S 11 BK 10/19

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Aachen (NRW)
Sachgebiet
Kindergeld-/Erziehungsgeldangelegenheiten
Abteilung
11
1. Instanz
SG Aachen (NRW)
Aktenzeichen
S 11 BK 10/19
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Bescheide vom 20.12.2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20.08.2019 werden aufgehoben. Die Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers dem Grunde nach.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist die Rechtmäßigkeit von Rücknahme- und Erstattungsbescheiden streitig.

Am 16.10.2017 stellte der Kläger einen Antrag bei der Beklagten auf Bewilligung von Kin-derzuschlag. Hierbei gab er an, ein ca. 140 qm großes Eigenheim zu bewohnen. Die Schuldzinsen – ohne Tilgungsraten – bezifferte er mit monatlich 86,00 EUR, die Heizkos-ten mit 133,00 EUR, die Nebenkosten auf 209,37 EUR und sonstige Wohnkosten auf 16,92 EUR. Hinsichtlich des Einkommens bescheinigte der Arbeitgeber für dem Monat Oktober 2017 ein Bruttoarbeitsentgelt in Höhe von 2.318,37 EUR wovon 541,81 EUR Steuer und Sozialbeiträge (Arbeitnehmeranteil) in Abzug zu bringen waren.

Auf dieser Grundlage bewilligte die Beklagte dem am 00.00.1968 geborenen Kläger mit Bescheid vom 08.11.2017 für die Kinder D. geboren am 00.00.2003, sowie E., K. und H, jeweils geboren am 00.00.2005, vorläufig Leistungen für den Zeitraum von November 2017 bis April 2018 in Höhe von monatlich 460,00 EUR. Im Nachgang legte der Kläger Lohnabrechnungen für den Zeitraum Oktober 2017 bis Januar 2018 sowie eine aktuellere Wasserrechnung sowie einen aktuelleren Grundbesitzabgabenbescheid vor.

Am 19.04.2018 stellte der Kläger einen Folgeantrag. Hierbei gab er an, das Einkommen habe sich nicht geändert. In diesem Zusammenhang reichte er eine Verdienstbescheini-gung seines Arbeitgebers für den Zeitraum Oktober 2017 bis März 2018, einen Wohn-geldbescheid über monatlich 548,00 EUR für den Zeitraum vom 01.11.2017 bis 31.10.2018 und einen Änderungsbescheid betreffend die Grundbesitzabgaben für den Zeitraum ab 26.04.2018 ein. Hinsichtlich der Höhe der Schuldzinsen für das Eigenheim machte der Kläger keine Änderungen geltend. Er verwies aber darauf, die Wasserkosten hätten sich erhöht; auch werde der Bausparvertrag schlechter verzinst.

Mit Bescheid vom 13.06.2018 bewilligte die Beklagte dem Kläger – diesmal nicht vorläufig – Kinderzuschlag für seine vier Kinder für den Zeitraum von Mai bis Oktober 2018 in Höhe von monatlich 415,00 EUR.

Hierbei legte die Beklagte als Einkommen das nachgewiesene Einkommen für den Zeit-raum Oktober 2017 bis März 2018 in Höhe von brutto 2.384,11 EUR zugrunde. Dies ent-sprach netto 1.888,81 EUR, von denen der Beklagte Freibeträge in Höhe von 330,00 EUR in Abzug brachte, so dass ein anzurechnendes Einkommen in Höhe von 1.558,81 EUR verblieb. Die monatlichen Kosten für Unterkunft und Heizung ermittelte die Beklagte mit 506,64 EUR, wobei sie Schuldzinsen in Höhe von 106,78 EUR, 133,00 EUR für Heizung, 49,00 EUR für Wasser, 19,20 EUR für Schornsteinfegerkosten, 86,09 EUR für eine Ge-bäudeversicherung und sonstige Kosten in Höhe von 112,57 EUR in Ansatz brachte. Hie-raus errechnete sie für die Bemessungsgrenze maßgebliche Kosten für Unterkunft und Heizung in Höhe von 280,73 EUR, so dass sich diese insgesamt auf 1.028,73 EUR belief (748,00 + 280,73 EUR). Hieraus ermittelte sie eine Höchsteinkommensgrenze von 1.708,73 EUR.

Am 08.10.2018 stellte der Kläger einen weiteren Folgeantrag. In diesem Zusammenhang legte er dann Verdienstbescheinigungen über den Zeitraum Januar bis einschließlich No-vember 2018 vor. Im Nachgang forderte die Beklagte den Kläger zur Vorlage eines Nach-weises hinsichtlich der Tilgungspläne für alle Darlehens- und Bausparverträge für die Jah-re 2017 und 2018 auf.

Am 13.11.2018 erreichte die Beklagte eine vom Kläger übersandte Übersicht über die Baufinanzierung, danach lagen die tatsächlich durch den Kläger zu zahlenden Zinsen er-heblich unter den von ihm ursprünglich angegebenen 86,00 EUR. Sie betrugen im Mai 2018 noch 19,11 EUR und sanken monatlich stetig, freilich bei gleichbleibender Kreditrate von 787,50 EUR pro Monat.

Mit Bescheid vom 20.12.2018 nahm die Beklagte den Bescheid vom 13.06.2018 für den Zeitraum Mai bis Oktober 2018 nach § 45 des Zehnten Buches des Sozialgesetzbuches – Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz – (SGB X) in vollem Umfang zurück und. Das Einkommen habe im maßgeblichen Zeitraum den Gesamtbedarf überstiegen. Mit weiterem Bescheid vom 20.12.2018 forderte die Beklagte eine Erstattung für diese Zeitraum in Höhe von 2.490,00 EUR.

Unter dem 09.01.2019 legte der Kläger Widerspruch gegen die Rücknahme der Bewilli-gung von Kinderzuschlag ein. Er führte aus, er habe der Beklagten im Dezember 2017 mitgeteilt, dass sich die Tilgungsraten für sein Haus geändert hätten. Zudem verstehe er das zugrunde gelegte Einkommen sowie die Berechnungen der Beklagten nicht.

Mit Widerspruchsbescheid vom 20.08.2019 wurde der Bescheid vom 20.12.2018 abgeän-dert. Es wurde nunmehr lediglich die Bewilligung für die Monate Juni bis Oktober 2018 in voller Höhe zurückgenommen und für den Monat Mai 2018 zusätzlich Kinderzuschlag in Höhe von 5,00 EUR bewilligt. Die Erstattungsforderung wurde nunmehr mit 2.070 EUR beziffert.

Am 23.09.2019 hat der Kläger, vertreten durch seine Prozessbevollmächtigte, Klage er-hoben. Er hat die Auffassung vertreten, die Beklagte habe zu hohes Einkommen berück-sichtigt. Soweit die Beklagte darauf verweise, die Zinsen seien gesunken, sei zu berück-sichtigen, dass die Raten insgesamt aber gleich geblieben seien.

Mit Schreiben vom 15.10.2019 und 13.01.2020 hat der Kammervorsitzende darauf hinge-wiesen, dass er nicht erkennen könne, dass das Einkommen falsch berücksichtigt worden sei. Hinsichtlich der Kosten der Unterkunft komme es – nach allgemeiner Auffassung – auf die Zinsen, nicht aber auf die Tilgung an.

Der Kläger hat schriftsätzlich beantragt,

den Bescheid vom 20.12.2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20.08.2019 aufzuheben.

Die Beklagte hat schriftsätzlich beantragt,

die Klage abzuweisen.

Zur Begründung wiederholt und vertieft er sein Vorbringen aus dem Verwaltungsverfah-ren. Soweit der Kammervorsitzende darauf verweise, dass die Beklagte habe erkennen können, dass der von ihr zugrunde gelegte Zins zu hoch gewesen sei, hat sie ausgeführt, dass dies nichts daran ändere, dass der Kläger die Änderungen nicht mitgeteilt habe. Zum Erlass einer vorläufigen Bewilligung habe bei gegebener Sachlage keine Veranlassung be-standen.

Die Beteiligten haben übereinstimmend ihr Einverständnis zu einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung gegeben.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte sowie die beigezogene Verwaltungsakte der Beklagten, Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Klage ist als reine Anfechtungsklage zulässig.

Die Kammer geht hierbei – trotz des Antrags des anwaltlich vertretenen Klägers, der auf die Aufhebung "des" Bescheides vom 20.12.2018 in der Gestalt des Widerspruchsbe-scheides vom 20.08.2019 gerichtet ist – davon aus, dass von der Klage beide Bescheide vom 20.12.2018, nämlich sowohl die Rücknahme- als auch die Rückforderungsentschei-dung erfasst sein sollen. Dies ergibt eine entsprechende Auslegung nach dem objektiven Empfängerhorizont unter Berücksichtigung der Gesamtumstände. Zunächst ist insoweit zu berücksichtigen, dass auch die Beklagte, ohne dies näher zu problematisieren, davon ausgegangen ist, schon der Widerspruch erfasse beide Bescheide. Der Widerspruchsbe-scheid entscheidet nämlich auch über beide. Dies perpetuiert unter Berücksichtigung einer am Gebot der Effektivität des Rechtsschutzes orientierten Auslegung (vgl. Bundesverfas-sungsgericht - BVerfG - Beschluss vom 03.03.2004 - 1 BvR 461/03= juris) auch im Klage-verfahren. Es kann dem Kläger nicht daran gelegen sein, nur den einen der beiden Be-scheide anzufechten und den anderen damit bestandskräftig und damit für die Beteiligten bindend (§ 77 SGG) – und im Zweifel auch vollstreckbar – werden zu lassen.

Die Klage ist auch begründet. Der Kläger ist in seinen Rechten gemäß § 54 Abs. 2 Satz 1 SGG verletzt, da die Bescheide rechtswidrig sind. Die Rücknahme ist nicht durch eine entsprechende Rechtsgrundlage gedeckt; der Rückforderung steht damit ein Rechtsgrund für das Behaltendürfen der Leistungen entgegen.

Durch den Bescheid vom 20.12.2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20.08.2019 wurde die mit Bescheid vom 13.06.2018 erfolgte Bewilligung von Kinderzu-schlag für den Zeitraum Juni bis Oktober 2018, mithin ein begünstigender Verwaltungsak-te im Sinne des § 45 Abs. 1 SGB X, im vollen Umfang für die Vergangenheit zurückge-nommen.

Die Aufhebung oder Rücknahme von begünstigenden Verwaltungsakten ist in § 45 bzw. § 48 SGB X geregelt.

Voraussetzung für die Aufhebung eines - ursprünglich rechtmäßigen - Verwaltungsaktes nach § 48 SGB X ist nach Abs. 1 Satz 1, dass eine wesentliche Änderung in den Verhält-nissen, die beim Erlass des Verwaltungsaktes vorgelegen haben, eingetreten ist. Das Vor-liegen der Voraussetzungen des Satz 1 ist - dies macht schon der Wortlaut der Norm deutlich - zwingende Voraussetzung für eine Anwendung des Satzes 2 (Aufhebung auch für die Vergangenheit). Demgegenüber darf ein - ursprünglich rechtswidriger - begünstig-ter Verwaltungsakt auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, nur unter den Ein-schränkungen des § 45 Absatz 2 bis 4 SGB X ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zu-kunft oder die Vergangenheit zurückgenommen werden. Erlässt die Verwaltung einen endgültigen Bescheid auf Grundlage eines nicht endgültig aufgeklärten Sachverhalts und stellt sich später - ggfs. nach weiteren Ermittlungen - heraus, dass der Bescheid bereits im Zeitpunkt des Erlasses objektiv rechtswidrig war, ist ein Fall des § 45 SGB X gegeben (BSG Urteil vom 21.06.2011 - B 4 AS 22/10 R; LSG Berlin-Brandenburg Urteil vom 15.11.2017 - L 18 AS 2067/16; LSG NRW Urteil vom 26.07.2018 – L 7 BK 11/16 = juris; so auch schon SG Aachen Urteil vom 31.05.2016 – S 11 BK 33/14).

Mit Bescheid vom 13.06.2018 wurde der Kinderzuschlag endgültig bewilligt, ohne von der Möglichkeit des damals noch geltenden § 11 Abs. 5 BKGG in der Fassung vom 26.07.2016 Gebrauch zu machen und vorläufig über die Leistungen zu entscheiden. Dies mag darin begründet gewesen sein, dass die Beklagte auf der Grundlage der bis dahin bekannten nachgewiesenen Einkünfte davon ausging, diese seien auf für den maßgebli-chen Bewilligungszeitraum gleichbleibend. Diese Annahme – und dies ist das Problem ei-ner prospektiven Betrachtung – kann sich aber jederzeit als falsch herausstellen. Dass die Beklagte vor diesem Hintergrund an einer entsprechenden vorläufigen Bewilligung gehin-dert gewesen wäre, vermag die Kammer jedenfalls nicht zu erkennen. Wäre sie so vorge-gangen, wäre die endgültige Festsetzung – mit der Folge einer dann rechtmäßigen Rück-forderung – nicht zu beanstanden gewesen. Dadurch, dass sie nicht diese Möglichkeit gewählt hat, ist die – dies hat die Beklagte auch zutreffend erkannt – auf die Anwendbar-keit des § 45 SGB X, mit den dieser Norm inhärenten Einschränkungen, angewiesen.

Nach § 45 Abs. 2 Satz 1 SGB X darf ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt nämlich nicht zurückgenommen werden, soweit der Begünstigte auf den Bestand des Verwaltungsaktes vertraut hat und sein Vertrauen unter Abwägung mit dem öffentlichen Interesse an einer Rücknahme schutzwürdig ist.

Das Vertrauen ist nach § 45 Abs. 2 Satz 2 SGB X in der Regel schutzwürdig, wenn der Begünstigte erbrachte Leistungen verbraucht oder eine Vermögensdisposition getroffen hat, die er nicht mehr oder nur unter unzumutbaren Nachteilen rückgängig machen kann. Allerdings kann sich der Begünstige nach § 45 Abs. 2 Satz 3 der Norm auf Vertrauen nicht berufen, soweit (1.) er den Verwaltungsakt durch arglistige Täuschung, Drohung oder Be-stechung erwirkt hat, (2.) der Verwaltungsakt auf Angaben beruht, die der Begünstigte vorsätzlich oder grob fahrlässig in wesentlicher Beziehung unrichtig oder unvollständig gemacht hat, oder (3.) er die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes kannte oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht kannte; grobe Fahrlässigkeit liegt vor, wenn der Begünstigte die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt hat.

Die Beklagte geht ausweislich der angefochtenen Bescheide davon aus, das Vertrauen des Klägers sei im vorliegenden Fall nicht schutzwürdig, da dieser "weder die Änderungen in den Sollzinsen und Gasabschlägen noch die Einkommensänderungen mitgeteilt" habe.

Soweit die Angaben zum Einkommen betroffen sind kann die Kammer diesen Einwand nicht nachvollziehen. Der Kläger hat bei der jeweiligen Antragstellung die Einkommen der Beklagten gemeldet, die ihm zu diesem Zeitpunkt bekannt waren bzw. nach denen die Be-klagte ausweislich des entsprechenden Antragsformulars bei der Antragstellung im April 2018 ausdrücklich gefragt hatte. Nach dem dort vorhandenen Hinweis, ist maßgeblich an-zugeben – sofern nicht ein Erstantrag gestellt wird – das Arbeitsentgelt der letzten sechs Monate. Die Kammer verkennt hierbei nicht, dass der Kläger sich im Grundantrag ver-pflichtet hat, Änderungen unaufgefordert unverzüglich mitzuteilen. Zu berücksichtigen ist aber, dass der hier noch streitige Zeitraum mit dem Juni 2018 beginnt. Zum Zeitpunkt des Erlasses des durch die Beklagten aufgehobenen Bescheides (13.06.2018) war auch dem Kläger das für diesen Monat maßgebliche Einkommen noch nicht zugeflossen. Es war ihm daher auch noch nicht letztendlich bekannt, weswegen ihn auch noch keine Verpflichtung treffen konnte, dieses der Beklagten mitzuteilen. Die Änderungen für die Monate April und Mai 2018, die der Kläger vor Erlass des Bescheides der Beklagten noch hätte mitteilen können, sind vorliegend für die Rücknahmeentscheidung nicht (mehr) von Relevanz. Da-rauf, dass die Kammer – unter Berücksichtigung der Informationen, die der Kläger aus den Antragsformularen entnehmen konnte und der zeitlichen Abläufe – insoweit weder Vorsatz noch eine Verletzung der insoweit erforderlichen Sorgfalt in besonders schwerem Maße als hinreichend nachgewiesen ansieht, kommt es mithin im Ergebnis nicht an.

Demgegenüber teilt die Kammer die Auffassung der Beklagten, dass das Nichtangeben der für die Zeit ab April 2018 herabgesetzten monatlichen Heizkosten (Gas) von 133,00 EUR auf 94,00 vor dem Hintergrund, dass zeitgleich die Steigerung der Wasserkosten von 43,00 EUR auf 49,00 EUR mitgeteilt wird, zumindest als grob fahrlässig zu bewerten ist. Die Formulare sind insoweit auch für den juristischen Laien aus sich heraus klar verständ-lich.

Hinsichtlich der Angaben zur Zinshöhe ist nach Auffassung der Kammer Folgendes zu be-rücksichtigen. Der Kläger hat schon bei seiner Antragstellung im Oktober 2017 insoweit offenbar im Ergebnis unzutreffende Angaben gemacht. Er hat ausgeführt, die Schuldzin-sen – ohne Tilgungsraten – beliefen sich auf 86,00 EUR. Dem Antrag beigefügt war ein Kontoauszug der B., wonach monatlich 86,00 EUR auf dieses Konto eingezahlt wurden. Ebenfalls seinerzeit beigefügt war ein Kontoauszug der J. über ein Darlehen, aus dem sich ein stetig abnehmender monatlicher Zinsbetrag für das Jahr 2016 ergab.

Die Beklagte stellt schon im Bescheid betreffend die Bewilligung ab November 2017 nicht auf den vom Kläger genannten Wert von 86,00 EUR ab, sondern berücksichtigte einen monatlichen Zinsbetrag von 106,78 EUR. Dies war offensichtlich der letzte der Beklagten bekannte Wert für die Zinszahlung im Dezember 2016 auf das Darlehen bei der J. Von diesem Wert ging die Beklagte – obwohl nach Auffassung der Kammer evident war, dass dieser Wert keinesfalls mehr der tatsächlichen Zinshöhe entsprechen konnte – auch für die hier streitige Zeit ab Juni 2018 aus. Zu keinem Zeitpunkt war für den Kläger hierbei er-kennbar, welchen – offensichtlich falschen – Wert die Beklagte bei ihren Berechnungen zugrunde gelegt hat. Die Beklagte selbst hat den Kläger erst mit Schreiben vom 18.10.2018 aufgefordert, den Tilgungsplan für 2017 und 2018 vorzulegen. Dem ist der Kläger am 13.11.2018 nachgekommen. Einen Nachweis, dass dies – wie der Kläger be-hauptet – bereits im Dezember 2017 geschehen wäre, konnte die Kammer nicht erken-nen. Hierauf kommt es aber auch nicht an. Vor dem Hintergrund, dass der Kläger schon beim ersten Antrag 2017 offenbar die Frage nach der Höhe der Zinsen falsch verstanden hatte – ansonsten erklärt sich nicht, wieso er eine Höhe von 86,00 EUR benannt hatte – er über diesen Fehler aber nicht belehrt worden ist, sondern die Beklagten einen anderen – freilich ebenso falschen – Wert zugrunde gelegt hat, ist beim Kläger auch hinsichtlich der Frage der Höhe der Zinsen weder Vorsatz noch grobe Fahrlässigkeit anzunehmen. Ggf. war die Angabe des Klägers, es hätte sich an den Zinsen nichts geändert, aus seiner Sicht sogar zutreffend, wenn er weiterhin den Bausparvertrag in dieser Höhe bedient hat.

Davon, dass der Kläger die Rechtswidrigkeit des zurückgenommenen Bewilligungsbe-scheides gekannt oder aber in Folge grober Fahrlässigkeit nicht gekannt hätte, geht – schon vor dem Hintergrund der komplexen, für den Bürger kaum verständlichen Regelung – auch die Beklagte zu Recht nicht aus.

Es ist auf tatbestandlicher Ebene nun zu prüfen, ob der zurückgenommene Verwaltungs-akt auf Angaben "beruht", die der Begünstigte vorsätzlich oder grob fahrlässig in wesentli-cher Beziehung unrichtig oder unvollständig gemacht hat. Wie bereits dargelegt kommt hier nur die Frage der geringeren Heizkosten in Betracht. Unter Berücksichtigung monat-lich um 39,00 EUR geringerer Heizkosten, wäre – ceteris paribus – die Bemessungsgren-ze in Höhe von 55,41% dieser Summe (21,61 EUR) geringer, mit der Folge, dass das die-se Grenze überschießende Erwerbseinkommen des Klägers den möglichen Kinderzu-schlag stärker verringert hätte. Allerdings war es der Kammer auch nicht möglich, eine zumindest insoweit bestehende Rechtmäßigkeit des entsprechenden Rücknahmebeschei-des festzustellen.

Auf der Rechtsfolgenseite hat die Beklagte nämlich das ihr nach § 45 SGB X zustehende Ermessen nicht hinreichend ersichtlich ausgeübt. Bei Vorliegen der tatbestandlichen Vo-raussetzungen "darf" die Behörde, so der ausdrückliche Wortlaut der Norm, den Verwal-tungsakt ganz oder teilweise zurücknehmen. Der Behörde ist damit ein Ermessen hinsicht-lich der Rücknahme eingeräumt (so die zu Recht herrschende Ansicht, vgl. dazu etwa Schütze, in: von Wulffen, SGB X, 8. Aufl. 2014, § 45 Rn. 88; Padé in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB X, 2. Aufl. (Stand: 08.06.2020, § 45 SGB X Rn. 125 ff.; Bundessozialgericht -BSG - Urteil vom 15.02.1990 - 7 Rar 28/88 = juris; Landessozialgericht -LSG - Baden-Württemberg Urteil vom 16.02.2012 - L 10 R 2006/10 = juris; Hessisches LSG Urteil vom 30.10.2013 - L 4 KA 65/11 = juris; Bundesverwaltungsgericht - BVerwG - Urteil vom 14.03.2013 - 5 C 10/12 = juris; vgl. allgemein zum Ermessen und Ermessensfehlern, Dörr/Francke, Sozialverwaltungsrecht, 2. Aufl. 2006, Kap. 3 II).

Dass die Behörde im vorliegenden Fall erkannt hat, dass ihr ein solches Ermessen einge-räumt war, lässt eine Auslegung der angefochtenen Bescheide nach dem objektiven Emp-fängerhorizont, nicht erkennen. Eine Ermessensreduzierung "auf Null" ist nach Auffassung der Kammer nicht ersichtlich. Die bloße Tatsache, dass kein Vertrauensschutz nach § 45 Abs. 2 Satz 2 SGB X besteht führt jedenfalls nicht zu einer solchen Ermessensreduzie-rung. Eine Heilung nach § 41 Abs. 2 SGB X – die ohnehin im Verfahren nicht zu erkennen gewesen ist – käme ohnehin auch dem Grundsatz nach nicht Betracht, da kein Fehler in der Ermessensbegründung, sondern ein Mangel in der Ermessensbetätigung vorliegt (vgl. dazu Schütze, in: von Wulffen, SGB X, 7. Aufl. 2010, § 41 Rn. 11). Die Beklagte hat im Ergebnis lediglich die tatbestandlichen Voraussetzungen dargelegt, aufgrund derer über-haupt dem Grunde nach eine rückwirkende Rücknahme in Betracht gekommen wäre. Nach Auffassung der Kammer gebietet § 45 SGB X aber auch in diesen Fällen die Aus-übung von Ermessen dahingehend, ob - und aus welchen Gründen - die Beklagte von der Möglichkeit der Rücknahme auch Gebrauch machen will. Dass die Beklagte überhaupt er-kannt hat, dass sie diese Erwägungen anzustellen hat, ist vorliegend aber gerade nicht erkennbar. Die Behörde ist vielmehr davon ausgegangen, dass die Bewilligung bei Vorlie-gen der tatbestandlichen Voraussetzungen aufzuheben ist. Jedenfalls lässt der Bescheid nach dem objektiven Empfängerhorizont nach Auffassung der Kammer keine andere Deu-tung zu. Die im Recht der Grundsicherung verankerte Regelung der §§ 40 Abs. 2 Nr. 3 SGB II, 330 Abs. 2 SGB III ist für die Aufhebung der Bewilligung von Kinderzuschlag –mangels entsprechender Verweisungsnorm – nicht anwendbar. Man mag sich zwar die Frage stellen, ob der Normzweck des § 330 SGB III, nämlich die Tatsache, dass die Agenturen für Arbeit - anders als andere Sozialversicherungsträger - Leistungen zumeist kurzfristig zu erbringen und vielfach ebenso kurzfristig wieder zu beenden haben, so dass Überzahlungen praktisch nicht zu vermeiden sind (BT-Drucks. 12/5502 S. 37 zur Vorgän-gerregelung des § 152 AFG), neben dem SGB II nicht auch für den Bereich des §6a BKGG Geltung beanspruchen sollte. Eine entsprechende Regelung ist jedoch trotz zwi-schenzeitlicher Änderungen des § 6a BKGG – auch in Ansehung der bereits bestehenden Verweisung im SGB II nicht erfolgt, so dass - insbesondere angesichts der erwähnten ge-setzlichen Anordnung der Geltung von § 41a SGB II ab 01.08.2016 durch § 11 Abs. 5 BKGG - nicht von einer unbewussten Regelungslücke, die im Wege der entsprechenden Anwendung von § 330 Abs. 2 SGB III im Recht des Kinderzuschlags geschlossen werden muss, ausgegangen werden kann. Der Gesetzgeber hat vielmehr bewusst den Kinderzu-schlag als Teil des BKGG ausgestaltet und diesen (nur) den verfahrensrechtlichen Rege-lungen des BKGG unterworfen (so auch LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 26.07.2018 – L 7 BK 11/16 = juris Rn. 32), soweit dieses keine ausdrückliche Verweisung in andere Bücher enthält.

Nach alledem war der Rücknahmebescheid mithin rechtswidrig und daher aufzuheben.

Die auf diesen Bescheid nach § 50Abs. 1 Satz 1 SGB X gestützte Rückforderung der Leistungen war damit ebenfalls aufzuheben.

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 SGG.

Rechtsmittelbelehrung:

Dieses Urteil kann mit der Berufung angefochten werden.

Die Berufung ist innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils beim

Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen, Zweigertstraße 54, 45130 Essen

schriftlich oder mündlich zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle einzu-legen.

Die Berufungsfrist ist auch gewahrt, wenn die Berufung innerhalb der Frist bei dem

Sozialgericht Aachen, Adalbertsteinweg 92, 52070 Aachen

schriftlich oder mündlich zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle einge-legt wird.

Die Berufungsschrift muss bis zum Ablauf der Frist bei einem der vorgenannten Gerichte eingegangen sein. Sie soll das angefochtene Urteil bezeichnen, einen bestimmten Antrag enthalten und die zur Begründung dienenden Tatsachen und Beweismittel angeben.

Die elektronische Form wird durch Übermittlung eines elektronischen Dokuments gewahrt, das für die Bearbeitung durch das Gericht geeignet ist und

- von der verantwortenden Person qualifiziert elektronisch signiert ist und über das Elekt-ronische Gerichts- und Verwaltungspostfach (EGVP) eingereicht wird oder

- von der verantwortenden Person signiert und auf einem sicheren Übermittlungsweg gem. § 65a Abs. 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG) eingereicht wird.

Weitere Voraussetzungen, insbesondere zu den zugelassenen Dateiformaten und zur qualifizierten elektronischen Signatur, ergeben sich aus der Verordnung über die techni-schen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (Elektronischer-Rechtsverkehr-Verordnung - ERVV) in der jeweils gültigen Fassung. Über das Justizportal des Bundes und der Länder (www.justiz.de) können nähere Informationen abgerufen werden.

Zusätzlich wird darauf hingewiesen, dass einem Beteiligten auf seinen Antrag für das Ver-fahren vor dem Landessozialgericht unter bestimmten Voraussetzungen Prozesskostenhil-fe bewilligt werden kann.

Gegen das Urteil steht den Beteiligten die Revision zum Bundessozialgericht unter Über-gehung der Berufungsinstanz zu, wenn der Gegner schriftlich zustimmt und wenn sie von dem Sozialgericht auf Antrag durch Beschluss zugelassen wird. Der Antrag auf Zulassung der Revision ist innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils bei dem Sozialgericht Aachen schriftlich zu stellen. Die Zustimmung des Gegners ist dem Antrag beizufügen.

Lehnt das Sozialgericht den Antrag auf Zulassung der Revision durch Beschluss ab, so beginnt mit der Zustellung dieser Entscheidung der Lauf der Berufungsfrist von neuem, sofern der Antrag auf Zulassung der Revision in der gesetzlichen Form und Frist gestellt und die Zustimmungserklärung des Gegners beigefügt war.

Die Einlegung der Revision und die Zustimmung des Gegners gelten als Verzicht auf die Berufung, wenn das Sozialgericht die Revision zugelassen hat.
Rechtskraft
Aus
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