S 11 AS 6/05

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Aachen (NRW)
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
11
1. Instanz
SG Aachen (NRW)
Aktenzeichen
S 11 AS 6/05
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 12 AS 2/05
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Klage wird abgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Der Kläger begehrt höhere eine höhere Regelleistung der Grundsicherung für Arbeitsuchende. Er rügt insbesondere die Höhe der darin enthaltenen Leistung für Ernährung.

Der am 00.00.1965 geborene Kläger ist alleinstehend und bezog zuletzt Arbeitslosenhilfe (Alhi). Auf seinen Antrag vom 16.08.2004 hin bewilligte die Beklagte ihm mit Bescheid vom 08.12.2004 ab dem 01.01.2005 Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende in Höhe vom monatlich 563,42 Euro (Regelleistung 345.-; Kosten für Unterkunft und Heizung 218,42 Euro). Seinen am 27.12.2004 erhobenen Widespruch begründete der Kläger damit, der in der Regelleistung enthaltene Anteil für Ernährungskosten sei zu niedrig, da er hinter den Werten zurückbleibe, die das Bundesamtes für Statistik in seiner Verbraucherpreisstatistik ermittelt habe. Dies verletze die Menschenwürde und Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit. Auch liege eine verfassungswidrige Ungleichbehandlung vor, da der Gesetzgeber von der für das gesamte Sozialrecht gültigen Sachbezugsverordnung abgewichen sei. Die Beklagte wies den Widerspruch mit Bescheid vom 12.01.2005 zurück.

Hiergegen richtet sich die am 00.00.0000 erhobene Klage.

Der Kläger führt aus, die Bundesforschungsanstalt für Ernährung habe bereits 1998 festgestellt, dass sich die Kosten für Ernährung bei einem alleinstehenden Mann monatlich auf umgerechnet 235,19 Euro belaufen hätten. Er hat eine Aufstellung über die ihm im Monat April 2005 tatsächlich entstandenen Ausgaben für Ernährung vorgelegt.

Der Kläger beantragt,

die Beklagte unter Abänderung des Bescheides vom 08.12.2004 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 12.01.2005 zu verurteilen, ihm Regelleistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende in Höhe von mindestens 393.- Euro zu zahlen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie sieht sich wegen Art. 20 Abs. 3 Grundgesetz (GG) an Recht und Gesetz gebunden.

Das Gericht hat eine Auskunft der Bundesforschungsanstalt für Ernährung und Lebensmittel, Standort Karlsruhe (P) eingeholt. Die Bundesforschungsanstalt hat Veröffentlichungen des Instituts für Ernährungsökonomie und -soziologie sowie des statistischen Bundesamts übersandt und mitgeteilt, eine neuere Untersuchung zu den notwendigen Kosten einer bedarfsgerechten Ernährung sei nicht bekannt.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die gewechselten Schriftsätze sowie die übrige Gerichtsakte und die beigezogene Verwaltungsakte, deren wesentlicher Inhalt Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist, verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Klage ist unbegründet.

Eine Beiladung des örtlich zuständigen kommunalen Trägers, § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Sozialgesetzbuch - Zweites Buch - Grundsicherung für Arbeitsuchende - (SGB II), konnte unterblieben, da der Kläger allein die Höhe der von der Beklagten nach § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB II zu erbringenden Leistungen rügt.

Der Kläger ist durch die angefochtene Entscheidung der Beklagten nicht im Sinne von § 54 Abs. 2 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) beschwert, da er keinen Anspruch auf höhere Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende hat.

Ein solcher Anspruch ergibt sich nicht aus den Vorschriften des SGB II. Dass die Beklagte die Vorschriften des SGB II (insbesondere die §§ 19, 20, 21 SGB II) unzutreffend angewandt hat, ist nicht ersichtlich und wird auch vom Kläger nicht gerügt.

Das Gericht braucht das Verfahren auch nicht auszusetzen und im Wege der konkreten Normenkontrolle (Art. 100 Abs. 1 Satz 1 GG) dem Bundesverfassungsgericht vorzulegen. Höhere (oder andersartige) Leistungen stehen dem Kläger auch unter Berücksichtigung seiner verfassungsrechtlichen Bedenken gegen das SGB II nicht zu, denn die gesetzlichen Vorschriften über die Höhe des Arbeitslosengeldes II (Alg II) und insbesondere die gesetzlich festgeschriebene Begrenzung der Regelleistung zur Sicherung des Lebensunterhalts für alleinstehende Hilfebedürftige auf 345.- Euro monatlich (§ 20 Abs. 2 SGB II) sind nicht verfassungswidrig (hierzu sogleich).

Die gesetzlich festgeschriebene Höhe der Regelleistung (§ 20 Abs. 2 SGB II) und die hiermit verbundene Einschränkung des Leistungsumfangs für ehemalige Bezieher von Alhi, den das Vierte Gesetz für Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt vom 24.12.2003 (BGBl. I, 2954, sog. "Hartz IV") vorgenommen hat, beinhalten keinen Eingriff in die Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1 GG).

Aus der staatlichen Verpflichtung zu Schutz und Achtung der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) in Verbindung mit dem Sozialstaatsgrundsatz (Art. 20 Abs. 1 GG) folgt ein Anspruch des Einzelnen auf Gewährleistung der (wirtschaftlichen) Mindestvoraussetzungen für ein menschenwürdiges Dasein (BVerfG, Beschluss vom 29.05.1990, 1 BvL 20/84 = E 82, 60, 80 = SozR 3-5870 § 10 Nr. 1), d.h. auf Gewährleistung einer Lage, in der die "persönlichkeitsessentiellen Außenweltgüter" beschafft werden können (Dürig, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 1 Abs. 1, Rn. 44; Hofmann, in: Schmidt-Bleibtreu/Klein, GG, 10. Aufl., 2004, Art. 1, Rn. 42). Einen Anspruch auf eine hierüber hinausgehende "angemessene" Versorgung des Einzelnen durch den Staat ergibt sich weder aus Art. 1 Abs. 1 GG noch aus einem anderen Grundrecht (Hofmann, a.a.O.). Daher obliegen alle sozialen Hilfen, die über die Gewährleistung der absolut unerlässlichen Mindestvoraussetzungen für ein menschenwürdiges Dasein hinausgehen, der Entscheidung des Gesetzgebers. Dem Gesetzgeber kommt hierbei ein weiter sozialpolitischer Gestaltungsspielraum zu (vgl. BVerfG a.a.O., ferner Beschluss vom 25.09.1992, 2 BvL 5/91 = E 87, 153, 170; Urteil vom 08.10.1985, 1 BvL 17/83 = E 70, 278, 288; Beschluss vom 13.01.1982, 1 BvR 848/77 = E 59, 231, 263; Beschluss vom 18.06. 1975, 1 BvL 4/74 = E 40, 121, 133; aus der Literatur Rothkegel, in: ders., Handbuch Sozialhilferecht - Existenzsicherung - Grundsicherung, 2005, Teil V, Kap. 4, Rn. 4 ff.); die Gerichte dürfen die Zielsetzungen und Wertungen des Gesetzgebers bereits aus Gründen der Gewaltenteilung (Art. 20 Abs. 3 GG) nicht durch eigene ersetzen. Aufgrund dieses Gestaltungsspielraums ist der Gesetzgeber gerade nicht an ein bestimmtes Konzept und ein bestimmtes System von Sozialleistungen gebunden (vgl. ausführlich SG Schleswig, Beschluss vom 08.03.2005, S 6 AS 70/05 ER), solange Hilfsbedürftige nur in der Lage sind, ihren allernotwendigsten Lebensunterhalt aus den erbrachten Leistungen zu decken.

Angesichts dieses gesetzgeberischen Gestaltungsspielraum greift auch der häufig geäußerte Einwand nicht durch, der Gesetzgeber habe sich bei der Festsetzung der Regelsätze nach § 20 Abs. 2 SGB II eines fehlerhaften Verfahrens bedient (so anstelle vieler Sartorius, info also 2005, 56, 57 f. m.w.N.; einschränkend Däubler, NZS 2005, 225, 227 ff.) und seine Entscheidung nicht hinreichend transparent gemacht (ausdrücklich für eine Darlegungslast des Gesetzgebers bei Neustrukturierungen im Sozialleistungsrecht: Lang, in: Eicher/Spellbrink, SGB II, 2005, § 20, Rn. 111): Ob ein Eingriff in die die Menschenwürde und ein Verstoß gegen den Sozialstaatsgrundsatz vorliegen, bemisst sich nicht danach, ob die dem Gesetzeserlass vorgelagerte politische Entscheidung konsistent und mit der erlassenen Vorschrift konsequent umgesetzt ist. Maßgeblich ist vielmehr allein, ob es zu einer Unterschreitung des von Artt. 1 Abs. 1, 20 Abs. 1 GG vorgegebenen Leistungsniveaus kommt. Nichts Anderes ergibt sich auch aus der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG) zum Gestaltungsspielraum bei Erlass der Regelsatzverordnungen nach § 22 Abs. 2 Satz 1 des aufgehobenen Bundessozialhilfegesetzes (BSHG): Nach altem Recht war die Vereinbarkeit einer Verordnung mit insbesondere der generalklauselartigen gesetzlichen Vorgabe in § 12 Abs. 1 BSHG zu beurteilen, die - anders als nun § 20 Abs. 2 SGB II - gerade keine bezifferte Vorgabe enthielt. Die Rechtsprechung des BVerwG, wonach die der Regelsatzfestsetzung zugrundeliegenden Wertungen im Rahmen der gesetzlichen Vorgaben vertretbar sein und die Regelsatzfestsetzung selbst auf ausreichenden Erfahrungswerten beruhen musste (vgl. etwa BVerwG, Urteil vom 18.12.1996, 5 C 47/95 = E 102, 366 ff. = ZFSH/SGB 1997, 609 ff), lässt sich auf die verfassungsrechtliche Würdigung von § 20 Abs. 2 SGB II nur insoweit übertragen, als das von Artt. 1 Abs. 1, 20 Abs. 1 GG vorgegebene Leistungsniveau nicht unterschritten werden darf.

§ 20 Abs. 2 SGB II unterschreitet das verfassungsrechtlich vorgegebene Mindestleistungsniveau nicht.

Die genaue Bestimmung der Mindestvoraussetzungen eines menschenwürdigen Daseins gestaltet sich schwierig und lässt sich nur unter Würdigung der Umstände des Einzelfalls beantworten (vgl. Lang, a.a.O., Rn. 113). Weitestgehend Einigkeit besteht in Rechtsprechung und Literatur jedenfalls darüber, dass sich die staatliche Gewährleistungspflicht nicht auf die bloße Sicherung der körperlichen Existenz ("das physiologisch Nortwendige") beschränkt (vgl. etwa BVerwG, Urteil vom 13.12.1990, 5 C 17/88 = E 87, 212, 214; Urteil vom 22.04.1970, V C 98.69 = E 35, 178, 180; aus der Literatur etwa Höfling, in: Sachs, GG, 2. Aufl., 1999, Art. 1, Rn. 25; Däubler, a.a.O., S. 226; Waltermann, Sozialrecht, 4. Aufl., 2004, Rn. 470) und auch die Gewährleistung eines "soziokulturellen Existenzminimums" (Rothkegel, a.a.O., Teil II, Kap. 3, Rn. 28) sowie einen Schutz vor öffentlicher Stigmatisierung und solzialer Ausgrenzung (BVerwG, Urteil vom 25.11.1993, 5 C 8/90 = E 94, 326, 333; Urteil vom 11.11.1970, V C 32.70 = E 36, 256, 258) beinhaltet. Bei der hierzu erforderlichen materiellen Ausstattung ist allerdings eine Beschränkung auf die niedrigste Ausstattungskategorie (und im Regelfall auf Gebrauchtware) zumutbar (BVerwG, Urteil vom 01.10.1998, 5 C 19/97 = E 107, 234, 239 m.w.N.; Däubler, a.a.O.).

Der Gesetzgeber hat in § 20 Abs. 2 SGB II beiden Komponenten des verfassungsrechtlich garantierten Leistungsniveaus Rechnung getragen; er hat insbesondere in § 20 Abs. 1 Satz 1 SGB II die Erstreckung der verfassungsrechtlichen Garantie auch auf die soziokulturelle Existenz berücksichtigt. Ergänzt wird § 20 Abs. 2 SGB II um eine Reihe von Handlungsinstrumenten, mit denen die Sozialverwaltung einer sozialen Stigmatisierung und Ausgrenzung der Hilfebedürftigen entgegen wirken kann. So sind zumindest manche der Fälle, in denen bereits unter Geltung des BSHG eine drohende soziale Ausgrenzung bei Leistungsverweigerung angenommen worden ist, im SGB II durch Leistungen außerhalb der Regelleistung abgedeckt: Dies gilt etwa für die Teilnahme an Klassenfahrten (§ 23 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 SGB II; vgl. BVerwG, Urteil vom 09.02.1995, 5 C 2/93 = E 97, 376, 378), für die Ausstattung mit Haushaltsgeräten (§ 23 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 a.E. SGB II, vgl. BVerwG, Urteil vom 01.10.1998, 5 C 19/97 = E 107, 234, 236) und nicht zuletzt für die Leistungen für Unterkunft und Heizung (§ 22 SGB II). Individuellen Bedürfnissen des Hilfebedürftigen trägt das Gesetz etwa in § 21 Abs. 5 SGB II Rechnung.

Auch wenn nach alledem Einzelfallkonstellationen theoretisch denkbar erscheinen, in denen einem Hilfebedürftigen auch unter Ausnutzung sämtlicher gesetzlicher Ansprüche kein menschenwürdiges Dasein mehr möglich ist, so ist im vorliegenden Fall doch weder dargetan noch ersichtlich, dass der Kläger seinen allernotwendigsten Lebensunterhalt nicht auch mit der Regelleistung decken kann. Er hat auch auf mehrfache Nachfrage nicht plausibel dargelegt, inwiefern er sich beispielsweise nicht mehr hinreichend mit Vitaminen, Eiweiß und anderen dringend erforderlichen (und somit im dargelegten Sinne persönlichkeitsessentiellen) Nährstoffen versorgen kann. Auch sein Verweis auf die Forschungsergebnisse der Bundesforschungsanstalt für Ernährung und Lebensmittel geht fehl, denn diese hat gerade nicht erforscht, welcher Mindestbetrag für eine hinreichende Ernährung zwingend erforderlich ist. Sie hat vielmehr die tatsächlich getätigten Ausgaben ermittelt, die über diesen Grundbedarf erheblich hinausgehen können. Die vom Kläger vorgelegte Aufstellung seiner tatsächlichen Ausgaben für Ernährung enthält unterschiedliche Posten, die keine Nahrungsmittel sind und lässt nicht erkennen, ob er tatsächlich zwingend auf die erworbenen Einzelprodukte angewiesen ist.

Das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit, Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, ist nicht verletzt, denn auch es beinhaltet keinen Anspruch auf eine bestimmte Versorgung durch den Staat, die über das allgemeine Maß öffentlicher Fürsorge hinaus geht (Hofmann, a.a.O., Art. 2, Rn. 16 m.w.N., vgl. auch die Darlegungen zur Menschenwürde). Im Übrigen trägt § 21 Abs. 5 SGB II diesem Grundrecht bereits hinreichend Rechnung.

Auch eine verfassungsrechtlich ungerechtfertigte Ungleichbehandlung und somit ein Verstoß gegen den allgemeinen Gleichheitsgrundsatz, Art. 3 Abs. 1 GG, liegt nicht vor. Der Kläger hat zunächst nicht näher begründet, worin ein Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG liegen soll. Entsprechende Anhaltspunkte ergeben sich nur aus seinem Vortrag, der Gesetzgeber sei von der (vom Kläger bisweilen unzutreffend als "Sozialbezugsverordnung" bezeichneten) Verordnung über den Wert der Sachbezüge in der Sozialversicherung (Sachbezugsverordnung, SachBezV) abgewichen. Der Verweis auf die Sachbezugsverordnung geht jedoch fehl, denn sie regelt nicht die Höhe von Sozialleistungen, sondern die Behandlung von Sachbezügen im Beitragsrecht. Sie hat keinerlei Auswirkungen auf das Sozialleistungsrecht und gilt entgegen der Auffassung des Klägers nicht etwa "für das gesamte Sozialrecht". Das Beitragsrecht darf (schon aus Gründen der Verwaltungsvereinfachung) der Wert zugrundezulegen, der für Ernährung durchschnittlich tatsächlich aufgewandt wird. Dies sagt indes nichts über den durchschnittlich notwendigen Bedarf für Ernährung aus, denn das Beitragsrecht hat gerade auch solche Ausgaben für Ernährung zu berücksichtigen, die nicht von § 20 Abs. 2 SGB II gedeckt wären.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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