch nicht mehr erinnerlich.

Die Klägerin beantragt,

die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 15.07.2004 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 25.10.2004 zu verurteilen, ihr Arbeitslosengeld ab dem 04.06.2004 zu zahlen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie bleibt bei ihrer bisherigen Auffassung.

Das Gericht hat die Akte des Versorgungsamts Aachen über die Tochter der Klägerin beigezogen. Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die gewechselten Schriftsätze sowie die übrige Gerichtsakte und die beigezogene Verwaltungsakte, deren wesentlicher Inhalt Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist, verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Klage ist unbegründet. Die Klägerin ist durch die angefochtene Entscheidung der Beklagten nicht im Sinne von § 54 Abs. 2 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) beschwert, da sie keinen Anspruch auf Alg hat.

Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Alg, denn sie hat binnen der hier einschlägigen dreijährigen Rahmenfrist nicht mindestens 12 Monate in einem Versicherungspflichtverhältnis gestanden und somit die Anwartschaftzeit nicht erfüllt (§§ 117 Abs. 1 Nr. 3, 123, 124 SGB III a.F.). Einschlägig für die Frage der Rahmenfrist ist § 124 SGB III in der bis zum 31.12.2003 geltenden Fassung (§ 434 j Abs. 3 SGB III).

Die Beklagte ist bei ihrer Entscheidung zutreffend von einer Rahmenfrist vom 04.06.2001 bis zum 03.06.2004 ausgegangen. § 124 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 SGB III a.F. ist nicht anwendbar. Nach dieser Vorschrift wurden solche Zeiten nicht in die Rahmenfrist eingerechnet, in denen der Arbeitslose als Pflegeperson einen der Pflegestufe I bis III im Sinne des Elften Buches zugeordneten Angehörigen, der Leistungen aus der sozialen oder einer privaten Pflegeversicherung nach dem Elften Buch oder Hilfe zur Pflege nach dem Bundessozialhilfegesetz oder gleichartige Leistungen nach anderen Vorschriften bezieht, wenigstens 14 Stunden wöchentlich pflegt.

Die Tochter der Klägerin hat weder Leistungen der sozialen oder einer privaten Pflegeversicherung noch Hilfe zur Pflege nach dem inzwischen aufgehobenen Bundessozialhilfegesetz (BSHG) bezogen.

Sie hat auch keine gleichartigen Leistungen i.S.d. § 124 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 SGB III a.F. bezogen. Gleichartige Leistungen wegen Pflegebedürftigkeit sind die in § 13 Abs. 1 und 3 Sozialgesetzbuch - Elftes Buch - Soziale Pflegeversicherung - (SGB XI) genannten Leistungen (Lauer, in: Praxiskommentar SGB III, 2. Aufl., 2004, § 124, Rn. 16), zu denen der Nachteilsausgleich "H" nicht gehört. Diese Auslegung steht auch nicht im Widerspruch zum Normzweck von § 124 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 SGB III a.F., denn auch die bezweckte Privilegierung der Pflegepersonen aufgrund ihrer Leistung für das Gemeinwesen (Lauer, a.a.O.) bedarf eines tatsächlichen Anknüpfungspunkts. Als solchen bestimmt § 124 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 SGB III a.F. - im Wege einer gesetzlichen Beweisregel - den Bezug von Leistungen, die erst nach eingehender Prüfung durch den Träger der Pflegeversicherung (bzw. die in § 13 Abs. 1 und 3 SGB XI angesprochenen Träger) gewährt werden.

Eine Ausweitung auf den von der Versorgungsverwaltung festgestellten Nachteilsausgleich "H" scheitert jedoch an den weitreichenden strukturellen Unterschieden zwischen dem Bezug von Leistungen nach dem SGB XI und einer schwerbehindertenrechtlicher Feststellung.

Bereits begrifflich ist die Feststellung eines schwerbehindertenrechtlichen Nachteilsausgleichs keine Sozialleistung (hierzu und zum Folgenden BSG, Urteil vom 06.12.1989, 9 RVs 4/89 = E 66, 120 ff), denn Sozialleistungen sind nach § 11 Sozialgesetzbuch - Allgemeiner Teil - (SGB I) Dienst-, Sach- oder Geldleistungen. Die in § 69 Abs. 4 Sozialgesetzbuch Neuntes Buch - Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen - (SGB IX) angesprochene Feststellung gesundheitlicher Merkmale stellt hingegen nicht den Endzweck des Leistungsbegehrens dar, sondern fungiert als Voraussetzung für die Inanspruchnahme von Vergünstigungen auf verschiedenen - auch "sozialrechtsfremden" - Rechtsgebieten (BSG, a.a.O. zur Vorgängervorschrift). Es kann daher dahinstehen, ob die Steuererleichterungen, auf die sich die Klägerin beruft, überhaupt als Leistungen aufgefasst werden können, Sozialleistungen sind sie jedenfalls nicht.

Hinzu kommt, dass der schwerbehindertenrechtliche Begriff der Hilflosigkeit nicht deckungsgleich mit den gesundheitlichen Voraussetzungen der in § 124 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 SGB III a.F. genannten Leistungen ist. Er ist gemäß Ziffer 21 Abs. 1 Satz 4 der hierzu einschlägigen "Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht (Teil 2 SGB IX)", herausgegeben 2004 vom Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung (Anhaltspunkte, AHP), gerade nicht mit dem pflegeversicherungsrechtlichen Begriff der Pflegebedürftigkeit (§ 14 SGB XI) identisch. Diese Wesensverschiedenheit wird insbesondere an Fällen wie dem vorliegenden deutlich, denn für die Feststellung von Hilflosigkeit bei Kindern und Jugendlichen gelten grundsätzlich erleicherte Voraussetzungen: Nach Ziffer 22 Abs. 1 und 3 AHP sind hier - anders als bei Erwachsenen - auch die Anleitung zu den nach Ziffer 21 Abs. 3 AHP erforderlichen Verrichtungen sowie (allgemein) die Förderung der körperlichen und geistigen Entwicklung zu berücksichtigen. Dies kann im Einzelfall dazu führen, dass schwerbehindertenrechtliche Hilflosigkeit auch dort anerkannt werden muss, wo die Voraussetzungen des § 14 SGB XI gerade nicht erfüllt sind.

Nichts Anderes ergibt sich aus der von der Klägerin angeführten Entscheidung des BSG, die sich in erster Linie mit der Anwendung des Ausnahmetatbestandes in § 124 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 SGB III a.F. auf einen Zeitraum vor Einführung der sozialen Pflegeversicherung befasst, in dem mithin eine Pflegestufe nicht festgestellt werden konnte. Ob aus dem Urteil des BSG zwingend der Schluss zu ziehen ist, dass bei Gewährung gleichartiger Leistungen (i.S.d. § 124 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 SGB III a.F. i.V.m. § 13 Abs. 1 und 3 SGB XI) die fehlende Feststellung einer Pflegestufe unschädlich ist, braucht das Gericht im vorliegenden Fall nicht zu entscheiden, denn sowohl die tatbestandlichen Voraussetzungen als auch die Rechtsfolgen des Nachteilsausgleichs "H" weichen - wie dargestellt - erheblich von denen der in § 13 Abs. 1 und 3 SGB XI aufgezählten Leistungen ab.

Die Klägerin kann Alg auch nicht aufgrund eines sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs verlangen. Dieser scheitert bereits daran, dass sich eine unzutreffende Beratung durch die Beklagte angesichts der nur unzureichenden Darlegungen nicht beweisen lässt.

Die mit Wirkung vom 01.01.2003 aufgehobene Vorschrift des § 124 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 SGB III a.F. ist im vorliegenden Fall nach § 434 d Abs. 2 SGB III weiter einschlägig. Sie führt jedoch nicht zu einem Anspruch auf Alg, da die Tochter der Klägerin das dritte Lebensjahr am 04.06.2001 vollendet hat.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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