S 20 SO 127/19

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Aachen (NRW)
Sachgebiet
Sozialhilfe
Abteilung
20
1. Instanz
SG Aachen (NRW)
Aktenzeichen
S 20 SO 127/19
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 21.03.2019 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 15.07.2019 verurteilt, der Klägerin 166,47 EUR zu zahlen. Die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin trägt die Beklagte. Die Berufung wird zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über einen Anspruch auf Erstattung der Aufwendungen der Kläge-rin als Nothelfer gem. § 25 Zwölftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII) für eine ambulante Behandlung am 08.03.2019 in Höhe von 166,47 EUR.

Der am xx.xx.xxxx geborene polnische Staatsangehörige F. K. X. (im Folgenden: Patient) ist obdachlos und ohne festen Wohnsitz. Er hat ständig wechselnde Aufenthalte in Deutschland, den Niederlanden, Belgien, Luxemburg und der Schweiz. In Aachen hält er sich häufig im Obdachlosen-"Cafe Plattform" auf. Er ist weder privat noch gesetzlich kran-kenversichert. Er ist bedürftig im sozialhilferechtlichen Sinne. Er erhält keine laufenden Sozialleistungen. Er leidet an psychischen und Verhaltensstörungen, Leberzirrhose und chronischer Bauchspeicheldrüsenentzündung als Folge einer Alkoholsucht sowie anderen Krankheiten. In den vergangenen Jahren wurde er häufig und wiederholt aus unterschied-lichen Anlässen durch Polizei und Rettungsdienst in die Notaufnahme verschiedener Kran-kenhäuser gebracht und dort teils stationär, teils ambulant behandelt. Der Patient hatte bei seinen verschiedenen Krankenhausaufenthalten bei ihr nicht über die notwendigste Grundausstattung verfügt, weshalb ihm immer wieder Kleidung sowie Körperpflegeutensi-lien zur Verfügung gestellt worden waren. Die Beklagte beglich – teilweise nach gerichtli-chen Auseinandersetzungen (vgl. Urteile des SG Aachen vom 07.02.2017 [S 20 SO 25/16] und vom 26.01.2018 [S 19 SO 135/16]) – die Rechnungen der Klägerin.

Am Freitag, 08.03.2019, um 15:34 Uhr wurde der Patient in alkoholisiertem Zustand in der Notfallambulanz der Klägerin aufgenommen. Der Patient klagte über epigastrische und thorakale Schmerzen, Übelkeit sowie eine Ausstrahlung der Thoraxschmerzen in die linke Schulter. Es erfolgten eine ausführliche körperliche Untersuchung, ein EKG, eine Laborun-tersuchung und eine Blutgasanalyse. Die Ärzte diagnostizierten eine Alkoholintoxikation bei Verdacht auf Gastritis. Da die Untersuchungen keinen Anhalt für einen Herzinfarkt ergaben, die Schmerzen unter Medikamentengabe und Flüssigkeitszufuhr rückläufig wa-ren und bis zum folgenden Morgen Beschwerdefreiheit erreicht werden konnte, wurde der Patient entlassen. Die Klägerin teilte der Beklagten die Notfallaufnahme mit und beantrag-te die Übernahme der Kosten der ambulanten Behandlung in Höhe von 166,47 EUR (Rech-nung vom 14.08.2019).

Durch Bescheid vom 21.03.2019 lehnte die Beklagte die Übernahme der Kosten der Kran-kenbehandlung ab. Dagegen legte die Klägerin am 16.04.2029 Widerspruch ein, den die Beklagte durch Widerspruchsbescheid vom 15.07.2019 zurückwies. Die Beklagte begrün-dete ihre Entscheidungen damit, dass die bisherige Kostenübernahmepraxis aufgrund ei-ner gesetzlichen Änderung neu zu überprüfen sei. Mit Wirkung vom 29.12.2016 sei das Gesetz zur Regelung von Ansprüchen ausländischer Personen im SGB II und SGB XII in Kraft getreten. Hierin habe der Gesetzgeber in Reaktion auf die umstrittene Rechtspre-chung des Bundessozialgerichts zum Leistungsanspruch ausländischer Hilfesuchender umfangreiche Änderungen in § 23 SGB XII vorgenommen. Neben den bisherigen Aus-schlusstatbeständen sei in § 23 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 SGB XII nunmehr geregelt, dass Aus-länder und ihre Familienangehörigen, die kein (materielles) Aufenthaltsrecht hätten oder deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitssuche ergebe, keine Leis-tungen nach § 23 Abs. 1 SGB XII erhielten. Zu den von § 23 Abs. 1 SGB XII umfassten Leistungen zähle auch die Hilfe bei Krankheit nach § 48 SGB XII. Das materielle Aufent-haltsrecht des Patienten als polnischer Staatsbürger bemesse sich nach den Vorgaben des Gesetzes über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern (Freizügigkeitsge-setz/EU – FreizügG/EU). Nach § 4 Satz 1 FreizügG/EU hätten nicht erwerbstätige Uni-onsbürger und ihre Familienangehörigen, die den Unionsbürger begleiten oder ihm nach-ziehen, ein Aufenthaltsrecht nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU, wenn sie über ausreichenden Krankenversicherungs¬schutz und ausreichende Existenzmittel verfügten. Diese Voraus-setzungen erfülle der Patient offensichtlich nicht, da er weder über Einkommen noch Ver-mögen zur Sicherstellung seines Lebensunterhalts verfüge und darüber hinaus auch sein Krankenversicherungsschutz nicht sichergestellt sei. Diese Situation habe auch schon in der Vergangenheit vorgelegen, sodass der Patient kein materielles Aufenthaltsrecht als nicht erwerbstätiger Unionsbürger habe bzw. gehabt habe. Demnach habe er mangels materiellem Aufenthaltsrecht gemäß § 23 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 SGB XII keinen Anspruch auf Gewährung von Leistungen der Krankenhilfe. Die Ausnahmeregelung des § 23 Abs. 3 Satz 7 SGB XII, wonach abweichend von Satz 1 Nr. 2 und 3 Ausländer und ihre Familien-angehörigen Leistungen nach Absatz 1 Satz 1 und 2 erhalten, wenn sie sich seit mindes-tens fünf Jahren ohne wesentliche Unterbrechung im Bundesgebiet aufhalten, führe zu keinem anderen Ergebnis, da diese Frist gemäß § 23 Abs. 3 Satz 8 SGB XII erst mit der Anmeldung bei der zuständigen Meldebehörde beginne und der Patient zu keiner Zeit ein-wohnermelderechtlich registriert worden sei. Zwar seien mit der Änderung des § 23 SGB XII ab dem 29.12.2016 Überbrückungsleistungen nach § 23 Abs. 3 Satz 3 SGB XII neu eingeführt. Diese erhielten Ausländer, welche unter die Ausschlusstatbestände des § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII fallen, bis zur Ausreise, längstens jedoch für einen Zeitraum von einem Monat, einmalig innerhalb von zwei Jahren, um den Zeitraum bis zur Ausreise zu überbrücken. Voraussetzung zur Gewährung einer Überbrückungsleistung sei aber u.a. die grundsätzliche Bereitschaft des Antragstellers, in seine Heimat zurückzukehren. Er-klärt sich dieser zur Ausreise nicht bereit zu sein, scheide ein Anspruch auf Überbrü-ckungsleistungen aus. Nach § 23 Abs. 3 Satz 5 Nr. 3 SGB XII umfassten die Überbrü-ckungsleistungen auch die zur Behandlung akuter Erkrankungen und Schmerzzustände erforderliche ärztliche und zahnärztliche Behandlung einschließlich der Versorgung mit Arznei- und Verbandmitteln sowie sonstiger zur Genesung, zur Besserung oder zur Linde-rung von Krankheiten oder Krankheitsfolgen erforderlichen Leistungen. Eine Gewährung von Überbrückungsleistungen scheide jedoch wegen mangelnder Bereitschaft des Patien-ten zur Rückkehr nach Polen aus. Sollte sich ein Leistungsanspruch nach dem Asylbe-werberleistungsgesetz (AsylbIG) ergebe, stünde auch dieser einem Sozialhilfeanspruch entgegen. Denn nach § 23 Abs. 2 SGB XII erhielten Leistungsberechtigte nach § 1 AsylbLG keine Leistungen nach dem SGB XII. Der Leistungskata¬log des AsylbIG sei für diesen Personenkreis abschließend.

Durch Bescheid vom 23.07.2019 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 28.11.2019 lehnte die Beklagte den Antrag auf Übernahme der Kosten der Behandlung vom 08.03.2019 in Höhe von 166,47 EUR auch nach dem AsylbLG ab. Sie meinte, ein Not-helferanspruch der Klägerin gem. § 6a AsylbLG bestehe nicht, weil der Patient nicht voll-ziehbar ausreisepflichtig sei und nicht zum Personenkreis des § 1 AsylbLG gehöre. Er ge-nieße als polnischer Staatsbürger solange in Deutschland Freizügigkeit, bis diese seitens des Ausländeramtes formell entzogen werde. Die dagegen erhobene Klage (S 20 AY 48/19 – SG Aachen) nahm die Klägerin nach Hinweisen des Gerichts am 11.05.2020 zu-rück.

Gegen den Bescheid der Beklagten vom 21.03.2019 in der Fassung des Widerspruchsbe-scheides vom 15.07.2019 hat die Klägerin am 14.08.2019 Klage erhoben. Ihr sei bekannt, dass sich Nothelferansprüche nach dem SGB XII und dem AsylbLG ausschlössen. Träfe jedoch die Auffassung der Beklagten zu, dass Personen wie der Patient weder nach dem SGB XII noch nach dem AsylbLG leistungsberechtigt seien, würden dadurch verfas-sungsmäßige Rechts der betroffenen EU-Bürger – hier: des Patienten – verletzt. EU-Bürger ohne materielles Aufenthaltsrecht seien sozialrechtlich sogar schlechter gestellt als Angehörige von Drittstaaten, denen die Beklagte in vergleichbarer wirtschaftlicher Lage Leistungen nach dem AsylbLG gewähren würde. Erst durch Feststellung des Nichtbeste-hens des Freizügigkeitsrechts würden die EU-Bürger ohne materielles Aufenthaltsrecht sozialrechtlich wieder den Angehörigen der Drittstaaten gleichgestellt. Selbst die Beklagte gestehe zu, dass dies "unlogisch" sei. Die Klägerin hält dies für einen Wertungswider-spruch, der nicht nur unlogisch, sondern auch europarechtlich bedenklich sei, da hier durch eine nationale Regelung EU-Bürger nicht nur schlechter behandelt würden als In-länder, sondern auch schlechter als Angehörige von Drittstaaten. In der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) vom 11.11.2014 (C-333/13) werde zwar ausgeführt, dass Personen, denen nach der Richtlinie 2004/38 kein Aufenthaltsrecht zustehe, nicht unter den gleichen Voraussetzungen wie Inländer Sozialleistungen beanspruchen könnten. Im hier vorliegenden Fall gehe es jedoch auch um die Problematik, dass EU-Bürger ohne Aufenthaltsrecht faktisch auch nicht dieselben Sozialleistungen bekämen wie Angehörige von Drittstaaten, denen z.B. Leistungen nach dem AsylbLG zustünden. Hier finde eine faktische Besserstellung von Drittstaatlern und damit eine Diskriminierung von Unionsbür-gern statt, die europarechtlich so nicht gewollt sein kann. Die Klägerin räumt ein, dass der Ansatz des EuGH, dass ein Mitgliedstaat die Möglichkeit haben müsse, nicht erwerbstäti-gen Unionsbürgern, die von ihrer Freizügigkeit allein mit dem Ziel Gebrauch machten, in den Genuss der Sozialhilfe eines anderen Mitgliedstaates zu kommen, obwohl sie nicht über ausrei-chende Existenzmittel für die Beanspruchung eines Aufenthaltsrechts verfügen, Sozialleis-tungen zu versagen, grundsätzlich richtig sein mag, um nicht die Solidargemeinschaft mit den Kosten für den Lebensunterhalt von Personen ohne Aufenthaltsrecht zu belasten. Vorliegend gehe es aber nicht um den Lebensunterhalt. Wenn die betreffende Person kei-nen Anspruch auf Hilfe zum Lebensunterhalt habe, bedrohe dies die physische Existenz mittel- bis langfristig, aber nicht unmittelbar. Hier gehe es um Krankenbehandlung in ei-nem medizinischen Notfall. Dieser bedrohe die physische Existenz des Betroffenen sofort und unmittelbar und sei daher anders zu bewerten als die Hilfe zum Lebensunterhalt. Der Betroffene verfolge auch nicht allein das Ziel, in den Genuss der Sozialhilfe zu kommen, sondern es gehe um die Akutversorgung im Krankheitsfall, ein Szenario, dass sicher von keinem der Betroffenen zielgerichtet geplant oder gewollt sei. Den Menschen in dieser Si-tuation die Krankenhilfe zu verweigern, stelle einen unmittelbaren Angriff auf die Men-schenwürde dar. Diese könne jedoch als höchstes verfassungsrechtliches Gut nicht durch migrationspolitische Erwägungen relativiert werden. Dass dem Betroffenen die notwendige Krankenbehandlung aufgrund der Pflicht zur Behandlung und Hilfeleistung letztlich immer zuteilwerde, belaste am Ende aber nicht die Solidargemeinschaft, sondern die Kranken-häuser, und zwar mit ganz erheblichen Kosten. In dem hier zu entscheidenden Fall seien die Behandlungskosten überschaubar; in der Summe aller Behandlungsfälle mit gleichem sozialrechtlichem Sachverhalt ergäben sich jedoch für die Klägerin jährlich Kosten im sechsstelligen Bereich, wobei dieser teilweise schon durch einen einzigen Behandlungsfall erreicht werde. Die Klägerin ist der Auffassung, bei verfassungskonformer Auslegung der Ausschlusstatbestände in § 23 Abs. 3 SGB XII sei – unabhängig vom Lebensunterhalt – Krankenhilfe im Akutfall zu gewähren.

Die Klägerin beantragt,

die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 21.03.2019 in der Fassung des Wider-spruchsbescheides vom 15.07.2019 zu verurteilen, ihr 166,47 EUR für die Behandlung des Patienten F. K. X. am 08.03.2019 zu zahlen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie wiederholt und vertieft ihre in den angefochtenen Bescheiden vertretene Auffassung. Sie räumt ein, dass EU-Bürger nach der Feststellung über den Verlust oder das Nichtbe-stehen des Freizügigkeitsrechtes leistungsberechtigt nach dem AsylbLG seien; ein we-sentlich schlechterer ausländerrechtlicher Sta¬tus habe also eine deutlich bessere sozial-rechtliche Stellung zur Folge; dies sei unlogisch, aber vom Gesetzgeber so geregelt. Nach ständiger Rechtsprechung des BSG sei die generelle Freizügigkeitsvermu¬tung, nach der der Aufenthalt eines EU-Ausländers zumindest solange als rechtmäßig angesehen werden müsse, bis die zuständige Ausländerbehörde das Nichtbestehen des Freizügigkeitsrechtes festgestellt und damit die Ausrei¬sepflicht begründet hat, nicht ausreichend. Darüber hinaus gingen die Landessozialgerichte mehrheitlich davon aus, dass § 23 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 SGB XII nicht ausreisepflichtige Unionsbürger ohne ma¬terielles Aufenthaltsrecht in verfas-sungskonformer Weise von Leistungen nach § 23 Abs. 1 SGB XII ausschließe. Danach sei § 23 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 SGB XII sehr wohl mit dem Grundgesetz vereinbar. Auch das Grundrecht auf Ge¬währleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums, das das BVerfG aus Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG abgeleitet habe, begründe keinen un-be¬dingten Anspruch auf Fürsorgeleistungen. Die Verfassung gebiete nicht die Gewährung voraussetzungsloser Sozialleistungen. Daher mache der Gesetzge¬ber einen Anspruch auf Grundsicherungsleistungen und ähnlichen Leistungen nach dem SGB II, dem SGB XII und dem AsylbLG von zahlreichen formellen und materiellen Voraussetzungen abhängig. Ver-fassungsrechtlich zu rechtfertigen sei dieser Leistungsausschluss, da der Gesetzgeber EU-Bürger ohne materielles Aufenthaltsrecht auch nicht gänzlich von Leistungen ausge-schlossen, sondern für diesen Personenkreis diffe¬renzierte Leistungen vorgesehen habe. So gewährleiste er Überbrückungsleistungen sowie angemessene Kosten der Rückreise gemäß § 23 Abs. 3, 3a SGB XII und erforderlichenfalls Leistungen im Rahmen der Härte-fallregelung des § 23 Abs. 3 Satz 6 SGB XII. Damit werde dem vom BVerfG umrissenen grundrechtli¬chen Anspruch auf existenzsichernde Leistungen hinreichend Rechnung getra-gen. Auf solche Leistungen habe der Patient aber keinen Anspruch; seine Ausreisebereit-schaft sei nicht ersichtlich und durch nichts belegt. Die Beklagte beruft sich für den vorlie-genden Fall auf den Ausschlussgrund nach § 23 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2, 1. Alt. SGB XII. Der Gesetzgeber habe mit Wirkung ab 29.12.2016 diesen Ausschlussgrund in die Vorschrift aufgenommen. Er beträfe Personen ohne jedes materielle Aufenthaltsrecht. Vom materi-ellen Aufenthaltsrecht zu unterscheiden sei die formelle Freizügigkeitsvermutung für EU-Ausländer. Zu deren rechtmäßiger Einreise nach Deutschland genüge ein gültiger Pass. Aufgrund dieser generellen Freizügigkeitsvermutung müsse der Aufenthalt eines EU-Ausländers zumindest solange als rechtmäßig angesehen werden, bis die zuständige Aus-länderbehörde das Nichtbestehen des Freizügigkeitsrechts aufgrund von § 5 Abs. 4 Frei-zügG/EU festgestellt und damit nach § 7 Abs. 1 FreizügG/EU die sofortige Ausreisepflicht begründet habe. Die Beklagte meint, dass es auf eine solche formelle Freizügigkeit aber nicht ankomme; bei der Beurteilung des Leistungsausschlusses nach § 23 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2, 1. Alt. SGB XII sei auf das materielle Aufenthaltsrecht abzustellen. Würde ein An-spruchsausschluss erst bestehen, wenn durch das Ausländeramt das Frei¬zügigkeitsrecht bestandskräftig entzogen sei, bedeute dies, dass jedem EU- Bürger, der mit einem gülti-gen Pass nach Deutschland einreise, bis dahin ein bedingungsloses Grundeinkommen nach dem SGB II und dem SGB XII zustehen würde. Letztlich würden dann auch § 23 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 und 3 SGB XII ins Leere laufen.

Auf ein entsprechendes Auskunftsersuchen des Gerichts hat das Ausländeramt der Städ-teregion Aachen mit Schreiben vom 27.04.2020 mitgeteilt, dass der Patient dort nicht be-kannt und auch nicht im Aus¬länderzentralregister (AZR) registriert sei. Insofern existiere auch keine Ausländerakte. Weiter hat das Ausländeramt erklärt: "Der Verlust des Freizügigkeitsrechts setzt eine Verlustfeststellung nach § 5 Abs. 4 Frei-zügG/EU voraus. Diese erfolgt durch die zu ständige Ausländerbehörde per Ordnungsver-fügung, wenn ent¬sprechende Umstände bekannt werden (z.B. durch Mitteilung des job-centers). Das Entstehen eines Daueraufenthaltsrechts nach § 4a Abs. 1 FreizügG/EU setzt voraus, dass der Betroffene während einer Aufenthaltszeit von mindestens fünf Jahren ununter-brochen die Freizügigkeitsvoraussetzungen erfüllt hat (z.B. Arbeitnehmerstatus oder aus-reichende Existenzmittel und KV-Schutz). Eine Verlustfeststellung nach § 5 Abs. 4 Frei-zügG/EU ist auch noch möglich, wenn sich der Unionsbürger zwar bereits fünf Jahre ständig im Bundes gebiet aufgehalten hat, ein Daueraufenthaltsrecht jedoch noch nicht entstanden ist (vgl. BVerwG, Urteil v. 16.07.15 – 1 C 22.14)."

Die Beteiligten haben sich übereinstimmend mit einer Entscheidung der Kammer durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der zwi-schen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze und den sonstigen Inhalt der Gerichtsak-te, der beigezogenen Gerichtsakte S 20 AY 48/19 sowie der Verwaltungsakten der Be-klagten, die bei der Entscheidung vorgelegen haben, Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Kammer konnte durch Urteil ohne mündliche Verhandlung entscheiden, weil sich die Beteiligten mit dieser Verfahrensweise übereinstimmend einverstanden erklärt haben (§ 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz – SGG).

Die Klage ist zulässig und begründet.

Die Klägerin wird durch die angefochtenen Bescheide nicht im Sinne des § 54 Abs. 2 So-zialgerichtsgesetz (SGG) beschwert, da sie rechtswidrig sind. Die Klägerin hat gemäß § 25 SGB XII Anspruch auf Erstattung der Kosten in Höhe von 166,47 EUR, die ihr durch die ambulante Krankenbehandlung des Patienten am 08.03.2019 als Nothelferin entstanden sind.

Nach § 25 SGB XII sind demjenigen, der in einem Eilfall einem Anderen Leistungen er-bracht hat, die bei rechtzeitigem Einsetzen von Sozialhilfe nicht zu erbringen wären, die Aufwendungen in gebotenem Umfang zu erstatten, wenn er sie nicht aufgrund rechtlicher oder sittlicher Pflicht selbst zu tragen hat (Satz 1). Dies gilt nur, wenn die Erstattung in-nerhalb angemessener Frist beim zuständigen Träger der Sozialhilfe beantragt wird (Satz 2).

Die Klägerin hat dem Patienten Leistungen nach § 48 SGB XII (Hilfe bei Krankheit) er-bracht, die bei rechtzeitigem Einsetzen der Sozialhilfe von der Beklagten zu erbringen ge-wesen wären. Die Klägerin hat die ambulant am 08.03.2019 – einem Freitag – ab 15:34 Uhr erbrachte Hilfe bereits mit Schreiben vom 11.03.2019 und damit innerhalb angemes-sener Frist beim zuständigen Sozialhilfeträger beantragt.

Die Beklagte war gemäß §§ 97 Abs. 1, 98 Abs. 1 S. 1 und Abs. 2 S. 3 SGB XII i.V.m. § 3 Abs. 2 SGB XII, §§ 1, 2 Landesausführungsgesetz zum SGB XII für das Land Nordrhein-Westfalen (NRW) und der Ausführungsverordnung zum SGB XII des Landes NRW für den Nothelferanspruch sachlich und örtlich zuständig, da der Patient, als er im Krankenhaus der Klägerin behandelt wurde, seinen tatsächlichen Aufenthalt im Gebiet der Beklagten hatte. Für die örtliche Zuständigkeit ist wegen der Eilbedürftigkeit der Leistungserbringung durch den Nothelfer der tatsächliche Aufenthalt des Hilfebedürftigen maßgeblich, selbst wenn ein gewöhnlicher Aufenthalt in einem anderen Zuständigkeitsbereich besteht, der – den Eilfall weggedacht – die örtliche Zuständigkeit des dortigen Trägers begründen würde (BSG, Urteil vom 18.11.2014 – B 8 SO 9/13 R).

Der Sozialhilfeanspruch des Patienten war begründet, weil die Krankenbehandlung not-wendig war, der Patient nicht krankenversichert war und er außerstande war, die Kosten der Krankenbehandlung aus eigenem Einkommen oder Vermögen – andere Einstands-verpflichtete sind nicht ersichtlich – aufzubringen (vgl. § 48 Satz 1 i.V.m. §§ 2 Abs. 1, 19 Abs. 3 SGB XII).

Die Kammer geht aufgrund der ihr bekannt gewordenen Umstände davon aus, dass der Patient finanziell hilfebedürftig und nicht in der Lage gewesen ist, die Kosten der Kranken-hausbehandlung zu tragen. Er war ohne festen Wohnsitz, kam immer wieder in einer Ob-dachlosenunterkunft ("Cafe Plattform") unter, erhielt keine Sozialleistungen und war bei seinen verschiedenen Krankenhauseinlieferungen derart verarmt, dass er aus dem Fun-dus der Klägerin mit neuer Kleidung und Waschutensilien versorgt wurde. Diese Angaben sind zwar dürftig, weisen den Patienten aber hinreichend als bedürftig aus.

Die Sozialhilfeleistung stand ihm gem. § 23 Abs. 1 Satz 1 SGB XII auch als Ausländer zu, weil er sich am 08.03.2019 in Deutschland aufhielt. Ein Leistungsausschluss gemäß § 23 Abs. 2 oder Abs. 3 SGB XII lag nicht vor.

§ 23 Abs. 2 SGB XII bestimmt, dass Leistungsberechtigte nach § 1 AsylbLG keine Leis-tungen nach Absatz 1 erhalten. Der Patient gehörte am 08.03.2019 nicht zum Personen-kreis der Leistungsberechtigten nach § 1 AsylbLG in der zu diesem Zeitpunkt geltenden Fassung. Insbesondere war er, wie die Beklagte im Bescheid vom 23.07.2019 und Wider-spruchsbescheid vom 28.11.2019, die Gegenstand des erledigten Gerichtsverfahrens S 20 AY 48/19 waren, zutreffend festgestellt hat, nicht vollziehbar ausreisepflichtig (vgl. § 1 Abs. 1 Nr. 5 AsylbLG) Zu den weiteren in § 1 AsylbLG genannten Person gehört der Pati-ent ganz offensichtlich nicht.

Zwar hätte eine Ausreisepflicht des Patienten begründet werden können, wenn er kein Aufenthaltsrecht (mehr) besaß. Vollziehbar ist die Ausreisepflicht jedoch nur unter den Vo-raussetzungen des § 58 Abs. 2 AufenthG kraft Gesetzes, z.B. bei unerlaubter Einreise, die hier für einen polnischen Staatsangehörigen nicht bejaht werden kann. Einen aus-drücklichen Bescheid über den Verlust des Freizügigkeitsrechts (vgl. § 5 Abs. 4 Frei-zügG/EU) oder eine vollziehbare Ausreiseverfügung (vgl. § 7 Abs. 1 FreizügG/EU) lag nicht vor. Die von der Klägerin im Verfahren S 20 AY 48/19 angestellte Erwägung, die Vorschrift des § 1 Abs. 1 Nr. 5 AsylbLG finde auf alle Ausländer, die sich "illegal" in Deutschland aufhalten, Anwendung, findet im Gesetz keine Stütze. Ausländer, die sich "legal" in Deutschland aufhalten, erfahren den Schutz der einschlägigen Gesetze, Flücht-linge z.B., indem sie die entsprechenden Anträge nach dem AsylbLG oder AufenthG stel-len und zum Personenkreis der Leistungsberechtigten nach dem AsylbLG gehören. Dazu aber gehörte der Patient nach den dargelegten Umständen am 08.03.2019 nicht.

Der Sozialhilfeanspruch des Patienten war auch nicht nach § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII ausgeschlossen. Danach erhalten Ausländer und ihre Familienangehörigen keine Leistun-gen nach Absatz 1 oder nach dem Vierten Kapitel, wenn 1. sie weder in der Bundesrepublik Deutschland Arbeitnehmer oder Selbständige noch auf Grund des § 2 Absatz 3 des Freizügigkeitsgesetzes/EU freizügigkeitsberechtigt sind, für die ersten drei Monate ihres Aufenthalts, 2. sie kein Aufenthaltsrecht haben oder sich ihr Aufenthaltsrecht allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt, 3. sie ihr Aufenthaltsrecht allein oder neben einem Aufenthaltsrecht nach Nummer 2 aus Artikel 10 der Verordnung (EU) Nr. 492/2011 des Europäischen Parlaments und des Ra-tes vom 5. April 2011 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Union (ABl. L 141 vom 27.5.2011, S. 1), die durch die Verordnung (EU) 2016/589 (ABl. L 107 vom 22.4.2016, S. 1) geändert worden ist, ableiten oder 4. sie eingereist sind, um Sozialhilfe zu erlangen.

Dafür, dass der Patient zu den Personen gehört, die unter § 23 Abs. 3 Satz 1 Nrn. 1, 2 (zweite Alternative), 3 oder 4 fallen, ist nichts ersichtlich; dies wird von der Beklagten auch nicht geltend gemacht. Entgegen ihrer Auffassung ist der Patient aber auch keine Person im Sinne von § 23 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2, erste Alternative SGB XII. Denn er hatte am 08.03.2019 ein Aufenthaltsrecht.

Das Aufenthaltsrecht des Patienten, der Staatsangehöriger Polens, eines Mitgliedstaats der EU, ist, bemisst sich nach den Vorgaben des FreizügG/EU. Nach § 2 Abs. 1 Frei-zügG/EU haben freizügigkeitsberechtigte Unionsbürger und ihre Familienangehörigen das Recht auf Einreise und Aufenthalt nach Maßgabe dieses Gesetzes. Nach § 4 Satz 1 Frei-zügG/EU haben nicht erwerbstätige Unionsbürger und ihre Familienangehörigen, die den Unionsbürger begleiten oder ihm nachziehen, das Recht nach § 2 Abs. 1, wenn sie über ausreichenden Krankenversicherungsschutz und ausreichende Existenzmittel verfügen. Zwar verfügte der Patient am 08.03.2019 weder über einen ausreichenden Krankenversi-cherungsschutz und noch über ausreichende Existenzmittel. Dies allein führt jedoch nicht dazu, dass er kein Aufenthaltsrecht mehr besaß. Denn § 5 Abs. 4 Satz 1 FreizügG/EU bestimmt, dass der Verlust des Rechts nach § 2 Abs. 1 festgestellt werden kann, wenn die Voraussetzungen des Rechts nach § 2 Abs. 1 innerhalb von fünf Jahren nach Begrün-dung des ständigen rechtmäßigen Aufenthalts im Bundesgebiet entfallen sind oder nicht vorliegen. Gemäß § 6 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU kann der Verlust des Rechts nach § 2 Abs. 1 unbeschadet des § 2 Absatz 7 und des § 5 Absatz 4 nur aus Gründen der öffentli-chen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit (Artikel 45 Absatz 3, Artikel 52 Absatz 1 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union) festgestellt und die Bescheini-gung über das Daueraufenthaltsrecht oder die Aufenthaltskarte oder Daueraufenthaltskar-te eingezogen werden. Gemäß § 7 FreizügG/EU sind Unionsbürger oder ihre Familienan-gehörigen ausreisepflichtig, wenn die Ausländerbehörde festgestellt hat, dass das Recht auf Einreise und Aufenthalt nicht besteht. Aus diesen Vorschriften folgt, dass nicht nur der Verlust, sondern auch schon das Nichtbestehen des unionsrechtlichen Aufenthaltsrechts einer förmlichen Feststellung der zuständigen Behörde bedarf (vgl. auch Siefert in jurisPK-SGB XII, § 23 Rz. 83). Dies hat die zuständige Ausländerbehörde hat dem Gericht auf ein entsprechendes Auskunftsersuchen bestätigt. Auf die Fragen des Gerichts, ob ein Uni-onsbürger sein Aufenthaltsrecht nach dem FreizügG/EU automatisch verliert, sobald er weder über einen ausreichenden Krankenversicherungsschutz noch über ausreichende Existenzmittel verfügt (vgl. § 4 Satz 1 FreizügG/EU) oder ob es für das Nichtbestehen bzw. den Verlust des unionsrechtlichen Aufenthaltsrechts einer förmlichen Feststellung des Nichtbestehens bzw. des Verlustes durch Verwaltungsakte der Ausländerbehörde be-darf, hat die Ausländerbehörde erklärt: "Der Verlust des Freizügigkeitsrechts setzt eine Verlustfeststellung nach § 5 Abs. 4 FreizügG/EU voraus. Diese erfolgt durch die zu stän-dige Ausländerbehörde per Ordnungsverfügung, wenn ent¬sprechende Umstände bekannt werden (z.B. durch Mitteilung des jobcenters)."

Der Leistungsausschlusstatbestand des § 23 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2, 1. Alt. SGB XII stellt da-rauf ab, ob der Ausländer ein Aufenthaltsrecht hat Das Gesetz es differenziert nicht zwi-schen einem "materiellen" und einem "formellen" Aufenthaltsrecht und auch nicht zwi-schen einer "materiellen" und einer "formellen" Freizügigkeitsberechtigung. Zwar wird in der Literatur und in diversen ober- und höchstgerichtlichen Entscheidungen die Begriffe "materielles Aufenthaltsrecht" und "materielle Freizügigkeitsberechtigung" verwendet. We-der der Kommentarliteratur (vgl. Siefert in jurisPK-SGB XII, § 23 Rz. 83) noch den Ent-scheidungen des LSG Berlin-Brandenburg vom 13.02.2017 (L 23 SO 30/17 B ER) und des LSG NRW vom 12.10.2018 (L 6 AS 500/18 B ER), auf die die Beklagte sich für ihre Auf-fassung beruft, noch irgendeiner anderen Quelle lässt sich entnehmen, dass ein freizügig-keitsberechtigter Bürger eines nichtdeutschen EU-Mitgliedstaates auch ohne Verlustfest-stellung "kein Aufenthaltsrecht" im Sinne von § 23 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2, 1. Alt. SGB XII ha-ben könnte. Solange nicht von der zuständigen Behörde die Feststellung des Verlustes (oder Nichtbestehens) des Aufenthaltsrechts eines EU-Ausländers getroffen ist, hat er ein Aufenthaltsrecht und ist er keinem Leistungsausschluss gem. § 23 Abs. 3 Satz 1, 1. Alt. SGB XII ausgesetzt. So lag es bei dem Patienten zum hier streiterheblichen Zeitpunkt.

Im Hinblick darauf kann dahinstehen, ob der Patient aufgrund der Dauer seines Aufenthal-tes in Deutschland ein Daueraufenthaltsrecht gem. § 4a FreizügG/EU und daraus abgelei-tet einen Anspruch auf Sozialhilfe gem. § 23 Abs. 3 Satz 7 SGB XII hatte. Insofern sind auch die dazu ergangenen Beschlüsse der 19. Kammer des SG Aachen vom 05.09.2019 (S 19 SO 115/19 ER) und des LSG NRW vom 05.11.2019 (L 12 SO 379/19 B ER), auf die die Beklagte sich für ihre Auffassung beruft, nicht zielführend. Das LSG NRW hat sich mit der Frage, ob der Verlustes eines Aufenthaltsrechts eines feststellenden Verwaltungsak-tes bedarf, überhaupt nicht befasst.

Der EuGH hat entschieden, dass ein Mitgliedstaat gemäß Art. 7 der Richtlinie 2004/38 die Möglichkeit haben muss, nicht erwerbstätigen Unionsbürgern, die von ihrer Freizügigkeit allein mit dem Ziel Gebrauch machen, in den Genuss der Sozialhilfe eines anderen Mit-gliedstaats zu kommen, obwohl sie nicht über ausreichende Existenzmittel für die Bean-spruchung eines Aufenthaltsrechts verfügen, Sozialleistungen zu versagen (EuGH, Urteil vom 11.11.2014 – C-333/13). Dies sieht auch das BSG so. In Bezug auf den Patienten ist aber bereits fraglich, ob er von seinem Recht auf Freizügigkeit allein mit dem Ziel Ge-brauch macht, in den Genuss der Sozialhilfe zu kommen. In Anbetracht des Krankheitsbil-des des Patienten ist ein auf die Erlangung Sozialhilfe gerichtetes Verhalten und Handeln höchst unwahrscheinlich; dem Gericht ist nicht bekannt, dass der Patient irgendwann ein-mal oder jedenfalls in den letzten Jahren Hilfe zum Lebensunterhalt; Grundsicherung, Krankenhilfe oder andere Leistungen nach dem SGB XII beantragt hätte. Der Gesetzge-ber hat in § 23 Abs. 3 SGB XII die Einzelheiten eines Leistungsausschlusses für Unions-bürger geregelt. Sind aber schon – wie im Fall des Patienten am 08.03.2019 – die Vo-raussetzungen für einen Ausschlussgrund nach § 23 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2, erste Alternative SGB XII nicht erfüllt, kommt es auf die Frage der Vereinbarkeit der konkreten Leistungs-ausschlussnorm mit supranationalem Gemeinschaftsrecht oder nationalem Verfassungs-recht nicht an. Insoweit bedarf es auch keiner gemeinschaftsrechts- oder verfassungskon-formen Auslegung der Vorschrift durch das Gericht.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Kammer hat die im Hinblick auf den Wert des Beschwerdegegenstandes an sich nicht statthafte Berufung zugelassen, weil sie der Rechtssache grundsätzlich Bedeutung bei-misst (§ 144 Abs. 1 S. 1 Nr. 1, Abs. 2 Nr. 1 SGG).
Rechtskraft
Aus
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