S 6 KR 150/04

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Aachen (NRW)
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
6
1. Instanz
SG Aachen (NRW)
Aktenzeichen
S 6 KR 150/04
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Klage wird abgewiesen. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Mit der Klage vom 21.06.2004 gegen den Bescheid der Beklagten vom 01.10.2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 03.06.2004 fordert die Klägerin eine Kapselendoskopie (KE) mit sog. "PillCam" - eine in Pillenform von 26 x 11 mm integrierte Minifarbvideokamera - zur diagnostischen Abklärung einer familiären adenomatösen Polyposis (FAP) im Dünndarmbereich.

"PillCam" wird von der US-Firma Given Imaging Ltd. hergestellt, besitzt u.a. die Freigabe durch die US-FDA (Food and Drag Administration) und die europäische Zertifizierung als Medizinprodukt. Mit Beschluss vom 08.03.2005 hat der "Zentrale Konsultationsausschuss für Gebührenordnungsfragen" bei der Bundesärztekammer die Gebührenziffer GOÄ A 707 "Untersuchung des Dünndarms mittels Kapselendoskopie und Auswertung des Bildmaterials bei unklarer gastrointestinaler Blutung nach vorausgegangener Endoskopie des oberen und unteren Gastrointestinaltraktes" in die Gebührenordnung für Ärzte aufgenommen (Dt.ÄrzteBl. 102/8.04.2005, S.A-1006). "PillCam" soll vorzugsweise den ca. 4 m langen Bereich des ingesamt ca. 5,75 m langen Dünndarms optisch erfassen, der mit Push-Endoskopie (PE) - jeweils ca 60 – 120 cm antegrad und retrograd - nicht eingesehen werden kann. Die insoweit angewandte intraoperative Endoskopie erfordert stationären Krankenhausaufenthalt und ist mit hohen gesundheitlichen Risiken verbunden. "PillCam" wird vom Patienten geschluckt und über den Darmtrakt ausgeschieden.

Die 1977 geborene Klägerin leidet an FAP, einer genetisch bedingten Erkrankung mit Polypenbildung im gesamten Magen-Darm-Trakt. Im September 2000 sind über 50 Polypen abgetragen worden, im März 2002 zwei Sigmapolypen. Es erfolgen regelmäßige Kontroll-Gastro- und -Koloskopien; seit Oktober 2001 ist eine medikamentöse Behandlung mit dem Arzneimittel "Sulindac" durchgeführt worden. Die Klägerin steht in psychiatrischer Behandlung wegen angstbetonter Verhaltensstörung. Seit dem 25.08.2003 arbeitet sie in einer Werkstatt für Menschen mit psychischer Erkrankung - Q GmbH -.

Im Entlassungsbericht vom 17.09.2003 über eine stationäre Behandlung vom 03. bis zum 06.09.2003 mit Gastro- und Koloskopie empfehlen S und I, Klinik für Innere Medizin I der Kliniken N in O, eine KE, die nach Genehmigung durch die Krankenkasse bei ihnen ambulant durchgeführt werden könne.

Mit Bescheinigung vom 04.09.2003 beantragte I die Kostenübernahme für eine KE - ca. EUR 900,- -, um diese "wie schon in den Vorjahren" durchzuführen. Gestützt auf die Stellungnahmen des MDK (Medizinischer Dienst der Krankenversicherung)-Arztes K vom 29.09.2003 und 01.10.2003 lehnte die Beklagte eine Kostenübernahme ab, weil die KE als alternative Untersuchungsmethode wegen mangelnden Nachweises ihrer Wirksamkeit von den Krankenkassen nicht erbracht werden dürfe; als anerkannte Untersuchungsmethode werde eine antegrade oder retrograde Kontrastmitteluntersuchung empfohlen. Die Medizinische Klinik I der Kliniken N führte daraufhin im Rahmen einer stationären Krankenhausbehandlung vom 25.05. bis zum 02.06.2004 eine Dünndarm-Kontrastmitteluntersuchung nach Sellinck durch, die keine größeren polypösen Veränderungen ergab. Den Widerspruch der Klägerin gegen die Ablehnung der KE unterstützte I mit Bescheinigung vom 20.10.2003, in der er auf die enorm hohe Strahlenbelastung der Methode nach Sellinck und deren Mängel bei der Erfassung kleinerer Schleimhautläsionen hinwies; ab dem 01.01.2004 sei telemetrische KE im DRG-System (Diagnosis Releated Groups) mit einer eigenen OPS-Nr verankert. Die Klägerin legte darüber hinaus eine Bescheinigung des Arztes G vom 23.03.2004 vor, wonach eine KE wegen der bestehenden psychiatrischen Störungsbilder mit posttraumatischer Belastungsstörung eindeutig vorzuziehen sei; eine klassische Endoskopie könne nur unter psychischer Begleitung und Vollnarkose durchgeführt werden.

Die Beklagte holte das MDK-Gutachten des U vom 22.01.2004 ein, der sich auf die Aufnahme der KE als negativ bewertete Methode in die MDK/MDS-Liste zu Neuem Untersuchungs- und Behandlungsmethoden bezog; die KE befinde sich im Stadium der klinischen Erprobung; ihre Überlegenheit hinsichtlich eines langfristigen Vorteils gegenüber der üblichen Sellinck-Röntgenuntersuchung sei nicht nachgewiesen.

Mit Widerspruchsbescheid vom 03.06.2004 bestätigte die Beklagte ihren zuvor erteilten Ablehnungsbescheid.

Mit der hiergegen gerichteten Klage verweist die Klägerin auf die Bescheinigungen des I und des Arztes G. Sie nennt als Vorzüge der KE - endoskopische Untersuchung des gesamten Dünndarms, - Erkennen kleinerer Schleimhautläsionen mit der Möglichkeit einer adäquaten Karzinomprävention, - erhebliche Verminderung der Strahlenbelastung für die Klägerin, - frühzeitige Abwendung einer Operation oder einer Chemotherapie, - ambulante Durchführbarkeit mit Vermeidung eines psychisch als stark belastend empfundenen Krankenhausaufenthaltes sowie - Vermeidung einer Retraumatisierung bei bestehender posttraumatischer Belastungsstörung.

Die Klägerin beantragt,

die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 01.10.2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 03.06.2004 zu verurteilen, ihr eine Kapselendoskopie zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie bezieht sich auf den Inhalt der von ihr erteilten Bescheide. Sie legt das sog. G 2-Gutachten des MDS(Medizinischer Dienst der Spitzenverbände) vom 25.11.2002 "Grundsatzgutachten zur Kapselendoskopie" in der am 29.10.2004 aktualisierten Fassung vor.

Es ist Beweis erhoben worden durch Beiziehung der lögd (Landesinstitut für den öffentlichen Gesundheitsdienst)-Recherche vom 05.07.2004 und der Auskünfte des Gemeinsamen Bundesausschusses vom 25.08.2004 und des Bewertungsausschusses bei der Kassenärztlichen Bundesvereinigung vom 05.10.2004. Wegen des Beweisergebnisses wird auf den Inhalt der schriftlichen Unterlagen verwiesen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der Verwaltungsakte Bezug genommen. Die Akten haben bei der Entscheidung vorgelegen und sind - soweit von Bedeutung - Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Klage ist nicht begründet.

Streitbefangen ist entsprechend dem Kostenübernahmeantrag des I vom 04.09.2003 und dessen Therapieempfehlung im Krankenhaus-Entlassungsbericht vom 17.09.2003 ein Anspruch der Klägerin auf eine ambulante KE im Rahmen vertragsärztlicher Behandlung.

Insoweit ist der angefochtene Bescheid der Beklagten nicht rechtswidrig. Die Klägerin hat wegen des entgegenstehenden Leistungsverbots mit Erlaubnisvorbehalt des § 135 Abs. 1 S. 1 des Sozialgesetzbuches - 5. Buch/Gesetzliche Krankenversicherung - SGB V - keinen Anspruch auf KE als ärztliche Behandlung im Sinne der §§ 11 Abs. 1 Nr. 4, 27 Abs. 1 S. 1 u. 2 Nr. 4, 28 Abs. 1 SGB V iVm Ziff. 1 bzw. § 1 der Richtlinien des Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen über die Bewertung ärztlicher Untersuchung- und Behandlungsmethoden gemäß § 135 Abs. 1 SGB V (BUB-RL) - in der bis zum 31.12.2003 bzw. der ab dem 01.01.2004 gültigen Fassung -, denn der hierzu gesetzlich berufene Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen (BAdÄKK)/Gemeinsamer Bundesausschuss (G-BA) hat bislang keine Empfehlung über die Anerkennung des therapeutischen Nutzens der KE bei FAP abgegeben; die KE gehört nicht zu dem - abgeschlossenen (vgl. BSG Urt. v. 09.12.97 - 1 RK 11/97 -) - Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV).

Nach § 135 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGB V dürfen neue Untersuchungs- und Behandlungsmethoden in der vertragsärztlichen Versorgung zu Lasten der Krankenkassen nur erbracht werden, wenn die Bundesausschüsse der Ärzte und Krankenkassen auf Antrag einer Kassenärztlichen Bundesvereinigung, einer Kassenärztlichen Vereinigung oder eines Spitzenverbandes der Krankenkassen in Richtlinien nach § 92 Abs. 1 S. 2 Nr. 5 SGB V den diagnostischen und therapeutischen Nutzen der neuen Methode sowie deren medizinischer Notwendigkeit und Wirtschaftlichkeit nach dem jeweiligen Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse in der jeweiligen Therapierichtung anerkannt haben. Nach Ziff. 2.1 bzw. § 2 BUB-RL gelten als "neue" Untersuchungs- und Behandlungsmethoden Leistungen, die - noch nicht als abrechnungsfähige ärztliche Leistungen im Einheitlichen Bewertungsmaßstab (EBM) enthalten sind oder die - als ärztliche Leistungen im EBM aufgeführt sind, deren Indikation aber wesentliche Änderungen oder Erweiterungen erfahren. Da die KE bislang nach EBM nicht zu Lasten der GKV erbracht und abgerechnet werden kann, ist sie "neu" und bedarf der Anerkennung durch den BAdÄKK/G-BA; die KE ist den EBM-Nrn. 156, 760 u. 764 nicht unterzuordnen (Auskunft des Bewertungsausschusses vom 05.10.2004). BAdÄKK und auch der Nachfolger G-BA haben sich bislang mit der KE nicht befasst; ein Antrag zur Überprüfung dieser Methode auf Nutzen, medizinische Wirksamkeit und Wirtschaftlichkeit für die ambulante vertragsärztliche Versorgung liegt nicht vor; dem G-BA sind auch keine wissenschaftlich nachvollziehbaren klinischen Studien zugeleitet worden, die nahelegen, dass die Methode nach dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse als wirksam angesehen werden kann (Auskunft des G-BA vom 25.08.2004). Die Aufnahme der KE in die GOÄ aufgrund des Beschlusses des Zentralen Konsultationsausschusses für Gebührenordnungsfragen kann einer Empfehlung des BAdÄKK/G-BA nicht gleichgestellt werden, denn die Qualitäts- und Wirtschaftlichkeitsanforderungen der GOÄ und die des EBM unterscheiden sich deutlich. Zudem betrifft die neue GOÄ-Ziff. A 707 nur den Einsatz der KE bei unklaren gastrointestinalen Blutungen, nicht aber bei FAP.

Das Leistungsverbot des § 135 Abs. 1 SGB V entfällt auch nicht wegen eines sog. Systemversagens, das anzunehmen ist, wenn der BAdÄKK/G-BA die von ihm selbst aufgestellten Evidenzkriterien nicht beachtet oder nicht gesetzeskonform anwendet oder die fehlende Anerkennung auf der Nichtausübung des Antragsrechts nach § 135 Abs. 1 SGB V durch einen der Antragsberechtigten trotz erkennbarer Versorgungslücke beruht (BSG Urt. v. 19.10.2004 - B 1 KR 27/02 R - u.v. 16.09.97 - 1 RK 17/95 u. 28/95); es ist gleichgültig, ob die Blockade der Entscheidung des G-BA von diesem selbst oder von den antragsberechtigten Verbänden ausgeht (BSG Urt. v. 16.09.97, a.a.O., u.v. 19.02.02 - B 1 KR 16/00 R - u. Beschl. v. 28.01.99 - B 10 KR 1/98 B -; Plute u.a., WzS 6/98, 161 ff., 164, Anm. 20).

Es bestand und besteht zur Zeit kein Anlass für einen Antrag auf Anerkennung der KE bei FAP, weil die bislang bekannten medizinischen Erkenntnisse nicht ausreichend evident sind, um einen Anerkennungsantrag begründen zu können - §§ 4 Abs. 1 a), 8 BUB-RL - oder aber den G-BA zu einer Überprüfung zu veranlassen - §§ 4 Abs. 1 b), 8 BUB-RL -; es fehlt der nach § 8 Abs. 2 Nr. 1 b BUB-RL erforderliche Nachweis der therapeutischen Konsequenzen einer diagnostischen Methode. Das G 2-MDS Grundsatzgutachten - Stand Oktober 2004 - hat in seiner Metaanalyse der verfügbaren medizinischen Studien keine verwertbaren Erkenntnisse über die KE bei FAP erbracht und dementsprechend nur eine KE bei noch weiterer Erforschung für obskure Blutungen mit vermutlicher Lokalisation im Dünndarm und für Morbus Crohn mit Verdacht auf Dünndarmbeteiligung in Erwägung gezogen. Dies entspricht auch der Beurteilung des "PillCam"-Herstellers, der Firma Given Imaging, die "PillCam" für diese beiden Indikationen propagiert hat. Auch das AWMF (Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften)-Leitlinien-Register (http://www.uni-duesseldorf.de) weist nur KE-Empfehlungen in der Leitlinie Gastroenterologie für Colitis ulcerosa und Morbus Crohn aus. Im Update des Positionspapiers der Sektion Endoskopie der DGVS (Deutsche Gesellschaft für Verdauungs- und Stoffwechselerkrankungen) - Rösch/Ell "Derzeitige Bewertung der Kapsel-Endoskopie in der Diagnostik von Dünndarmerkrankungen" (Endo heute 2004 (17), 11-23) heißt es, dass die KE bei der Diagnostik des Morbus Crohn, der indeterminierten Colitis und bei Polypse-Syndromen hilfreich sein kann (S. 11); der KE-Einsatz bei Polypose-Syndromen präoperativ und im Follow-Up mache prinzipiell Sinn und sei ebenfalls in prospektiven Studien zu prüfen (S. 19). Noch zu erforschende Untersuchungs- und Behandlungsmethoden können nicht dem Stand der anerkannten medizinischen Kenntnisse im Sinne der §§ 2 Abs. 1 S. 3, 135 Abs. 1 SGB V entsprechen. Ob, unter welchen Voraussetzungen mit welchem Erfolg in wievielen Fällen KE bei FAP zu therapeutischen Entscheidungen geführt und damit die ärztliche Behandlung beeinflusst hat und dies bei vorausschauender Betrachtung generell in einer Vielzahl von Behandlungsfällen tun wird, ist bislang nicht hinreichend erforscht.

Die Entscheidung über die Kosten der nach alledem unbegründeten Klage folgt aus §§ 183, 193 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -.

Die Zulässigkeit der Berufung ergibt sich aus §§ 143, 144 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGG, denn der Wert des Beschwerdegegenstands übersteigt 500,- EUR.
Rechtskraft
Aus
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