S 20 SO 72/05 ER

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Aachen (NRW)
Sachgebiet
Sozialhilfe
Abteilung
20
1. Instanz
SG Aachen (NRW)
Aktenzeichen
S 20 SO 72/05 ER
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, darlehensweise Stromkostenschulden des Antragsstellers gegenüber der Firma FXW GmbH in Höhe von 874,81 Euro zu übernehmen und diesen Betrag unmittelbar an das Energieversorgungsunternehmen auszuzahlen. Die Kosten des Antragstellers trägt der Antragsgegner.

Gründe:

I.

Der Antragsteller begehrt die darlehensweise Übernahme von Stromkostenschulden durch den Antragsgegner im Wege einer einstweiligen Anordnung.

Der 1950 geborene Antragsteller ist erwerbsfähiger Arbeitsloser/Arbeitssuchender. Er erhält monatlich Arbeitslosengeld in Höhe von 581,70 Euro und ergänzendes Arbeitslosengeld II in Höhe von 143,30 Euro, insgesamt 725,00 Euro. Bis Juli 2004 wohnte er in der Qstraße 00 in B. Aus dem diese Wohnung betreffenden Stromlieferungsverhältnis mit der Firma FXW GmbH (T) hatte er monatliche Abschläge von 100,00 Euro zu leisten. Es bestehen noch Zahlungsrückstände in Höhe von 874,81 Euro einschließlich Mahnkosten. Seit Juli 2004 wohnt der Antragsteller in der Tstraße 00 in B. Die monatliche Warmmiete beträgt 350,00 Euro. Für den Strom zu dieser Wohnung sind ab 01.Juli 2005 monatliche Abschläge von 40,00 Euro an die Firma FXW GmbH zu zahlen. Als der Antragsteller mit mehreren Monatsmieten in Rückstand geriet, übernahm der Antragsgegner zur Behebung der akuten Notlage (drohende Wohnungslosigkeit) darlehensweise rückständige Miete in Höhe von 1.050,00 Euro (Bescheid vom 30.05.2005). Zur Tilgung dieses Darlehens zahlt der Antragsteller monatlich 30,00 Euro an den Antragsgegner.

Als der Antragsteller auf mehrere Mahnungen der Firma FXW GmbH, zuletzt am 12.05.2005 verbunden mit der Androhung einer Versorgungseinstellung, die Stromschulden aus der Wohnung "Qstraße 00" nicht beglich, sperrte die Firma FXW am 14.06.2005 die Stromzufuhr zur Wohnung des Antragstellers in der Tstraße 00.

Am 29.06.2005 beantragte der Antragsteller bei dem Antragsgegner die Übernahme der Stromschulden. Dieser lehnte den Antrag durch Bescheid vom 30.06.2005 ab unter Hinweis auf den Vorrang der Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) gegenüber denjenigen nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII). Daraufhin beantragte der Antragsteller am 30.06.2005 bei der Agentur für Aachen die Übernahme der Stromschulden. Die Arbeitsagentur lehnte den Antrag ab mit der Begründung, für die Erstattung der ausstehenden Stromkosten sei das Sozialamt zuständig.

Am 06.07.2005 hat der Antragsteller um vorläufigen Rechtsschutz nachgesucht mit dem Ziel der darlehensweisen Übernahme der Stromkostenrückstände durch den Antragsgegner. Auf telefonische Nachfrage des Gerichts hat die Firma FXW GmbH erklärt, Strom werde erst wieder geliefert, wenn die gesamten Stromschulden aus der Wohnung "Qstraße 00" beglichen seien; einer Ratenzahlung werde nicht zugestimmt.

Der Antragsteller trägt vor, er könne mangels Strom nicht kochen und habe seit längerer Zeit keine warme Mahlzeit mehr zu sich genommen; nachts helfe er sich mit Kerzen, da er kein Licht habe. Der Vermieter sei nicht bereit, diesen Zustand länger hinzunehmen. Es bestehe die Gefahr eines Wohnungs- bzw. Hausbrandes. Er benötige den Strom dringend zum Kochen auf seinem 2-Platten-Herd, für den Kühlschrank zum Kühlen von Lebensmiteln, für das Licht und für die Waschmaschine zum Waschen seiner Wäsche.

Der Antragsteller beantragt,

den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnungen zu verpflichten, die bei der Firma FXW GmbH bestehenden Stromkostenrückstände in Höhe von 874,81 Euro darlehensweise zu übernehmen und diesen Betrag unmittelbar an die Firma FXW GmbH auszuzahlen.

Der Antragsgegner beantragt,

den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abzulehnen.

Er ist – in Übereinstimmung mit dem Kreis Aachen – der Auffassung, dass die Ansprüche von Arbeitslosengeld II-Beziehern abschließend im SGB II geregelt sind. Er verweist auf ein Schreiben des Kreis Aachen an die kreisangehörigen Städte und Gemeinden vom 21.04.2005, in dem folgende "klarstellende HinwEr iseise" gegeben werden:

1.) Für den Personenkreis der SGB II-Leistungsberechtigten sind nach meiner Auffassung alle zustehenden Ansprüche (bezogen auf den Lebensunterhalt im SGB II abschließend geregelt

2.) Sofern für einzelne Bedarfsslagen im SGB II keine ausdrückliche Anspruchsgrundlage vorhanden ist, muss ich davon ausgehen, dass der Gesetzgeber dies so beabsichtigt hat.

3.) Daher besteht für Leistungsberechtigte nach SGB II dem Grunde nach kein Anspruch auf Übernahme rückständiger Stromkosten nach SGB XII. Dies gilt auch dann, wenn die BA hierzu (allerdings auch erst in der letzten Woche und nicht mit Inkrafttreten des Gesetzes!!!) ihre Hinweise zwischenzeitlich geändert hat. Die BA mag die Auffassung vertreten, dass kein Anspruch nach SGB II besteht. Daraus ergibt sich aber nicht zwangsläufig das Bestehen eines Anspruchs nach SGB XII.

4.) Anträge von SGB II-Berechtigten auf Übernahme von Stromkostenrückständen nach SGB XII sind daher grundsätzlich unter Hinweis auf den Vorrang des SGB II abzulehnen. Sofern Kommunen im einstweiligen Anordnungsverfahren verpflichtet werden, die Kosten zu übernehmen, bitte ich um entsprechende Information, um das weitere Vorgehen abzustimmen.

Der Antragsteller meint, ein Anspruch des Antragstellers auf Übernahme vom Stromkostenrückständen ergebe sich aus § 23 Abs. 1 SGB II. Könne im Einzelfall ein von den Regeleistungen umfasster und nach den Umständen unabweisbarer Bedarf zur Sicherung des Lebensunterhaltes weder durch das Vermögen noch auf andere Weise gedeckt werden, erbringe die Agentur für Arbeit bei entsprechendem Nachweis den Bedarf (hier: Stromrückstand) als Sachleistung oder als Geldleistung und gewähre dem Hilfebedürftigen ein entsprechendes Darlehen. Eine Übernahme des Stromkostenrückstands aus Mitteln des SGB XII sei nicht möglich.

Der Antragsteller hat am 14.07.2005 eine vom Gericht vorgefertigte Erklärung unterzeichnet, in der er sich damit einverstanden erklärt, dass der monatliche Energiekostenabschlag von 40,00 Euro von seinem laufenden Arbeitslosengeld bzw. Arbeitslosengeld II unmittelbar von der Agentur für Arbeit abgezweigt wird und für den Fall einer darlehensweisen Übernahme der Energiekostenrückstände durch den Antragsgegner dieser Betrag unmittelbar an die Firma FXW GmbH gezahlt wird und zum Zweck der Rückzahlung des Darlehens monatlich 30,00 Euro von der Agentur für Arbeit und/oder der ARGE im Kreis Aachen unmittelbar an den Antragsgegner gezahlt werden.

II.

Der Antrag ist zulässig und begründet.

Nach § 86b Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht einstweilige Anordnungen zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Der Ast. muss glaubhaft machen (§ 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung - ZPO), dass ihm ein Anspruch auf die geltend gemachte Leistung zusteht (Anordnungsanspruch) und dass das Abwarten einer gerichtlichen Entscheidung in einem Hauptsacheverfahren für ihn mit unzumutbaren Nachteilen verbunden wäre (Anordnungsgrund). Einstweilige Anordnungen kommen grundsätzlich nur in Betracht, wenn die Beseitigung einer gegenwärtigen Notlage dringend geboten ist.

Der Anordnungsanspruch ergibt sich aus § 34 Abs. 1 Zwölftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII). Zwar gehört der Antragsteller zum Kreis der Personen, die nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) als Erwerbsfähige dem Grunde nach leistungsberechtigt sind und deshalb grundsätzlich keine Leistungen für den Lebensunterhalt nach dem SGB XII erhalten. Von diesem in § 21 Satz 1 SGB XII und § 5 Abs. 2 Satz 1 SGB II nomierten Grundsatz des Vorrangs der SGB II-Leistungen gegenüber den SGB XII-Leistungen sind jedoch ausdrücklich Leistungen nach § 34 SGB XII ausgenommen.

Die hiervon abweichende Auffassung des Antragsgegners (und des Kreis Aachen) ist angesichts des eindeutigen Wortlauts in §§ 21 SGB XII, 5 Abs. 2 SGB II nicht nachvollziehbar. Die Hinweise des Kreises Aachen vom 21.04.2005 an die kreisangehörigen Städte und Gemeinden lassen diesbezüglich ein eigenartiges Verhältnis zur Anwendung und Umsetzung gesetzlicher Vorschriften erkennen. Gerade die Formulierung des Regel-Ausnahme-Verhältnisses der Leistungen in §§ 21 SGB XII, 5 Abs. 2 SGB II macht deutlich, dass der Gesetzgeber auch für Leistungsberechtigte nach dem SGB II die Übernahme von Schulden gem. § 34 SGB XII zu Lasten der Sozialhilfeträger vorgesehen hat. Dass diesen Vorschriften ein gesetzgeberischer Wille und nicht nur ein bloßes Versehen zu Grunde liegt, verdeutlicht auch die Vorschrift des § 22 Abs. 5 SGB II; danach ist die Übernahme von Schulden zu Lasten der Träger der Grundsicherung für Arbeitssuchende ausdrücklich auf Mietschulden beschränkt unter der – im Vergleich zu § 34 SGB XII zusätzlichen – Bedingung, dass ohne Schuldenübernahme die Aufnahme einer konkret in Aussicht stehenden Beschäftigung verhindert würde. Liegt ein Fall des § 22 Abs. 5 SGB II – wie hier – nicht vor, kommt als Anordnungsanspruch § 34 SGB XII auch für SGB II-Leistungsberechtigte wie den Antragsteller in Betracht.

Nach § 34 Abs. 1 Satz 1 SGB XII können Schulden übernommen werden, wenn dies zur Sicherung der Unterkunft oder zur Behebung einer vergleichbaren Notlage gerechtfertigt ist. Eine derartige Notlage ist anzunehmen, wenn die Lebensführung des Leistungsberechtigten in so empfindlicher Weise beeinträchtigt ist, dass der "Interventionspunkt der Sozialhilfe" erreicht wird (OVG Münster FEVS 51,89). Eine solche Notlage ist bei dem Antragsteller zu bejahen. Ihm ist seit 14.06.2005, also seit 1 Monat, die Stromzufuhr zu seiner Wohnung gesperrt. Die Versorgung mit Energie gehört nach den Lebensverhältnissen in der Bundesrepublik Deutschland zum sozialhilferechtlich anerkannten Mindeststandard (OVG Münster FEVS 35,24; Grube/Wahrendorf, SGB XII-Kommentar 2005, § 34 Rn. 6 m.w.N). Allerdings haben die Energieversorgungsunternehmen nach § 33 Abs. 2 der Verordnung über allgemeine Bedingungen für die Elektritizätsversorgung von Tarifkunden (AVBEltV) das Recht, insbesondere bei Nichterfüllung einer Zahlungsverpflichtung trotz Mahnung die Versorgung 2 Wochen nach Androhung einzustellen. Dies ist auch in der Rechtssprechung anerkannt (vgl. ausführlich: BGH, Urteil vom 03.07.1991 – VII ZR 190/90 = BGHZ 115, 99 = NJW 1991, 2645 = MDR 1991, 841 m.w.N.). Die Firma FXW GmbH hat die Zahlung der Stromschulden ab 14.02.2005 angemahnt. Mit weiterer Mahnung vom 12.05.2005 hat sie dem Antragsteller eine letzte Frist zur Begleichung der Schuld eingeräumt und für den Fall der Nichtzahlung eine Stromsperre angedroht. Da der Antragsteller auch dieser Zahlungsaufforderung nicht nachkam, hat sie zu Recht nach § 33 Abs. 2 Satz 1 AVBltV die Stromversorgung zur Wohnung des Antragstellers eingestellt.

Der Antragsteller ist durch die Sperrung der Stromzufuhr in seiner Lebensführung empfindlich beeinträchtigt. Er kann nicht kochen, er hat kein Licht, kann keine Lebensmittel kühlen und seine Wäsche nicht waschen. Es ist weder vom Antragsteller noch vom Antragsgegner vorgetragen, wie diese Notlage anders als durch die Wiederöffnung der Stromzufuhr zur Wohnung des Antragstellers behoben werden kann.

Die Übernahme der Energiekostenschulden durch den Antragsgegner ist auch gerechtfertigt, da nur auf diese Weise die Stromzufuhr zur Wohnung des Antragstellers wieder geöffnet werden kann. Denn die Firma FXW GmbH hat auf ausdrückliches Befragen des Gerichts erklärt, dass erst wieder Strom geliefert werden, wenn die gesamten Rückstände beglichen seien; einer Ratenzahlung werde nicht zugestimmt.

Der Anordnungsgrund für den Erlass der einstweiligen Anordnung besteht darin, dass der Antragsteller seit nunmehr einem Monat ohne Strom ist. Die von ihm geschilderte Lebenssituation beinhaltet eine zugespitzte existenzielle Notlage, die den Erlass der beantragten einstweiligen Anordnung rechtfertigt.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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