S 24 SB 335/17

Land
Sachsen-Anhalt
Sozialgericht
SG Halle (Saale) (SAN)
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
24
1. Instanz
SG Halle (Saale) (SAN)
Aktenzeichen
S 24 SB 335/17
Datum
2. Instanz
LSG Sachsen-Anhalt
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Der Bescheid des ursprünglichen Beklagten vom 30.08.2017 und der Widerspruchs-bescheid vom 05.12.2017 werden aufgehoben und der Beklagte verpflichtet, beim Kläger ab dem 31.03.2017 einen Grad der Behinderung von 20 festzustellen.

Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

Der Beklagte trägt 1/4 der außergerichtlichen Kosten des Klägers.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über die Höhe des beim Kläger festzustellenden Grades der Be-hinderung. Der Kläger hatte am 30.3.2017, eingegangen beim Beklagten am 31.3.2017, einen Antrag auf Feststellung von Behinderungen nach dem Neunten Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) gestellt. Zur Begründung verwies der Kläger auf ein in einem Entschädigungsverfahren eingeholtes Gutachten, welches ihm seiner Auffassung nach eine psychomentale Minderbelastbarkeit wegen einer paranoiden Persönlichkeitsstörung mit zwanghaften narzisstischen und emotional instabilen Anteilen bescheinigen würde. Ferner verwies der Kläger auf orthopädische Beeinträchtigungen sowie schwerwiegende Zahnschäden. Der Beklagte stellte zunächst intern fest, dass keiner der genannten Beeinträchtigungen, zu denen ärztliche Befundberichte eingeholt worden waren, einen GdB bedingen würde. Unter dem Datum des 30.8.2017 erging sodann der hier gegen-ständliche Ablehnungsbescheid. Auf den hiergegen eingelegten Widerspruch vom 1.9.2017 forderte der Beklagte das Gutachten des Dr ... vom 30.7.2015 an und wertete dies aus. Nach der internen Einschätzung des ursprünglichen Beklagten ergab sich aus dem Gutachten eine Persönlichkeitsstörung, die allenfalls mit einem GdB von 10 zu bewerten wäre. Mit Widerspruchsbescheid vom 5.12.2017 wies der Beklagte sodann den Widerspruch zurück, da die Feststellung einer Behinderung erst ab einem Grad der Behinderung von 20 erfolge und keine der genannten Störungen einen entsprechenden GdB bedingen würde. Mit der am 6.12.2017 erhobenen und am 7.12.2017 beim Sozialgericht Halle eingegangenen Klage begehrt der Kläger weiterhin einen Grad der Behinderung von mindestens 50. Dabei hat der Kläger zunächst darauf bestanden, dass ohne Beiziehung aktueller Unterlagen ausschließlich durch "exegetisches" Lesen des Gutachtens ein höherer Grad der Behinderung festzustellen sei. Erst im Erörterungstermin hat der Kläger eine Liste der behandelnden Ärzte vorgelegt. Eine Entbindung der Ärzte von der Schweigepflicht ist bis zum heutigen Tag nicht erfolgt. Auf Nachfrage hat der Kläger angegeben, dass er wegen Rückenbeschwerden noch einen Orthopäden aufsuchen müsse und außerdem weitere Untersuchungen im Oktober in neurologischer Hinsicht anstünden.

Der Kläger beantragt,

den Bescheid des Beklagten vom 30.08.2017 und den Widerspruchsbescheid vom 05.12.2017 aufzuheben und den Beklagten zu verpflichten, beim Kläger einen Grad der Behinderung von 50 ab Antragstellung festzustellen.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Der Beklagte bezieht sich auf die Gründe des Widerspruchsbescheides. Das benannte Gutachten lasse nicht den Rückschluss auf eine schwere Störung mit mindestens mit-telgradigen sozialen Anpassungsschwierigkeiten zu, weshalb ein Grad der Behinderung von 50 nicht festgestellt werden könne.

Die Gerichtsakte und die Verwaltungsakte des Beklagten haben vorgelegen und waren Gegenstand der Entscheidungsfindung. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes und des Sachvortrages der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der Verwaltungsakte ergänzend verwiesen. Das Gericht hat in dieser Sache einen Erörterungstermin am 1.10.2018 durchgeführt, auf dessen Protokoll Bezug genommen wird. Die Beteiligten haben in diesem Termin einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung zugestimmt.

Entscheidungsgründe:

Die Klage ist zulässig, insbesondere als kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage statthaft. Der Antrag auf Aufhebung eines Bescheides (Anfechtung) kann mit dem Begehren verknüpft werden, den Beklagten zu einer bestimmten Leistung zu verpflichten.

Das Gericht konnte gem. § 124 Abs. 2 SGG auch ohne mündliche Verhandlung entscheiden. Das Einverständnis der Beteiligten lag vor und es wurde ihnen auch in schriftlicher und mündlicher Form hinreichend rechtliches Gehör gewährt.

Die Klage ist aber unbegründet, da der angefochtene Bescheid in Gestalt des Widerspruchsbescheides keine Rechtsfehler zum Nachteil des Klägers enthält und diesen damit nicht in seinen Rechten verletzt.

Gemäß § 69 Absatz 1 Satz 1 SGB IX setzt die Versorgungsverwaltung den GdB auf Antrag eines behinderten Menschen fest. Menschen sind behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als 6 Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und damit ihre Teilnahme am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist (§ 2 Absatz 1 SGB IX).

Die Festsetzung des GdB ist im Wesentlichen ein Akt der Bewertung. Die rechtliche Bewertung von Tatsachen erfasst solche auf beruflichem, privatem, medizinischem und gesellschaftlichem Gebiet. Bei der Bewertung ist die Versorgungsmedizinverordnung heranzuziehen, welche ihrer-seits im § 2 auf die Versorgungsmedizinischen Grundsätze verweist, welche als antizipierte Sachverständigengutachten anzusehen sind.

Unter Beachtung der genannten Grundsätze lassen sich nach Auffassung des Gerichts folgende Feststellungen treffen: - Psychische Störung: GdB 20 - Beschwerden im Bereich Wirbelsäule/Schulter: GdB 10 - Zahnverlust im Unterkiefer: GdB 10

Psychische Störung: Der Sachverständige Dr ..., Facharzt für psychosomatische Medizin und Psychotherapie, hat dem Kläger eine Persönlichkeitsstörung attestiert, und zwar vom paranoiden Typ mit zwanghaften narzisstischen und emotional instabilen Anteilen. Eine nennenswerte Störung des Bewusstseins wurde von ihm ebenso ausgeschlossen wie deutliche Anzeichen auf eine Posttraumatische Belastungsstörung. Auch ein Psychotrauma war laut Sachverständigem auszuschließen. Keine eigenständige Bedeutung erlangte nach Auffassung des Sachverständigen der zum Teil problematische Konsum von Alkohol, da dieser als Versuch der Selbstberuhigung im Rahmen der paranoiden Persönlichkeitsstörung verstanden werden könne. In der Folge seiner Persönlichkeitsstörung sei der Kläger mäßig eingeschränkt, wenn es darum ginge, sich an Regeln und vorgegebene Strukturen zu halten. Auch die Fähigkeit, den Alltag zu strukturieren sei, genau wie die Entscheidungs- und Urteilsfähigkeit, mäßig eingeschränkt, während in Bezug auf Flexibilität eine deutliche Einschränkung erkennbar sei. Die Kontaktfähigkeit, sowie die Gruppenfähigkeit und die Fähigkeit enge und nahe Beziehungen zu pflegen, wurden vom Sachverständigen als deutlich bis stark eingeschränkt eingeschätzt. Aus der vom Sachverständigen ausführlich erhobenen Anamnese ergibt sich allerdings, dass der Kläger, wenn auch mit Konflikten, seinerzeit in einer Ehe lebte. Der Kläger spielte seinerzeit Schach und unterhielt zwei Webseiten mit religiösen bzw. politischen Inhalten. Der Sachverständige hatte damals im Wesentlichen über die Frage zu entscheiden, welche Beeinträchtigung mit welchem Ausmaß auf erlittenes DDR-Unrecht zurückzuführen sei. Er hat das Ausmaß der entsprechenden Beeinträchtigung mit einem GdS von 10 bewertet. Diesen Umstand hat der Kläger in Verkennung der Gründe des Widerspruchsbescheides so ausgelegt, dass auf der Beklagte nur auf diesen Anteil der Störung beim Kläger abgestellt hätte. Tatsächlich hatte der Beklagte, sowie jetzt auch das Gericht, das Gutachten durchaus exegetisch, also auslegend gelesen und die Gesamtschilderung der beim Kläger vorhandenen Beeinträchtigungen sowie deren Begründung zur Kenntnis genommen und ausgewertet. Dabei ergibt sich, dass die Bewertung mit 10 zu niedrig gegriffen war, da beim Kläger eine doch schon deutlich ausgeprägte psychische Störung vorliegt. Eine Einstufung dieser Störung als stärker behindernd mit wesentlicher Einschränkung der Erlebnis – und Gestaltungsfähigkeit ist allerdings nicht geboten, da zum einen seit geraumer Zeit keine kontinuierliche psychiatrische Behandlung mehr erkennbar ist, zum anderen nicht alle Beeinträchtigungen als krankheitsbedingt anerkannt werden können. Die Grenze zwischen Persönlichkeit und Persönlichkeitsstörung ist durchaus fließend, weshalb die Kontaktschwierigkeiten des Klägers genau wie seine Schwierigkeiten, sich anzupassen, in Gruppen einzufügen und vertrauensvolle Beziehungen zu pflegen durchaus nicht zwingend pathologisch sind. Aus Anamnese und dem Aktenstudium, welches der Gut-achter vorgenommen hat, ergeben sich deutliche Anhaltspunkte dafür, dass der Kläger alleine mit seiner Selbsteinschätzung umfassender Kompetenz und seinem offensiven Einfordern vermeintlicher Rechte andere Menschen vor den Kopf stößt. Dieses Auftreten lässt sich nicht immer mit paranoiden Zügen erklären, es dürfte in vielen Fällen schlicht Ausdruck der Persönlichkeit des Klägers sein. Angesichts der Fähigkeiten des Klägers, offen und kommunikativ aufzutreten, sich im Internet zu äußern und grundsätzlich Beziehungen einzugehen, sieht das Gericht noch keine wesentliche Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit. Der Grad der Behinderung ist deshalb der 1. Gruppe der Ziff. 3.7 der Versorgungsmedizinischen Grundsätze zu entnehmen, also der Spanne von 0-20. Hier ist allerdings der Spielraum bis zu 20 auszuschöpfen.

Beschwerden im Bereich Wirbelsäule/Schulter: Beim Kläger sind in den vergangenen Jahren radiologisch Befunde im Bereich des linken Schultergelenkes und der Wirbelsäule erhoben worden. Dabei lag im Bereich des linken Schultergelenkes ein Ödem vor und im Bereich der Wirbelsäule eine Bandscheibendegeneration bei L4/5 sowie bei L5/S1. Nähere orthopädische Untersuchungen sind nicht dokumentiert. Nach eigenen Angaben des Klägers sind seit geraumer Zeit keine orthopädischen Untersuchungen erfolgt. Der Kläger sieht selbst die Notwendigkeit, in dieser Hinsicht eine Abklärung vornehmen zu können. Das Gericht sieht keine Veranlassung, das Verfahren so lange hinauszögern, da Behinderungen ohnehin erst festzustellen sind, wenn die Beeinträchtigung ein halbes Jahr vorliegt. Insofern mag der Kläger zu gegebener Zeit einen Neufeststellungsantrag stellen. Nach den Ziffern 18.9 und 18.13 der Versorgungsmedizinischen Grundsätze können nennenswerte Grade der Behinderung für die geschilderten Beeinträchtigungen nicht vergeben werden. Allenfalls die glaubhafte Schilderung häufiger Schmerzen rechtfertigt es, hier einen Grad der Behinderung von 10 anzusetzen.

Zahnverlust im Unterkiefer: Dem Kläger fehlen Zähne im Unterkiefer, wobei sich die prothetische Versorgung schwierig aber nicht unmöglich gestaltete. Hierfür ist gemäß Ziffer 7.4 der Versor-gungsmedizinischen Grundsätze ein GdB von maximal 10 anzusetzen.

Wegen weiterer vom Kläger geschilderter Beeinträchtigungen kann zurzeit kein Grad der Behinderung festgestellt werden. Dies gilt insbesondere für die neurologischen Störungen, die der Kläger beschreibt. Der früher behandelnde Psychiater und Neurologe hat insoweit in der Vergangenheit Verdachtsmomente gefunden, eine Abklärung ist aber bis zum heutigen Tag nicht erfolgt.

Der Gesamtgrad der Behinderung war mit 20 zu bemessen, da die weiteren Behinderungen, die jeweils mit einem Wert von maximal 10 zu versehen waren, nicht zur Erhöhung heranzuziehen waren.

Der angefochtene Bescheid und der Widerspruchsbescheid waren deshalb aufzuheben und der Beklagte zu verpflichten, einen Grad der Behinderung vom 20 festzustellen. Weitergehende Rechtsfehler bzw. Ansprüche des Klägers waren nicht festzustellen, weshalb die Klage im Übrigen abzuweisen war.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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