S 12 VG 3/18

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Aachen (NRW)
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
12
1. Instanz
SG Aachen (NRW)
Aktenzeichen
S 12 VG 3/18
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Klage wird abgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Die am 00.00.0000 geborene Klägerin stellte am 00.00.0000 einen Antrag auf Leistungen nach dem OEG. Hierbei machte sie geltend, Opfer verschiedenster Gewalttaten durch ihre Mutter, ihren Onkel und durch einen Mitschüler sowie darüber hinaus sexueller Übergriffe durch ihren Vater und einer Vergewaltigung geworden zu sein.

Die Klägerin legte diverse, insbesondere psychiatrische und psychotherapeutische, Behandlungs- und Arztberichte vor. Der Versuch des Beklagten, Jugendamtsakten beizuziehen blieb erfolglos, da entsprechende Akten nicht mehr vorlagen. Der Beklagte zog ein Urteil des Amtsgerichts B. vom 00.00.1986 bei, in dem der Vater der Klägerin wegen sexuellen Missbrauchs eine Schutzbefohlenen zu einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten auf Bewährung verurteilt worden war. Das Amtsgericht ging dabei, aufgrund eines Geständnisses des Täters davon aus, dass dieser am 00.00.0000 in der Wohnung seiner geschiedenen Ehefrau – nachdem diese den Geschlechtsverkehr mit ihm abgelehnt hatte – vor den Augen den der damals sechsjährigen Klägerin sein Geschlechtsteil entblößte und sich vor ihr selbst befriedigte.

Mit Bescheid vom 09.05.2016 lehnte der Beklagte den Antrag ab, da das Vorliegen einer Gewalttat im Sinne des § 1 OEG nicht nachgewiesen sei.

Hiergegen legte die Klägerin, vertreten durch ihre Prozessbevollmächtigte, am 03.06.2016 Widerspruch ein, den sie zunächst damit begründete, die vom Amtsgericht B. abgeurteilte Straftat sei unter Berücksichtigung der Rechtsprechung, die im Bereich des sexuellen Missbrauchs von Kindern auch gewaltlose Taten erfasse, geeignet, einen Anspruch nach § 1 OEG zu begründen. Daneben liege – soweit Kinder Opfer körperlicher Gewalt würden, die die Erheblichkeitsschwelle überschreiten – eine Körperverletzung im Sinne des § 223 Strafgesetzbuche (StGB) vor, weswegen auch insoweit in tätlicher An-griff vorliege. Im Rahmen des Widerspruchsverfahrens gab der Beklagte der Klägerin Gelegenheit, die von ihr behaupteten Gewalttaten näher zu spezifizieren.

Hierzu führte die Klägerin aus: "Mein Vater hat mich im Alter von sechs Jahren im Jahr 1985 während eines Besuches in Abwesenheit meiner Mutter, eingeladen – wie er es nannte – "ein Spiel" zu spielen. Dabei sollte ich mich neben ihn setzen, meine Füße auf den Tisch stellen und mich unterhalb des Bauchnabels entkleiden. Er entkleidete sich ebenfalls, nahm meine Hand, umfasste damit sein Glied und befriedigte sich. Parallel dazu steckte er mit seiner anderen Hand einen Finger in meiner Scheide. Bei einem weiteren Besuch – etwas später – folgte ein erneutes "Spiel", wobei er meinen Kopf fest an den Haaren packte und ich ihn bei geöffneter Hose oral befriedigen musste. Dabei ejakulierte er in meinen Mund. Diese Vorfälle ereigneten sich beide in den häuslichen Räumlichkeiten meiner Mutter unter der damaligen Adresse T in B."

Hinsichtlich der behaupteten körperlichen Gewalt durch einen Mitschüler gab die Klägerin an:

"Die Übergriffe erfolgten durch Schläge und Tritte durch den Mitschüler Q auf dem Schulhof der Grundschule E in den Jahren 1987 und 1988"

Zu der behaupteten Vergewaltigung erklärte die Klägerin:

"Die Tat ereignete sich im August 1994 in E. Ich traf S in einer Disco und er lud mich ein, bei ihm im elterlichen Haus zu nächtigen, da seine Eltern nicht da wären. Als wir ankamen zeigte er mir ein Zimmer, wo ich schlafen könnte. In dem Haus machte er Annäherungsversuche und versuchte, mich zu küssen. Ich lehnte ab und bat darum schlafen gehen zu können. Er verließ darauf das Zimmer und ich entkleidete mich bis auf BH und Unterhose und legte mich zu Bett. Mitten in der Nacht wurde ich wach und merkte wie, er sich auf mich legte und versuchte meinen BH zu öffnen. Ich versuchte mich zu wehren und dabei riss der Träger meines BH’s. Er kämpfte mit mir und versuchte weiterhin mich zu entkleiden; dabei zerriss die Unterhose. Als ich völlig nackt war vollzog er den Akt mit mir. Direkt nach der Tat erstattete ich in der Polizeidienststelle in E. Anzeige.

Die Klägerin machte darüber hinaus weitere Ausführungen zu der behaupteten Gewalt durch ihre Mutter. Hierzu führte sie aus:

"Die Schläge begannen recht früh – noch vor meiner Einschulung 1984 – und hielten bis zu meinem 18. Lebensjahr an. Meine Mutter schlug mich mehrfach mit einem Ledergürtel, welchen sie dabei doppelt legte. Ich musste mich dabei mit entblößtem Hintern auf einen Stuhl legen und die Schläge mitzählen. Wenn ich nichts still hielt, schlug sie mit allem zu, was in Griffweite war. Mal schlug sie mich spontan mit der bloßen Hand und mal mit einem Holzkleiderbügel. Die Schläge waren willkürlich und nicht auf ein Fehlverhalten von mir zurückzuführen. Sie standen auch in keinem erzieherischen Aspekt zueinander. Sie kamen unerwartet und unvorhersehbar. So wurde ich auch nachts aus dem Schlaf gerissen und verprügelt. Im Jahr 1990 versuchte meine Mutter mich im Spülbecken zu ertränken, in dem sie mich unter Wasser drückte.

Schließlich führte sie zu behaupteten Gewalttaten durch ihren Onkel aus:

"Mein Onkel mütterlicherseits wohnte während der 90er Jahre bei meiner Oma in der I-Straße in B. Übergriffsorte waren jeweils I-Straße und die T-Straße in B. Er schlug dort meine Mutter sowie mich mit der Faust blutig. Ein spezielles Datum kann ich nicht nennen, da die Angriffe keiner Regelmäßigkeit unterlagen. Sie waren stets aus Jähzorn erfolgt. Ich kann mich nur an eine Begebenheit sicher erinnern, es war der 00.00.1989 – am Geburtstag meines Onkels – wo meine Mutter und ich ihn bei meiner Oma besuchten. Dort hat ihm sein Geburtstagsgeschenk nicht gefallen er schlug daraufhin auf meine Mutter ein. Als ich mich schützend vor sich stellte, packte er mich an den Haaren, schliff mich daran durch die Wohnung und trat mit dabei mehrmals in den Bauch und schlug mich wiederholt mit der Faust. Eine Zeugin für diesen Vorfall wäre meine Oma gewesen, doch sie ist bereits verstorben."

Die Klägerin reichte des Weiteren schriftliche Stellungnahmen des Herrn N.N., der Frau F. N., der Zeugin Q. (Mutter der Klägerin), des Herrn N. X. des Herrn P. T. zu den Akten.

Der Beklagte ermittelte sodann weiter durch Einholung eines aussagepsychologischen Gutachtens durch Frau Diplom-Psychologin X.

Mit Widerspruchsbescheid vom 27.12.2017 wies die Beklagte den Widerspruch der Klägerin als unbegründet zurück.

Am 26.01.2018 hat die Klägerin, vertreten durch ihre Prozessbevollmächtigte, Klage erhoben. Im Rahmen der Klage hat sie erneut vorgetragen, ihr Vater habe sie am 00.00.1985 in der elterlichen Wohnung dadurch sexuell missbraucht, dass er vor ihr seinen Penis entblößte und sich vor ihr selbst befriedigte. Darüber hinaus sei sie in der Jahren 1987 bis 1988 Opfer von Übergriffen in Form von Schlägen und Tritten durch einen damaligen Mitschüler auf dem Schulhof der Grundschule E. geworden. Auch habe der Onkel der Klägerin mütterlicherseits diese mehrfach tätlich angegriffen und zwar konkret an seinem Geburtstag am 00.00.1989. Damals habe ihm ein Geburtstagsgeschenk nicht gefallen und er habe ihre Mutter geschlagen. Um diese zu schützen habe sich die Klägerin vor ihre Mutter gestellt, woraufhin ihr Onkel sie an den Haaren durch die Wohnung geschleift und sie mehrfach mit der Faust – auch in den Bauch – geschlagen habe. Auch ihre Mutter sei über einen längeren Zeitraum, nämlich von 1981 bis 1995, körperlich gewalttätig ihr gegenüber gewesen. Sie sei deshalb auch 1993 für einen längeren Zeitraum im Heim gewesen. Auch 1992 bis 1995 habe die Klägerin aufgrund der gewalttätigen Situation im Elternhaus immer wieder Hilfe bei Polizei, Jugendamt und Kinderschutzbund gesucht. Herr X. habe schriftlich im Verwaltungsverfahren bekundet, dass die Klägerin im Mai oder Juni 1993 vollkommen aufgelöst zu ihm nach Hause gekommen sei und über eine Auseinandersetzung mit ihrer Mutter berichtet habe, bei der sie brutal von ihrer Mutter geschlagen worden sei. Im August 1994 sei sie durch Herrn S. sexuell missbraucht worden. Diese zahlreichen Gewalterfahrungen hätten bei ihr eine posttraumatische Belastungsstörung hervorgerufen. Im Übrigen leide sie an einer Borderline-Störung. Die Klägerin hat weiter ausgeführt, sie habe auch Tagebuch geführt. Soweit dem Gericht ein Tagebuch bekannt sei, handele es sich allerdings um eins, welches sie letztlich nur für ihre Mutter geschrieben habe, weil sie gewusst habe, dass diese das Tagebuch lese. Sie habe aber im Anschluss an dieses Tagebuch ein zweites geschrieben, welches dem Zugriff der Mutter entzogen gewesen sei. Aus diesem ergebe sich das Leid, welches sie erfahren habe. Dieses Tagebuch sei ihr vom Zeugen I., ihrem Ex-Partner, entwendet worden. Der Zeuge habe das Tagebuch, welches die Jahre 1992/93 bis 1996 erfasse, als Druckmittel benutzt, um von ihrer Mutter Geld für eine kaputte Couch zu bekommen. Zwar habe ihre Mutter das Geld gezahlt, er habe gleichwohl das Tagebuch nicht zurückgegeben, mit der Begründung, dass es ihm für spätere Belange nützlich sein könnte.

Die Klägerin hat schriftsätzlich beantragt,

den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 09.05.2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27.12.2017 zu verurteilen, ihr ab dem 01.12.2015 Beschädigtenversorgung nach dem OEG i.V.m. BVG zu bewilligen und einen GdS von wenigstens 25 anzuerkennen.

Der Beklagte hat schriftsätzlich beantragt,

die Klage abzuweisen.

Zur Begründung hat er darauf verwiesen, dass die von der Klägerin geschilderten Taten, mit Ausnahme der abgeurteilten Tat, die aber nicht den Tatbestand einer Gewalttat erfülle, nicht hinreichend nachgewiesen seien.

Die Kammer hat am 13.11.2018, am 24.09.2019 und am 04.02.2020 Erörterungstermine durchgeführt, in denen der Sach- und Streitstand mit den Beteiligten erörtert worden ist sowie darüber hinaus die Zeugen Q. und I. vernommen worden sind. Im Rahmen des Termins vom 24.09.2019 hat die Zeugin Q. ein Tagebuch der Klägerin vorgelegt. Dieses ist in Augenschein genommen und der Klägerin dann noch im Termin ausgehändigt worden. Am 25.09.2019 hat die Klägerin es sodann dem Gericht erneut zur Verfügung gestellt. Den Beteiligten ist Gelegenheit gegeben worden, zu den Terminen und den Zeugenaussagen Stellung zu nehmen. Der Vater der Klägerin hat erklärt, von seinem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch zu machen. Die Kammer hat des Weiteren bei der ehemaligen Schule der Klägerin, dem M Gymnasium in B, Ermittlungen im Hinblick auf Fehlzeiten und schulische Leistungen angestellt.

Der Beklagte sowie die Prozessbevollmächtigte der Klägerin haben übereinstimmend am 27.10.2020 schriftlich erklärt, mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden zu sein.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie der beigezogenen Verwaltungsakte des Beklagten Bezug genommen. der der Entscheidung der Kammer zugrunde liegt.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Klage ist unbegründet. Die Klägerin wird durch die angefochtenen Be-scheide nicht gemäß § 54 Abs. 2 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) in ihren Rechten verletzt, da diese rechtmäßig sind. Sie hat keinen Anspruch auf Versorgung nach dem OEG (Gesetz über die Entschädigung für Opfer von Gewalttaten – OEG) in Verbindung mit dem Gesetz über die Versorgung der Opfer des Krieges (Bundesversorgungsgesetz - BVG), da zur Überzeugung der Kammer die allgemeinen Tatbestandsmerkmale des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG nicht hinreichend nachgewiesen sind.

Nach § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG erhält eine Person, die im Geltungsbereich dieses Gesetzes infolge eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs gegen seine oder eine andere Person oder durch dessen rechtmäßige Abwehr eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des BVG. Voraussetzung für die Annahme des Tatbestands sind damit das Vorliegen eines "vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs", das Vorliegen einer Schädigung sowie das Bestehen von Schädigungsfolgen, wobei die einzelnen Elemente durch einen Ursachenzusammenhang miteinander verbunden sind.

Bei der Auslegung des Rechtsbegriffs "vorsätzlicher, rechtswidriger tätlicher Angriff" im Sinne des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG ist entscheidend auf die Rechtsfeindlichkeit, vor allem verstanden als Feindlichkeit gegen das Strafgesetz, abzustellen (BSG Urteil vom 17.04.2013 – B 9 V 1/12 R = juris Rn. 27; BSG Urteil vom 07.04.2011 – B 9 VG 2/010 R = juris Rn. 32; vgl. auch Bischofs, SGb 2010, 693 f.), wobei je nach Fallkonstellation in der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts unterschiedliche Schwerpunkte gesetzt und verschiedene Gesichtspunkte hervorgehoben werden. Leitlinie dieser höchstrichterlichen Rechtsprechung ist hierbei aber stets der sich aus dem Sinn und Zweck des OEG ergebende Gedanke des Opferschutzes. Grundsätzlich bestimmt sich Vorliegen eines tätlichen Angriffs aus der Sicht eines objektiven, vernünftigen Dritten und liegt im Allgemeinen vor, wenn eine in feindseliger bzw. rechtsfeindlicher Willensrichtung unmittelbar auf den Körper eines anderen zielende gewaltsame Einwirkung gegeben ist, wobei die Angriffshandlung in aller Regel den Tat-bestand einer - jedenfalls versuchten - vorsätzlichen Straftat gegen das Leben oder die körperliche Unversehrtheit erfüllt (BSG Urteil vom 17.04.2013 – B 9 V 1/12 R = juris Rn. 27 unter Hinweis auf BSG Urteil vom 29.4.2010 - B 9 VG 1/09 R = juris Rn. 25). Abweichend von dem im Strafrecht umstrittenen Gewaltbegriff im Sinne des § 240 Strafgesetzbuch (StGB) zeichnet sich der tätliche Angriff im Sinne des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG durch eine körperliche Gewaltanwendung (Tätlichkeit) gegen eine Person aus, wirkt also kör-perlich (physisch) auf einen anderen ein (BSG Urteil vom 17.04.2013 – B 9 V 1/12 R = juris Rn. 27; BSG Urteil vom 7.4.2011 - B 9 VG 2/10 R = juris Rn. 36).

Das Vorliegen eines solchen vorsätzlichen rechtswidrigen tätlichen Angriffs steht zur Überzeugung der Kammer vorliegend nicht mit der hinreichenden Gewissheit fest.

Hinsichtlich der entscheidungserheblichen Tatsachen kennt das soziale Entschädigungsrecht, also auch das OEG, drei Beweismaßstäbe. Grundsätzlich bedürfen die drei Elemente des Tatbestandes (schädigender Vorgang, Schädigung und Schädigungsfol-gen) des Vollbeweises (vgl. BSG Beschluss vom 12.05.2016 – B 9 V 11/16 B = juris Rn. 9; Rademacker, in: Knickrehm, Gesamtes Soziales Entschädigungsrecht, 2012, § 1 OEG Rn 169 m.w.N.). Für die Kausalität selbst hingegen genügt gemäß § 1 Abs. 3 BVG die Wahrscheinlichkeit.

Für den Vollbeweis muss sich das Gericht die volle Überzeugung vom Vorhandensein oder Nichtvorhandensein einer Tatsache verschaffen. Allerdings verlangt auch der Vollbeweis keine absolute Gewissheit, sondern lässt eine an Gewissheit grenzende Wahrscheinlichkeit ausreichen. Denn ein darüber hinausgehender Grad an Gewissheit ist so gut wie nie zu erlangen (vgl. Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 13. Aufl. 2020, § 128 Rn. 3b m.w.N.; Kühl, in: Fichte/Jüttner, SGG. 3. Aufl. 2020, § 103 Rn. 4 m.w.N.). Daraus folgt, dass auch dem Vollbeweis gewisse Zweifel innewohnen können, verbleibende Restzweifel mit anderen Worten bei der Überzeugungsbildung unschädlich sind, solange sie sich nicht zu gewichtigen Zweifeln verdichten (BSG Urteil vom 24.11.2010 - B 11 AL 35/09 R = juris Rn. 21). Eine Tatsache ist bewiesen, wenn sie in so hohem Grade wahrscheinlich ist, dass alle Umstände des Falles nach vernünftiger Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens und nach der allgemeinen Lebenserfahrung geeignet sind, die volle richterliche Überzeugung zu begründen (vgl. Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 13. Aufl. 2020, § 128 Rn. 3b m.w.N.).

Der Beweisgrad der Wahrscheinlichkeit im Sinne des § 1 Abs. 3 Satz 1 BVG ist dann gegeben, wenn nach der geltenden wissenschaftlichen Lehrmeinung mehr für als gegen einen ursächlichen Zusammenhang spricht (vgl. BSG Beschluss vom 8.8.2001 - B 9 V 23/01 B = juris; vgl. auch Teil C 3.4.1 der Anlage zu § 2 der Versorgungsmedizin-Verordnung – VersMedV - vom 10.12.2008 (BGBl. I S. 2412), zuletzt geändert durch Arti-kel 27 des Gesetzes vom 12.12.2019 (BGBl. I S. 2652) – Versorgungsmedizinischen Grundsätze). Diese Definition ist der Fragestellung nach dem wesentlichen ursächlichen Zusammenhang angepasst, die nur entweder mit ja oder mit nein beantwortet werden kann. Es muss sich unter Würdigung des Beweisergebnisses ein solcher Grad von Wahrscheinlichkeit ergeben, dass ernste Zweifel hinsichtlich einer anderen Möglichkeit ausscheiden. Für die Wahrscheinlichkeit ist ein "deutliches" Übergewicht für eine der Möglichkeiten erforderlich. Sie entfällt, wenn eine andere Möglichkeit ebenfalls ernstlich in Betracht kommt.

Darüber hinaus ist zu beweisrechtlich zu beachten, dass nach Maßgabe des § 15 Satz 1 des Gesetzes über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung (KOVVfG), der gemäß § 6 Abs. 3 OEG anzuwenden ist, bei der Entscheidung die Angaben des Antragstellers, die sich auf die mit der Schädigung (also insbesondere auch mit dem tätlichen Angriff) im Zusammenhang stehenden Tatsachen beziehen, zugrundezulegen sind, wenn sie nach den Umständen des Falles glaubhaft erscheinen. Bei dem "Glaubhafterscheinen" im Sinne des § 15 Satz 1 KOVVfG handelt es sich um den dritten, mildesten Beweismaßstab des Sozialrechts. Glaubhaftmachung bedeutet das Dartun einer überwiegenden Wahrscheinlichkeit (vgl. Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 13. Aufl. 2020, § 128 Rn. 3d m.w.N.), d.h. der guten Möglichkeit, dass sich der Vorgang so zugetragen hat, wobei durchaus gewisse Zweifel bestehen bleiben können (vgl. BSG Beschluss vom 8.8.2001 - B 9 V 23/01 B = juris). Dieser Beweismaßstab ist durch seine Relativität gekennzeichnet. Es muss nicht, wie bei der Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhanges, absolut mehr für als gegen die glaubhaft zu machende Tatsache sprechen. Es reicht die gute Möglichkeit aus, d.h. es genügt, wenn bei mehreren ernstlich in Betracht zu ziehenden Möglichkeiten das Vorliegen einer davon relativ am wahrscheinlichsten ist (vgl. Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 13. Aufl. 2020, § 128 Rn. 3d m.w.N.), weil nach Gesamtwürdigung aller Umstände besonders viel für diese Möglichkeit spricht. Von mehreren ernstlich in Betracht zu ziehenden Sachverhaltsvarianten muss einer den übrigen gegenüber ein gewisses (kein deutliches) Übergewicht zukommen. Wie bei den beiden anderen Beweismaßstäben reicht die bloße Möglichkeit einer Tatsache nicht aus, um die Beweisanforderungen zu erfüllen. Das Gericht ist allerdings im Einzelfall grundsätzlich darin frei, ob es die Beweisanforderungen als erfüllt ansieht (Freiheit der richterlichen Beweiswürdigung, § 128 Abs. 1 Satz 1 SGG; vgl. BSG Beschluss vom 8.8.2001 - B 9 V 23/01 B = juris).

Voraussetzung für die Anwendung dieses Maßstabs ist freilich, dass im Hinblick auf die Angaben der Antragstellerin oder des Antragstellers Unterlagen nicht vorhanden oder nicht zu beschaffen oder ohne Verschulden des Antragstellers oder seiner Hinterbliebenen verlorengegangen sind. Dabei ist nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgericht, die sich die Kammer nach eigener Prüfung ebenfalls zu eigen gemacht hat, die Beweiserleichterung des § 15 S 1 KOVVfG ist auch dann anwendbar, wenn für den schädigenden Vorgang keine Zeugen vorhanden sind (vgl grundlegend BSG Urteil vom 31.5.1989 - 9 RVg 3/89 = juris; BSG Urteil vom 17.4.2013 - B 9 V 1/12 R = juris Rn. 41; BSG Urteil vom 17.04.2013 – B 9 V 3/12 R = juris Rn. 39; BSG Urteil vom 15.12.2016 – B 9 V 3/15 R = juris Rn. 30). Nach dem Sinn und Zweck des § 15 S 1 KOVVfG sind damit nur Tatzeugen gemeint, die zu den zu beweisenden Tatsachen aus eigener Wahrnehmung Angaben machen können. Personen, die von ihrem gesetzlichen Zeugnisverwei-gerungsrecht (vgl §§ 383 ff ZPO) Gebrauch gemacht haben, sind dabei nicht als Zeugen anzusehen. Entsprechendes gilt für eine als Täter in Betracht kommende Person, die eine schädigende Handlung bestreitet. Denn die Beweisnot des Opfers, auf die sich § 15 S 1 KOVVfG bezieht, ist in diesem Fall nicht geringer, als wenn der Täter unerkannt geblieben oder flüchtig ist. Die Beweiserleichterung des § 15 S 1 KOVVfG gelangt damit auch zur Anwendung, wenn sich die Aussagen des Opfers und des vermeintlichen Täters gegenüberstehen und Tatzeugen nicht vorhanden sind (vgl bereits BSG Beschluss vom 28.7.1999 - B 9 VG 6/99 B = juris Rn. 6; BSG Urteil vom 17.4.2013 - B 9 V 1/12 R = juris Rn. 41; BSG Urteil vom 17.04.2013 – B 9 V 3/12 R = juris Rn. 39; BSG Urteil vom 15.12.2016 – B 9 V 3/15 R = juris Rn. 30). Voraussetzung für die Anwendung dieses geringsten Beweismaßstabs ist allerdings unter Berücksichtigung des Telos der Norm, dass die Beweisnot in der sich die Antragstellerin oder der Antragsteller befindet, unverschuldet ist.

Im vorliegenden Fall werden von der Klägerin mehrere Tatkomplexe behauptet, nämlich sexuellen Missbrauch durch ihren Vater (dazu unter I.), die von ihrer Mutter gegen sie ausgeübte Gewalt (hierzu unter II.), die von ihrem Onkel gegen sie verübte Gewalt (hierzu unter III.), Gewalt durch einen Mitschüler (dazu unter IV.) und schließlich eine Vergewaltigung (dazu unter V.).

Die Kammer ist nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme davon überzeugt, dass die Klägerin durchaus sowohl Opfer von sexuellem Missbrauch durch ihren Vater – in Form der durch das Amtsgericht B. abgeurteilten Straftat – als auch von körperlichen Züchtigungen durch ihre Mutter geworden ist. Ersteres erfüllte indes nicht die Voraussetzungen für die Annahme einer Gewalttat im Sinne des § 1 OEG, letzteres war jeweils anlassbezogen und durch das seinerzeit noch geltende elterliche Züchtigungsrecht gerechtfertigt. Soweit die übrigen Schilderungen der Klägerin betroffen sind, konnte die Kammer sich – trotz intensiver Ermittlungen – nicht die hinreichende Gewissheit für deren Vorliegen verschaffen.

I. Aufgrund der Feststellungen des Urteils des Amtsgerichts B. vom 00.00.0000 sieht es die Kammer als nachgewiesen an, dass der Vater der Klägerin am 00.00.0000 in der Wohnung seiner geschiedenen Ehefrau, der Zeugin Q., vor den Augen der damals sechsjährigen Klägerin sein Geschlechtsteil entblößte und sich vor ihr selbst befriedigte. Dieses Verhalten ist nach Auffassung der Kammer nicht nur widerlich, sondern es ist – wie auch zutreffend durch das Amtsgericht B. beurteilt – als sexueller Missbrauch eines Kindes in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch einer Schutzbefohlenen strafbar. Das Amtsgericht hat in diesem Zusammenhang die seinerzeit geltenden Vorschriften des § 176 Abs. 5 Nr. 1 und § 174 Abs. 2 Nr. 1 StGB zur Anwendung gebracht, also die Tatsache berücksichtigt, dass der Täter seinerzeit sexuelle Handlungen vor der Schutzbefohlenen (§ 174 Abs. 2 Nr. 1 StGB in der Fassung vom 02.07.1976) bzw. vor einem Kind vorgenommen hat (§ 176 Abs. 5 Nr. 1 StGB in der Fassung vom 02.01.1975). Die ebenfalls von §§ 174, 176 StGB erfassten Tatbestandsalternativen der Vornahme von sexuellen Handlungen an einem Kind/Schutzbefohlenen oder durch dieses an sich waren durch die Tat auch nach Auffassung der Kammer nicht erfüllt. Es lag eine Straftat vor, die letztlich allein den Körper des Täters betraf. Der Körper der Klägerin war hierin nicht involviert. Nun verkennt die Kammer nicht, dass auch die psychische und sexuelle Unversehrtheit bzw. Integrität ebenso wie die Freiheit von sexueller Fremdbestimmung zweifellos ein schützenswertes Gut ist (vgl. hierzu etwa Lederer in: Leipold/Tsambikakis/Zöller, Anwaltskommentar StGB, 3. Aufl. 2020, § 176 Rn. 2) und dieses – nicht zuletzt im Hinblick auf die insoweit für die Psyche des Opfers bestehenden Gefahren – zu Recht unter Strafe gestellt ist. Allerdings ist – derzeit noch – allein der vorsätzliche tätliche Angriff vom § 1 OEG erfasst. Wie bereits oben dargelegt, zeichnet sich der tätliche Angriff im Sinne des § 1 Abs. 1 S 1 OEG durch eine körperliche Gewaltanwendung (Tätlichkeit) gegen eine Person aus, wirkt also körperlich (physisch) auf einen anderen ein (vgl BSG Urteil vom 7.4.2011 - B 9 VG 2/10 R = juris Rn. 36). In Fällen sexuellen Missbrauchs von Kindern im Sinne von § 176 StGB hat das Bundessozialgericht den Begriff des tätlichen Angriffs noch weiter verstanden. Danach kommt es nicht darauf an, welche innere Einstellung der Täter zu dem Opfer hatte und wie das Opfer die Tat empfunden hat. Auch der "gewaltlose" sexuelle Missbrauch eines Kindes kann demnach ein tätlicher Angriff im Sinne des § 1 Abs. 1 S 1 OEG sein (BSG Urteil vom 18.10.1995 - 9 RVg 4/93 = juris; Urteil vom 18.10.1995 - 9 RVg 7/93 = juris). Dieser Einschätzung schließt sich die Kammer aus Gründen des Opferschutzes vollumfänglich an. Es kann nicht darauf ankommen, ob der Täter in offen kämpferisch feindlicher Willensrichtung auftritt oder aber – gerade gegenüber Kindern – seine Handlungen als Spiel tarnt. Die Kammer sieht sich gleichwohl daran gehindert, die Norm des § 1 OEG auch auf den hier zu beurteilenden Sachverhalt anzuwenden. Der Wortsinn der Norm ist die Grenze der Auslegung (vgl. Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 3. Aufl. 1995, S. 143 f.; Zippelius, Juristische Methodenlehre, 8. Aufl. 200, § 9 I f.; vgl. in diesem Zusammenhang freilich auch die sog "Theorie des Ge-setzessinns", Wank, Die Auslegung von Gesetzen, 6. Aufl. 2015, S. 44 f.). In den Sachverhalten, die das BSG zu entscheiden hatte, war es zumindest, wenn aus als angebliches Spiel getarnt, zu körperlichen Berührungen (konkret: Streicheln) oder gar Geschlechtsverkehr gekommen. Hier erscheint es auch der Kammer noch möglich eine "Tätlichkeit" bei nach außen erscheinenden Gewaltlosigkeit zu erkennen. Solches war vorliegend nicht geschehen, sondern der Täter hat die Klägerin überhaupt nicht berührt. Hier ist nach Auffassung der Kammer die Grenze des Wortsinns überschritten. Ein solches Geschehen kann nach hiesiger Auffassung keinesfalls mehr als "tätlicher" Angriff im Sinne der Norm verstanden werden. Die konkret hier in Rede stehende Tat stellte eben keine gegen den Körper der Klägerin sodann vielmehr allein gegen ihre psychische Unversehrtheit vor. Dies ist aber – wie auch rein seelische Misshandlungen – bislang nicht vom Wortlaut der Norm umfasst (vgl. BSG Urteil vom 17.04.2013 – B 9 V 1/12 R = juris Rn. 29). Dass ein solches Verhalten bislang nicht von der Norm erfasst wird, macht nach Auffassung der Kammer auch ein Vergleich mit den am 01.01.2024 in Kraft tretenden Regelungen des Vierzehnten Buches des Sozialgesetzbuches – Soziale Entschädigung – (Artikel 1 des Gesetzes zur Regelung des Sozialen Entschädigungsrechts vom 12.12.2019 – BGBl. I 2652) deutlich, welche zukünftig auch Straftaten gegen die freie Willensentscheidung und sonstige "körperlose" Handlungen (etwa die Vernachlässigung) erfassen wird.

Soweit die Klägerin im Hinblick auf ihren Vater angegeben hat, dieser habe sie im Alter von sechs Jahren im Jahr 1985 während eines Besuches in Abwesenheit ihrer Mutter, eingeladen "ein Spiel" zu spielen, bei dem sie ihre Füße habe auf den Tisch stellen und sich unterhalb des Bauchnabels entkleiden müssen, wonach der Vater, ebenfalls entkleidet sein Glied erfasst und sich befriedigt habe, während er parallel dazu mit seiner anderen Hand einen Finger in ihre Scheide gesteckt habe, sieht die Kammer dieses Geschehen als nicht hinreichend nachgewiesen an. Das Gleiche gilt für die Behauptung er habe bei einem weiteren Besuch – etwas später – erneut im Rahmen eines "Spiels", ihren Kopf fest an den Haaren gepackt und sie genötigt, ihn bei geöffneter Hose oral bis zur Ejakulation in den Mund zu befriedigen.

Da die Klägerin angibt, diese Taten seien in Abwesenheit anderer Zeugen geschehen, kommt hier – nach den oben dargestellten Grundsätzen – die Anwendung des § 15 KOVVfG in Betracht. Indes sieht die Kammer unter Berücksichtigung der durchgeführten Ermittlungen des Beklagten sowie des Gerichtes die Schilderungen nicht als hinreichend glaubhaft an. Die Kammer ist mithin unter Berücksichtigung der Gesamtumstände nicht von der guten Möglichkeit des Geschehens überzeugt.

Die Kammer schließt dies – gemäß dem Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdi-gung nach § 128 SGG – zum einen aus dem Gesamteindruck der Aussagen der Klägerin, aber auch der schriftlichen Schilderungen ihrer damaligen Freunde, der Zeugenaussage ihrer Mutter und nicht zuletzt aus den Feststellungen des seitens des Beklagten eingeholten Glaubhaftigkeitsgutachten, welches die Kammer gemäß § 118 Abs. 1 Satz 1 SGG i.V.m. §§ 415 ff. ZPO im Wege des Urkundenbeweises verwerten konnte (vgl. dazu LSG Nordrhein-Westfalen Urteil vom 26.06.2020 – L 13 VG 3/20 = juris Rn 21).

Beim Glaubhaftigkeitsgutachten handelt es sich um eine aussagepsychologische Begutachtung, deren Gegenstand die Beurteilung ist, ob auf ein bestimmtes Geschehen bezogene Angaben zutreffen, d.h. einem tatsächlichen Erleben der untersuchten Person entsprechen (vgl grundlegend BGH Urteil vom 30.7.1999 - 1 StR 618/98 = juris; vgl. hierzu auch Bender/Nack/Treuer, Tatsachenfeststellung vor Gericht, 3. Aufl. 2007, S. 52 ff.). Der Kammer ist dabei bewusst, dass bei der Würdigung eines Glaubhaftigkeitsgutachtens zu berücksichtigen ist, dass sich die psychologische Begutachtung von Aussagen nicht darauf beziehen kann, Angaben über die Faktizität eines Sachverhalts zu machen. Möglich ist lediglich herauszufinden, ob sich Aussagen auf Erlebtes beziehen, d.h. einen Erlebnishintergrund haben. Darüber hinaus besteht, worauf das Bundessozialgericht zutreffend hinweist, die Kompetenz und damit auch die Aufgabe des Sachverständigen darin abzuklären, ob sich dieser Erlebnishintergrund in der sog Wachwirklichkeit befindet, anstatt auf Träumen, Halluzinationen oder Vorstellungen zu beruhen. Ausschließlich auf diesen Aspekt des Wirklichkeitsbezuges einer Aussage kann sich die Glaubhaftigkeitsbegutachtung beziehen. Im positiven Fall können aussagepsychologische Gutachten Zweifel an der Erlebnisbasis und Zuverlässigkeit einer konkreten Aussage zurückweisen. Dies geschieht durch die Bildung von Alternativhypothesen, d. h. Konkurrenzannahmen zur Erlebnishypothese, und deren Zurückweisung als unsubstantiiert. Aufgabe des aussagepsychologischen Sachverständigen ist es, auf den Einzelfall bezogene Alternativhypothesen zur Erlebnishypothese darzustellen und durch deren Prüfung erfahrungswissenschaftlich gestützte Feststellungen zu Erlebnishaltigkeit und Zuverlässigkeit von Sachverhaltskonstruktionen, die ein Zeuge oder ein Beteiligter vorträgt, zu treffen. Dadurch vermittelt er dem Gericht auf den Einzelfall bezogene wissenschaftliche Erkenntnisse und stellt diesem aufgrund von Befundtatsachen wissenschaftlich gestützte Schlussfolgerungen zur Verfügung (BSG Urteil vom 15.12.2016 – B 9 V 3/15 R = juris Rn. 43 unter Hinweis auf BSG Urteile vom 17. 4. 2013 – B 9 V 1/12 R = juris Rn. 46 und – B 9 V 3/12 R = juris Rn. 44 mit Verweis auf Greuel/Offe/Fabian/Wetzels/Fabian/Offe/Stadler, Glaubhaftigkeit der Zeugenaussage, 1998, S. 280 f.; vgl. auch Friedrich, SGb 2018, 116 ff.).

Das von der Beklagten eingeholte aussagepsychologische Glaubhaftigkeitsgutachten entspricht in personeller und inhaltlicher Hinsicht den in Literatur und Rechtsprechung allgemein anerkannten Maßstäben. Es war damit ein grundsätzlich geeignetes Mittel des Erkenntnisgewinns auch für das Gericht im Rahmen Beweiswürdigung.

Die Kammer teilt die Annahme im Gutachten, dass sich bereits im Rahmen der Ermittlungen im Verwaltungsverfahren bei der Klägerin das Vorhandensein ausgeprägter histrionischer Züge sowie einer Tendenz zur Übertreibung, bis hin zu sich gänzliche widersprechenden Verhaltensweisen und eine Neigung zu demonstrativen Schilderungen herauskristallisiert hat. Die Diagnose einer akzentuierten Persönlichkeit mit histrionischen und emotional instabilen Zügen war bereits 1996 durch die Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des UK B. gestellt worden. Ein damalige Freund der Klägerin, Herr X., hat schriftlich gegenüber dem Beklagten ausgeführt, die Klägerin habe "mit jedem beliebigen Mittel" um seine Aufmerksamkeit gerungen. So habe sie z.B. eine AIDS-Erkrankung erfunden. Die Klägerin selbst hat 1999 gegenüber ihrem Therapeuten C. angegeben, sie habe früher auch oft ihre Freunde und auch ihre Mutter angelogen, in dem sie schwere Krankheiten vortäuschte, um deren Zuwendung zu erlangen. Unter Berücksichtigung dieser Persönlichkeitsstruktur geht das Gutachten nachvollziehbar davon aus, dass insbesondere die jahrelange intensive Beschäftigung mit den fraglichen Sachverhalten im Sinne eines Memorierens/Verschriftlichens/Kommunizierens Aussageveränderungen begünstigt hat. Kritisch muss ebenfalls in diesem Zusammenhang bewertet werden, dass von der Klägerin die allmähliche Ausweitung ihrer Erinnerungen im Rahmen der Traumtherapie beschrieben wird. Hier verweist das Gutachten auf deutliche Anhaltspunkte für einen autosuggestiven Prozess, der trotz der weitgehend erinne-rungskritischen Haltung der Klägerin – zu Verfälschungen des Aussagematerials geführt haben könnte.

Im Hinblick auf die Aussagen der Kläger zu den Gewalttaten des Vaters stellt das Gutachten einen Überdetaillierung fest, die im Hinblick auf die weiteren im Gutachten festgestellten Umstände jedenfalls nicht als Qualitätsmerkmal zu werten ist. Darüber hinaus waren – dieser Einschätzung schließt sich auch die Kammer an – ihre Angaben teilweise kaum nachvollziehbar. Dies gilt sowohl hinsichtlich der Behauptung, es sei zu der Verurteilung des Vaters gekommen, weil eine Lehrerin bemerkt habe, wie sie, die Klägerin, aus dem Uterus geblutet habe. Im Nachgang hätten ihr Vater und ihre Mutter kollusiv ein weniger dramatisches Geschehen geschildert, welches dann zu der erfolgten Verurteilung geführt habe. Das Gutachten legt insgesamt überzeugend dar, dass und aus welchen Gründen, sowohl die Hypothese der unsachgemäßen Mehrbelastung, die (Auto-)suggestionshypothese und die Projektions- oder Wahrnehmungsübertragungshypothese nicht zurückgewiesen werden können, so dass der Erlebnishypothese aus aussagepsychologischer Sicht nicht gefolgt werden kann.

Ergänzend ist nach Auffassung der Kammer zu berücksichtigen, dass insbesondere die Darstellung der Klägerin, ihre Mutter und ihr Vater hätten seinerzeit die wahren Taten vertuscht, auch unter Berücksichtigung weiterer Aspekte nicht überzeugt. Es steht unter Berücksichtigung der aus den Protokollen ersichtlichen Aussagen der Zeugin Q. für die Kammer fest, dass die Zeugin zum damaligen Zeitpunkt keinesfalls in einem solchen Verhältnis zu ihrem geschiedenen Ehemann gestanden hat, welches die Annahme, sie habe den von der Klägerin geschilderten weiteren sexuellen Missbrauch gedeckt, rechtfertigen würde.

Die Kammer verkennt hierbei nicht, dass die Zeugin Q. die Sexualität ihres Ex-Mannes für nicht ungestört hielt, er jedenfalls verschiedene sexuelle Präferenzen gehabt habe, die für sie außerhalb der Norm lagen. So habe er ihr gegenüber ein sexuelles Verhältnis mit seiner Mutter eingeräumt. Dies beweist indes nichts im Hinblick auf die von der Klägerin geschilderten Taten. Soweit die abgeurteilte Tat betroffen ist, hat die Zeugin eindeutig ausgesagt, sie habe – nachdem ihre Tochter ihr den Vorfall geschildert habe – noch am gleichen Tag Strafanzeige gestellt und sei zu einem Anwalt gegangen. Die Zeugin hat im Verfahren auch ein Schreiben vorgelegt, in dem unmittelbar auch das "Geschehen am vergangenen Wochenende (Samstag, den 00.00.1985)" abstellte. In diesem Schreiben wurde dem Vater der Klägerin Haus- und Besuchsverbot erteilt. Dies spricht nach Auffassung der Kammer evident dagegen, dass die Mutter – wie von der Klägerin behauptet – etwas gebilligt oder auch nur vertuscht hätte. Soweit in dem Schreiben auf einen Vorfall vor 1 ½ Jahren Bezug genommen wird, ist dies nach Auffassung der Kammer nicht geeignet einen Beweis für das Vorliegen einer wie auch immer gearteten Tat im Sinne des § 1 OEG zu erbringen. Die Zeugin Q. erläuterte die Bezugnahme auf dieses Datum dahingehend, dass seinerzeit ihr Exmann zu Besuch gewesen sei und sie kurz einkaufen war (10 Minuten). Nachdem sie zurückgekommen sei und sie und die Klägerin sich von ihrem Exmann verbschiedet hätten, habe ihre Tochter die ganze Zeit fröhlich "Sonne, Mond und Sterne" gesungen. Auf ihre Nachfrage, ob etwas vorgefallen sei, habe sie nicht geantwortet sondern weitergesungen. Die Kammer geht davon aus, dass die Zeugin Q. glaubt, hier könne etwas vorgefallen sein. Was dies aber konkret gewesen sein könnte, ist für die Kammer nicht ersichtlich. Ein "ungutes Gefühl" der Zeugin Q. reicht insoweit nicht. Zeitlich kann es sich hierbei jedenfalls nicht um die von der Klägerin behaupteten weiteren Gewalttaten gehandelt haben. Die Zeugin hat weiter angegeben, sie habe ihrem Ex-Ehemann daraufhin klar gesagt, er solle seiner Tochter nichts antun. Dies werden Konsequenzen haben. Diese Konsequenzen hat sie dann nach der Straftat vom 00.00.1985 auch unmittelbar gezogen. Für die Kammer ein weiteres Indiz dafür, dass hier von Seiten der Mutter nichts vertuscht werden sollte.

II. Soweit die Klägerin angibt, Opfer von Gewalt ihrer Mutter geworden zu sein, ist die Kam-mer aufgrund der Aussagen der Zeugin Q. in Verbindung mit den Darstellungen, wie sie sich aus den seinerzeitigen schriftlichen Aufzeichnungen der Klägerin im Rahmen des dem Gericht von ihr zur Verfügung gestellten Tagebuchs ergeben und den Feststellun-gen des aussagepsychologischen Gutachtens, davon überzeugt, dass es zwischen der Mutter der Klägerin und ihr – insbesondere in der Zeit der (Prä-)Pubertät zu erheblichen Spannungen gekommen ist und dass die Mutter auch in der Tat bei zwei Gelegenheiten die Klägerin mit einem Gürtel körperlich gezüchtigt hat. Soweit die Klägerin beschreibt, dies sei exzessiv, ohne Grund und an der Tagesordnung gewesen sieht die Kammer dies, ebenso wie die Behauptung, ihre Mutter habe sie in der Spüle ertränken wollen und sie habe durch Tritte in den Bauch eine Abtreibung bei ihr einleiten wollen, ebenfalls nicht als hinreichend nachgewiesen an.

Die Kammer sieht es aufgrund der Aussage der Mutter der Klägerin als nachgewiesen an, dass diese tatsächlich ihre Tochter bei zwei Gelegenheiten mit einem Gürtel ge-schlagen hat. Sie hat im Rahmen ihrer Vernehmung vom 13.11.2018 angegeben, sie könne sich noch genau an zwei Mal erinnern. Das erste Mal sei die Klägerin zehn Jahre alt gewesen. Sie beide seien im Wald spazieren gegangen und dort sei ihr die Klägerin weggelaufen. Sie habe Angst gehabt, dass ihr was passiert sei und dass sie sie nicht finderfinde. Als sie dann nach Hause gegangen sind, habe sie sie dann mit einem Gürtel verprügelt. Das zweite Mal sei die Klägerin ungefähr 15 Jahre alt gewesen. Damals seien 20 Mark verschwunden gewesen und sie sei – fälschlich wie sich im Nachhinein her-ausstellte – davon ausgegangen, ihre Tochter habe ihr das Geld entwendet. Die Vorfälle täten ihr heute noch sehr leid. Daneben konnte die Zeugin sich daran erinnern, die Klä-gerin auch schon einmal mit der bloßen Hand geschlagen zu haben. Hier sei ihr erinner-lich, dass seinerzeit eine Freundin aus der Grundschule bei ihnen zu Hause gewesen sei. Diese und ihre Tochter hätten sehr wild gespielt und ihre Tochter sei ihrer Freundin auf den Bauch gehopst. ist. Auch da habe sie sich die Klägerin genommen und sie mit der Hand geschlagen und erklärt habe, dies mache man nicht, da das gefährlich sei.

Die Kammer ist davon überzeugt, dass diese Geschehnisse so wie von der Zeugin dar-gelegt vorgefallen sind und dass die Zeugin sich insbesondere vor dem Hintergrund des Ausnahmecharakters der Geschehnisse sich auch noch nach so langer Zeit an die konkreten Umstände erinnern konnte. Die Zeugin hat auf entsprechende Nachfrage eindeutig verneint, dass Gewalt bzw. körperliche Züchtigungen ein regelmäßiges Mittel der "Erziehung" waren. Sie verabscheue Gewalt, insbesondere weil sie als Kind sehr häufig geschlagen worden sei. Für die Kammer macht die Aussage der Zeugin deutlich, dass sie die von ihr ausgeübte Gewalt gegen ihre Tochter als Versagen ihrer eigenen Selbstbeherrschung auch heute noch reut und dass sie sich diese "Erziehungsmaßnahmen" auch heute noch anlastet. Die Zeugin hat – zweifellos auch um ihr insoweit empfundenes Versagen zu rechtfertigen – auch deutlich gemacht, dass es zwischen ihr und ihrer Tochter erhebliche Spannungen gab. Die Zeugin war – dies steht für die Kammer fest – insbesondere mit fortschreitendem Alter ihrer Tochter mit deren Erziehung überfordert. Sie hat sich darum bemüht, der Tochter viele Möglichkeiten zu eröffnen (etwa Sprachurlaube und sportliche Aktivitäten). Trotz dieser Bemühungen ist es zwischen ihr und ihrer Tochter aber mit zunehmendem Alter zu den bereits beschrieben Spannungen gekommen, die letztlich darin kulminiert sind, dass die Tochter in einer Pflegeeinrichtung bzw. bei Pflegeeltern untergebracht worden ist. Weder damals noch heute konnte und kann die Mutter – dies ergibt sich für die Kammer aus den Aussagen der Zeugin – akzeptieren, dass dies zur Verringerung der Spannungen durchaus ein möglicher, vielleicht sogar der einzige Weg war. Weitere objektivierbare Anhaltspunkte, dass der Umzug in die Pflegefamilie mit körperlicher Gewalt zu tun gehabt hätte, konnte die Kammer nicht finden. Die Klägerin ist auch nach relativ kurzer Zeit wieder freiwillig zu ihrer Mutter zurückgekehrt.

Soweit die Klägerin demgegenüber angibt, die Schläge, die sich durchgängig von 1984 bis zu ihrem 18. Lebensjahr erhalten habe, seien exzessiv und willkürlich gewesen, sieht die Kammer dies nicht als glaubhaft an. Zum einen konnte das Glaubhaftigkeitsgutachten auch insoweit der Erlebnishypothese nicht folgen. Dies gilt sowohl hinsichtlich der Behauptung, ihre Mutter habe sie im Alter von 13 Jahren zu ertränken versucht als auch hinsichtlich der Behauptung ihre Mutter habe sie gezwungen zwei Stunden lang auf den Knien den Rosenkranz zu beten und habe ihr mit einem Rohrstock zwischen die Schulterblätter geschlagen, damit sie nicht ohnmächtig werde oder sie sei ohne Grund nachts aus dem Bett gerissen worden und von ihrer Mutter mit einem Ledergürtel oder eine Bügel geschlagen worden. Darüber hinaus spricht auch das vorliegende Tagebuch der Klägerin eine andere Sprache. Die Eintragungen dort thematisieren – in altersentsprechender Sprache – verschiedene Themen, die die Klägerin in dem Alter (es endet 1991) bewegt haben, etwa Verliebtsein, Liebeskummer, Urlaubserlebnisse, Gedanken zum Weltgeschehen, Begebenheiten mit ihrer Mutter, Begebenheiten mit Freunden. Die Kammer konnte hierbei aber bei Durchsicht noch nicht einmal ansatzweise besondere – über das übliche Maß hinausgehende – Spannungen zwischen ihr und ihrer Mutter, ge-schweige denn Anhaltspunkte für das versuchte Ertränken durch ihre Mutter oder regelmäßige Züchtigungen, welche sich in dem hier erfassten Zeitraum abgespielt habe sollen, erkennen. Die Behauptung der Klägerin, dieses Tagebuch sei nicht aussagekräftig, weil sie es nur für ihre Mutter geschrieben habe, überzeugt die Kammer nicht, da das Tagebuch Eintragungen und Schwärmereien zu Jungen enthält, die für das maßgebliche Alter durchaus als intime Geständnisse aufzufassen sind. Selbst wenn man aber unterstellte, das Tagebuch sei in dem Wissen geschrieben worden, dass die Mutter es liest, weswegen wesentliche Aspekte – insbesondere die Gewalt durch ihre Mutter – nicht dargestellt worden seien, so ergäben sich für die Kammer hieraus in der Tat keine Erkenntnisse – aber eben auch nicht im Hinblick auf die Glaubhaftigkeit der Schilderungen der Klägerin.

Soweit die Klägerin angibt, ihr eigentlicher Leidensweg sei in anderen Tagebüchern niedergelegt, so kennt die Kammer diesen Inhalt nicht und kann ihn daher auch nicht würdigen. In diesem Zusammenhang brauchte die Kammer auch nicht dem Antrag der Klägerin nachzugehen, im Hinblick auf das von der Zeugin Q. vorgelegte Schreiben ein graphologisches Gutachten einzuholen. Die Kammer kann als wahr unterstellen, dass der ehemalige Freund der Klägerin, der Zeuge I., 1996 im Besitz von Tagebüchern der Klägerin war. Hierfür spricht die Tatsache, dass die Zeugin Q. das genannte Schreiben vorgelegen konnte, dem offenbar persönliche Aufzeichnungen der Klägerin beigefügt waren. In dem Schreiben heißt es dann weiter, das nach Zahlung der Summe für die angeblich durch die Klägerin zerstörten Möbel, jeder das erhalte, was er wolle. Dies könnte sich in der Tat auf Tagebücher beziehen. Die Kammer hat aber keinen Anlass daran zu zweifeln, dass der Zeuge die Tagebücher jedenfalls jetzt – 24 Jahre später, in denen er mehrfach umgezogen ist – nicht mehr hat. Die Kammer hat keine Erkenntnisse darüber, ob die Tagebücher noch existierten. Sie hat vor allem – außer den Angaben der Klägerin, die sich aber nach Auffassung der Kammer bereits in verschiedener anderer Hinsicht als nicht durchgängig verlässlich gezeigt haben – keine objektivierbaren Erkenntnisse, was darin niedergelegt worden ist.

Die Behauptung der Klägerin, ihre Mutter habe ihr, mit dem Ziel der Einleitung eines Aborts, in den Bauch getreten, hält die Kammer ebenfalls nicht für glaubhaft. Die Klägerin erklärte im Rahmen des Termins vom 13.11.2018, sie sei damals für ein Kind noch nicht bereit gewesen. Aus diesem Grund sei ein Schwangerschaftsabbruch vorgenommen worden. Diese Einschätzung, dass ein Kind für ihre Tochter seinerzeit zu früh gewesen sei, teilte, dies ergibt sich für die Kammer aus den Aussagen ihrer Mutter, auch diese. Keine Anhaltspunkte – auch nicht im Sinne eines Verschweigens – fanden sich in der Vernehmung der Mutter, dahingehend, dass auch nur angedacht, geschweige durchgeführt war, diesen Abbruch nicht lege artis durch Ärzte vornehmen zu lassen.

Soweit die Kammer davon überzeugt ist, dass die Mutter der Klägerin diese körperlich gezüchtigt hat, und dass diese Züchtigungen – sei es mit dem Gürtel, sei es mit der bloßen Hand – die Erheblichkeitsschwelle überschritten haben, liegt ein tätlicher Angriff nach § 1 Abs.1 Satz 1 OEG vor. Indes ist zu berücksichtigen, dass 1631 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) in der bis zum 30.06.1998 geltenden Fassung lautete:

"(1) Die Personensorge umfaßt insbesondere das Recht und die Pflicht, das Kind zu pflegen, zu erziehen, zu beaufsichtigen und seinen Aufenthalt zu bestimmen.

(2) Entwürdigende Erziehungsmaßnahmen sind unzulässig.

Durch Art. 1 des Gesetzes zur Reform des Kindschaftsrechts (Kindschaftsrechtsreform-gesetz – KindRG) vom 16.12.1997 wurde die Regelung dahingehend neugefasst, dass nunmehr nach Abs. 2 entwürdigende Erziehungsmaßnahme, insbesondere körperliche und seelische Misshandlungen unzulässig waren. Schließlich wurde durch Art. 1 des Gesetzes zur Ächtung der Gewalt in der Erziehung und zur Änderung des Kinderunterhalts vom 02.11.2000 mit Wirkung vom 08.11.2000 in Absatz 2 Satz 1 zudem klargestellt, dass Kinder ein Recht auf gewaltfreie Erziehung haben.

Den Eltern verblieb bis November 2000 eine Befugnis zur maßvollen körperlichen Züchtigung, sofern sie nur - dieses subjektive Element stand oft im Mittelpunkt der Bewertung - mit Erziehungswillen handelten. Sogar die Verwendung von Schlaggegenständen war nach den damaligen Maßstäben nicht zwingend eine strafbare Körperverletzung. Nötig war vielmehr eine Würdigung der objektiven und subjektiven Umstände des Einzelfalls, die Anlass, Ausmaß und Zweck der Bestrafung berücksichtigte (LSG Niedersachsen-Bremen L 10 VE 39/10 = juris Rn. 23 ff.; LSG Baden-Württemberg Urteil vom 06.12.2018 – L 6 VG 3096/17 = juris Rn. 75). Ende der 1950-er Jahre führte der Bundesgerichtshof (BGH) aus, dass Ohrfeigen und Rohrstockschläge eines Lehrers nicht strafbar seien, wenn der Lehrer zur Züchtigung rechtlich befugt sei und sich innerhalb der Grenzen dieser Befugnis halte (BGH, Urteil vom 23. Oktober 1957 - 2 StR 458/56 - BGHSt 11, 241). Und noch im Jahr 1986 sah der BGH das elterliche Züchtigungsrecht nicht als überschritten an, als Eltern ihr Kind mit einem 1,4 cm starken und in sich stabilen Wasserschlauch auf Gesäß und Oberschenkel geschlagen hatten, wobei jeweils rote Striemen entstanden waren. Vielmehr forderte der BGH auch in diesem Fall eine Würdigung aller objektiven und subjektiven Umstände des Tatgeschehens und erkannte ausdrücklich, dass allein die Verwendung eines Schlaggegenstandes noch nicht das Merkmal der "entwürdigenden Erziehungsmaßnahme" erfülle (BGH, Beschluss vom 25. November 1986 - 4 StR 605/86 - NStZ 1987, 173). Maßgeblich ist mithin die Würdigung aller objektiven und subjektiven Umstände des Einzelfalls, die Anlass, Ausmaß und Zweck der Bestrafung berücksichtigen. Unter Berücksichtigung dieser Vorgaben ist nach Auffassung der Kammer vor dem Hintergrund, dass es sich jeweils um jeweils auf den konkreten Anlass bezogene Bestrafungen gehandelt hat, die die Ausnahme geblieben sind und die nach Auffassung der Kammer nicht zuletzt Ausdruck einer gewissen Überforderung der Mutter in Ausnahmesituationen (Weglaufen des Kindes im Wald verbunden mit der Sorge der Mutter, ihm könne etwas zugestoßen sein; Annahme eines nicht eingeräumten Diebstahls; Sorge um die Gesundheit der Freundin der Klägerin) gewesen sind, nach damaligem, hier in Ansatz zu bringenden Rechtsverständnis, eine Überschreitung des Züchtigungsrechts nicht festzustellen. Die Kammer macht in diesem Zusammenhang deutlich, dass sie unter Berücksichtigung des zu Recht mittlerweile seit Längerem bestehenden Rechts auf gewaltfreie Erziehung, solche Maßnahmen keinesfalls billigt. Sie stellt nur fest, dass zum damaligen Zeitpunkt nicht von einer rechtswidrigen Tätlichkeit auszugehen war, weswegen die Anwendung des § 1 OEG auch insoweit nicht in Betracht kommt.

III. Auch die Schilderungen der Klägerin im Hinblick auf körperliche Angriffe ihres Onkels gegen sie – konkret auch am 00.00.1989 – sieht die Kammer nicht als hinreichend nachgewiesen an. Maßgeblicher Beweismaßstab ist insoweit der Vollbeweis, da die Beweiserleichterung des § 15 KOVVfG vor dem Hintergrund, dass die Mutter der Klägerin Zeugin beschriebenen Gewalt gewesen sein soll, nicht eingreift.

Die Mutter der Klägerin, die Zeugin Q., konnte den Vorfall, so wie ihn die Klägerin beschrieben hat, nicht bestätigen. Zwar hat sie erklärt, dass in Anwesenheit ihrer eigenen Mutter, d.h. der Großmutter der Klägerin, stets eine Atmosphäre der Spannung bestanden habe, die sich auch vielfach in Gewalt entladen habe. Es sei daher gut möglich, dass die Klägerin Zeugin einer solchen Szene geworden sei, da sie ihre Tochter ja stets dabei gehabt habe. Dass die Klägerin selbst in diesem Rahmen Opfer von Gewalt geworden sei, könne sie nicht sagen. Berücksichtigt man dies und zudem die Tatsache, dass das aussagepsychologische Gutachten der Erlebnishypothese auch im Hinblick auf die Schilde-rungen betreffend den Onkel nicht folgen konnte, kommt auch insoweit die Anwendung des § 1 OEG nicht in Betracht.

IV. Hinsichtlich der angeblichen Gewalttaten eines Mitschülers während ihres Besuchs der Grundschule E., kann die Kammer es durchaus nicht ausschließen, dass die Klägerin Opfer von Schlägen und Tritten eines Mitschülers geworden ist. Zum einen ist das Phänomen des sog. "Bullying" (vgl. dazu etwa Hochmuth/Pickel, Gewalt an Grundschulen, 2009 S. 10) bekannt und nicht neu und es ist der Kammer in ihrer vollständigen Besetzung aus eigener Anschauung bekannt, dass es auch in der 1980er Jahren, aber auch davor, auch Grundschulkinder mit – in aller Regel freilich altersentsprechender - Gewalt seitens ihrer Mitschüler konfrontiert wurden. Eine gewisse körperliche Aggressivität ist durchaus in dem hier in Rede stehenden Alter der Vorpubertät auch nicht unüblich (vgl. dazu etwa Petermann/Koglin, Aggression und Gewalt bei Kindern und Jugendlichen, 2015, S. 1 ff.) und körperliche Auseinandersetzungen werden teilweise als ein Aspekt des Umgangs mit gruppendynamischen Konflikten gesehen.

Vor diesem Hintergrund ist in der Rechtsprechung durchaus anerkannt, dass im Kindesalter – insbesondere in der Grundschule – übliche Verhaltensweisen, wie etwa Rangeleien, Schubsereien als sozialübliche Verhaltensweisen keine Entschädigungspflicht auslösen (vgl. LSG Niedersachsen-Bremen Urteil vom 19.11.2015 – L 10 VE 31/12 = juris Rn. 28 unter Hinweis auf BSG Urteil vom 08.11.2007 – B 9/9a VG 3/06 R). Keinesfalls kann und darf hierbei freilich die – nicht mehr sozialadäquate – Erheblichkeitsschwelle überschritten werden. Die Angaben der Klägerin sind in diesem Zusammenhang nach Auffassung der Kammer zu dürftig, um hieran – unter Berücksichtigung von Sinn und Zweck des OEG – konkret die Voraussetzungen für einen Entschädigungsanspruch zu knüpfen. Weder sind Art und Umfang noch Anlass der behaupteten Gewalttaten dargelegt. Dass hier wirklich die Grenzen üblicher Querelen unter Kindern überschritten worden wären, vermag die Kammer nicht zu erkennen, zumal außer der Darstellung der Klägerin weitere Anhaltspunkte für entsprechende wesentliche Gewalttaten nicht vorliegen. Weder sind Zeugen benannt worden noch hat die Mutter der Klägerin nachvollziehbar davon berichtet, dass die Klägerin in ihrer Grundschulzeit Opfer der entsprechenden Gewalt geworden sei.

V. Schließlich sieht die Kammer auch die Angaben der Klägerin hinsichtlich der Vergewaltigung im August 1994 als nicht hinreichend nachgewiesen an. Die Kammer verkennt hierbei nicht, dass die Mutter der Klägerin, die Zeugin Q., gegenüber dem Gericht ausgesagt hat, sie habe im Sommer in den Ferien – kurz vor dem 18. Geburtstag ihrer Tochter – einen Anruf von der Polizei in E. bekommen, wonach ihre Tochter sich auf dem Kommissariat befand. Es sei ein Verbrechen passiert. Die Klägerin sei nur am Weinen und sie habe sie abholen sollen. Ihr Bruder habe sie dann nach E. gefahren. Ihre Tochter sei ganz verweint gewesen. Sie habe am ganzen Körper gezittert und sich an sie geklammert. Zunächst habe sie ihr nicht sagen können, später – wohl noch im Polizeirevier – habe sie ihr erzählt, dass sie vergewaltigt worden sei. Sie, die Zeugin, sei ganz geschockt gewesen. Ob ihrer Tochter seinerzeit einer Ärztin oder einem Arzt vorgestellt worden sei wisse sie nicht mehr. Sie meinte, ihre Tochter hätte ihr damals schon gesagt, dass die Polizei auch zunächst gar kein Protokoll hätten aufnehmen wollen. Sie, die Zeugin, sei mit der ganzen Situation jedenfalls überfordert gewesen. An sowas habe sie seinerzeit nicht gedacht. Es sei aber letztlich eine Anzeige aufgenommen worden weil irgendwann später sei dann ein Schreiben der Staatsanwaltschaft gekommen.

Aus diesen Äußerungen kann die Kammer indes nur schließen, dass die Klägerin seinerzeit behauptet hat, vergewaltigt worden zu sein. Angaben darüber, dass die Kleidung der Klägerin teilweise zerstört gewesen war, als sie auf der Polizeiwache abgeholt hat – die Klägerin hatte geschildert, bei der Vergewaltigung sei die Unterhose und der BH gerissen – hat die Zeugin Q. nicht gemacht. Nach Darstellung der Zeugin Q. war offenbar – anders als die Darstellung der Klägerin, wonach die Vergewaltigung nicht einmal aufgenommen worden sei – ein Ermittlungsverfahren durchgeführt worden; jedenfalls war die Staatsanwaltschaft involviert. Zu einer Verurteilung ist es indes offenbar nicht gekommen. Unter Berücksichtigung der weiteren Tatsache, dass auch die Mutter der Klägerin, die diese unmittelbar nach der behaupteten Vergewaltigung gesehen hat, und die sich in der Vernehmung auch durchaus noch an den Vorfall erinnern konnte, keinerlei objektivierbaren Anhaltspunkte für das Verbrechen berichten konnte und der Tatsache, dass die Klägerin nach ihren eigenen Aussagen oft gelogen hat um Zuwendung zu bekommen, bzw. sie nach Einschätzung eines damaligen Freundes "mit jedem beliebigen Mittel", etwa durch Erfindung einer AIDS-Erkrankung um Aufmerksamkeit gerungen hat (dazu bereits oben), ist die bloße Behauptung der Klägerin, sie sei seinerzeit Opfer einer Vergewaltigung geworden, keinesfalls geeignet das Geschehen als hinreichend glaubhaft anzusehen. Die Kammer sieht sich in dieser Einschätzung zudem durch die Feststellungen des Glaubhaftigkeitsgutachtens bestärkt.

Nach alledem war die Klage abzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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