S 77 AL 3761/01

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
SG Berlin (BRB)
Sachgebiet
Arbeitslosenversicherung
Abteilung
77
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 77 AL 3761/01
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
1. Die Vermutung des § 120 Abs. 2 SGB III kann ausnahmsweise vom Arbeitslosen auch dadurch widerlegt werden, dass er darlegt und nachweist, das Studium jederzeit zugunsten einer vollschichtigen Beschäftigung abbrechen zu wollen und zu können.
2. Voraussetzung dafür ist, dass es sich bei dem Studium nicht um eine Erst- oder Zweitausbildung handelte und der Arbeitslose durch seine umfangreichen Bewerbungen während des Studiums und deren inhaltliche Gestaltung deutlich macht, tatsächlich bereit zu sein, jederzeit bei einem entsprechenden Arbeitsangebot das Studium zu Gunsten der angestrebten vollschichtigen Beschäftigung abzubrechen. Das Studium muss in diesem Sinne bei bestehender längerer Arbeitslosigkeit vorrangig dem Zweck der Erhöhung der Vermittlungschancen auf dem Arbeitsmarkt dienen. (Im entschiedenen Fall hatte es sich um die vierte nach drei erfolgreich abgeschlossenen Ausbildungen und mehrjähriger Arbeitslosigkeit gehandelt.)
1. Der Bescheid der Bescheid vom 29. Juni 2001 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27. September 2001 wird aufgehoben. 2. Die Beklagte wird verurteilt, der Klägerin seit dem 30. Juni 2001 Arbeitslosenhilfe zu gewähren. 3. Die Beklagte hat der Klägerin deren außergerichtliche Kosten des Rechtsstreites zu erstatten.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten nur noch über die Weitergewährung von Arbeitslosenhilfe.

Die 1969 geborene Klägerin verfügt über Abschlüsse als Zootechnikerin, Fachschuljuristin und DTP-Fachkraft.

Sie ist seit 1990 mit Unterbrechungen durch Umschulungen, ABM und Erziehungsurlaub über erhebliche Zeiträume arbeitslos gewesen. Sie ist erneut seit Juli 1998 arbeitslos und bezog von der Beklagten bis zum 29. Juni 1999 Arbeitslosengeld. Anschließend wurde ihr von der Beklagten Arbeitslosenhilfe gewährt. Bei einer persönlichen Vorsprache am 30. September 1999 teilte die Klägerin der Beklagten mit, dass sie ab 1. Oktober 1999 ein gebührenpflichtiges Studium an einer privaten Hochschule (Studiengang Kommunikationsdesign) aufnehme und dort der Umfang der wöchentlichen Ausbildung ca. 20 Stunden betrage. Die Klägerin stellte sich weiterhin der Arbeitsvermittlung der Beklagten entsprechend der üblichen Lage und Verteilung der Arbeitszeit zur Verfügung und gab an, jederzeit in der Lage zu sein, eine entsprechende Beschäftigung aufzunehmen. Vor der Weiterbewilligung von Arbeitslosenhilfe ab 30. Juni 2000 mit Bescheid vom 23. Juni 2000 gab die Klägerin im Antrag vom 14. Juni 2000 an, neben der Ausbildung 35 bis 40 Stunden pro Woche arbeiten zu können.

Am 15. Juni 2001 beantragte die Klägerin die Weitergewährung von Arbeitslosenhilfe und erklärte dabei, dass sie parallel zum Praktikum, das sie seit April 2001 absolviere, wöchentlich 30 Stunden arbeiten könne.

Die Beklagte lehnte mit Bescheid vom 29. Juni 2001 den Antrag ab, weil die Klägerin als Schülerin/Studentin nicht arbeitslos sei, weil für diesen Personenkreis vermutet werde, dass er nur versicherungsfreie Beschäftigungen ausüben könne (§ 120 Abs. 2 Satz 1 Sozialgesetzbuch Drittes Buch - SGB III).

Dagegen wandte sich die Klägerin mit ihrem Widerspruch vom 10. Juli 2001. Sie begründete dies damit, dass sie dem Arbeitsmarkt weiterhin voll zur Verfügung stehe.

Im Hinblick auf die bisher erfolgten Bewilligungen sei eine Änderung der zeitlichen Beanspruchung der Klägerin nicht eingetreten. Vielmehr sei mit dem Praktikumsbetrieb vereinbart, dass die Zahl der Praktikumsstunden verringert und ihre Lage verschoben werden könne, wenn ein Arbeitsangebot vorliege. Das Praktikum sei unentgeltlich. Auch das weitere Studium würde wie bisher nur nachmittags nach 14:00 Uhr bzw. 16:30 Uhr stattfinden. Die Klägerin stehe dem Arbeitsamt neben dem Studium für 30 Stunden zur Verfügung. Es würden zahlreiche Bewerbungen der Klägerin laufen.

Die Beklagte wies den Widerspruch durch Widerspruchsbescheid vom 27. September 2001 zurück und führte begründend aus, dass nach den vorliegenden Unterlagen die Klägerin durch ihr Studium bzw. Praktikum, welches einen Umfang von 20 Stunden in der Woche umfasse, für die Arbeitsvermittlung nicht verfügbar sei. Das Praktikum sei keine versicherungsfreie Beschäftigung im Sinne von § 27 Abs. 5 SGB III, auch wenn kein Entgelt gezahlt werde.

Mit ihrer am 19. Oktober 2001 erhobenen Klage vom 16. Oktober 20001 verfolgt die Klägerin ihr Begehren weiter. Sie behauptet dazu, den Vermittlungsbemühungen des Arbeitsamtes voll zur Verfügung gestanden zu haben und von Juni 2000 bis Juni 2001 ca. 60 Bewerbungen unternommen zu haben. Sie habe das Studium zur Verbesserung ihrer Chancen auf dem Arbeitsmarkt aufgenommen und sei auch im Hinblick auf ihre bisherigen beruflichen Qualifikationen jederzeit bereit gewesen und weiterhin bereit, das Studium abzubrechen, wenn sie eine vollschichtige Beschäftigung aufnehmen könne. Sie sei aber auch zu einer Teilzeitbeschäftigung parallel zum Studium bereit gewesen.

Die Klage hatte sich zunächst auch gegen den Bescheid der Beklagten vom 31. August 2001 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27. September 2001 gerichtet, durch den die Bewilligung von Arbeitslosenhilfe seit 1. April 2001 aufgehoben worden war. Diesen Bescheid hob die Beklagte durch Bescheid vom 2. Juli 2002 auf, woraufhin die Beteiligten insoweit die Erledigung des Rechtsstreites erklärten (Schreiben der Beklagten vom 12. August 2002, Schreiben des Bevollmächtigten der Klägerin vom 2. September 2002).

Die Klägerin beantragt nunmehr,

1. den Bescheid der Beklagten vom 29. Juni 20001 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27. September 2001 aufzuheben,

2. die Beklagte zu verurteilen, der Klägerin seit dem 30. Juni 2001 Arbeitslosenhilfe zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Der Kammer haben außer den Prozessakten die Verwaltungsakten der Beklagten vorgelegen. Sie waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung. Wegen der Einzelheiten des Sachverhaltes und des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf die Schriftsätze und den Akteninhalt Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Klägerin hat seit dem 30. Juni 2001 Anspruch auf Gewährung von Arbeitslosenhilfe nach §§ 190, 192, 193, 198, 118, 119, 122 und 323 SGB III, weil die Vermutung von § 120 Abs. 2 SGB III widerlegt ist. Die Klägerin kann eine mindestens 30 Stunden wöchentlich umfassende berufliche, versicherungspflichtige Tätigkeit ausüben und neben dieser ordnungsgemäß ihre Studienleistungen erbringen. Sie kann unter Abbruch des Studiums eine vollschichtige Tätigkeit verrichten und ist im Falle eines Arbeitsangebotes dazu bereit. Der angefochtene Bescheid ist deshalb unter Verletzung von Rechten der Klägerin rechtswidrig und daher aufzuheben.

Die Klägerin erfüllte für den fraglichen Zeitraum die Voraussetzungen für eine Gewährung von Arbeitslosenhilfe nach § 190 SGB III.

Sie hat nach Verbrauch des Arbeitslosengeldanspruches in der Vorfrist Arbeitslosengeld bezogen (§§ 190 Nr. 3, 4, 192 SGB III) und ist im Sinne von §§ 193, 194 SGB III bedürftig. Sie hat sich auch bei der Beklagten persönlich arbeitslos gemeldet. Dies ist zwischen den Beteiligten zutreffend unstreitig.

Die Klägerin stand im Sinne von §§ 190 Nr. 1, 118 Abs. 1 Nr. 1 SGB III nicht in einem Beschäftigungsverhältnis und befand sich im Sinne von §§ 190 Nr. 1, 118 Abs. 1 Ziff. 2, 119 Abs. 1, 2, 3 SGB III auf der Beschäftigungssuche. Sie war insbesondere arbeitsbereit und arbeitsfähig im Sinne von § 119 Abs. 3 Nr. 1 SGB III, weil sie eine versicherungspflichtige, mindestens 15 Stunden wöchentlich umfassende Beschäftigung unter den üblichen Bedingungen des für sie in Betracht kommenden Arbeitsmarktes aufnehmen und ausüben konnte und durfte. Die Klägerin war bereit, eine mindestens 15 Stunden wöchentlich, nämlich mindestens 30 Stunden wöchentlich, umfassende Beschäftigung aufzunehmen. Sie wäre auch hinsichtlich der Lage und Verteilung der Arbeitszeit arbeitsmarktüblich, weil die Klägerin fünf bis sechs Stunden werktags in der Hauptarbeitszeit 7.00 bis 13.30 Uhr zur Verfügung steht.

Diese Beschäftigung wäre auch versicherungspflichtig (davon geht die Beklagte – fälschlich – sogar für das Praktikum der Klägerin im Widerspruchsbescheid aus); die Vermutung des § 120 Abs. 2 SGB III ist widerlegt. Nach § 27 Abs. 4 SGB III sind Personen versicherungsfrei, die während der Dauer ihres Studiums als ordentliche Studierende einer Hochschule eine Beschäftigung ausüben. Dementsprechend vermutet § 120 Abs. 2 Satz 1 SGB III, dass ein arbeitsloser Student nur versicherungsfreie Beschäftigungen ausüben könne, wodurch Arbeitsfähigkeit und -bereitschaft im Sinne von § 119 SGB III ausschieden. Die Vermutung kann nach § 120 Abs. 2 Satz 2 SGB III widerlegt werden, wenn der Ausbildungsgang die Ausübung einer versicherungspflichtigen, mindestens 15 Stunden wöchentlich umfassenden Beschäftigung bei ordnungsgemäßer Erfüllung der in den Ausbildungs- und Prüfungsbestimmungen vorgeschriebenen Anforderungen zulässt. Da gemäß § 27 Abs. 4 SGB III eine Beschäftigung neben dem Studium versicherungsfrei ist, muss die Beschäftigung für den Betroffenen prägend sein (für die Versicherungspflicht muss er neben einer Beschäftigung studieren und darf nicht alsStudent nebenbei arbeiten). Dies ist hier der Fall.

Es handelt sich bei dem Studium der Klägerin um ein Studium, das nicht dem Erwerb des ersten Berufsabschlusses dient. Es soll nach den mehrfachen Berufsabschlüssen der Klägerin deren Chancen auf dem Arbeitsmarkt erweitern. Die Zeiten der Veranstaltungen sind gerade so gelegt, dass der Klägerin eine berufliche Tätigkeit zu den arbeitsmarktüblichen Arbeitszeiten möglich ist. Freiräume für das Selbststudium neben der beruflichen Arbeit sind insoweit ebenfalls hinreichend vorgesehen. Durch diese Gestaltung wird abgesichert, dass die Klägerin auch bei arbeitsmarktüblicher Beschäftigung die in den Ausbildungs- und Prüfungsbestimmungen vorgeschriebenen Anforderungen ordnungsgemäß erfüllen kann.

Die von der ständigen Rechtsprechung angenommene regelmäßige Beschäftigungszeitgrenze von 20 Stunden wöchentlich würde bei einer Arbeit der Klägerin von 30 Stunden pro Woche deutlich überschritten. Die Vorlesungs- Seminarzeiten liegen ausschließlich nach 14.00 bzw. 16.30 Uhr und umfassen insgesamt 17,5 Zeitstunden. Bei entsprechender Vor- und Nacharbeit sind weitere 17 Stunden anzusetzen, die in zwei Stunden jeweils am Montag und Donnerstag, zusätzlich einer weiteren Stunde pro Wochentag und acht Stunden am Wochenende aufgeteilt werden können und deshalb werktags eine Beschäftigung in den üblichen Zeiten zwischen 6.00 und 13.30 Uhr ohne Weiteres ermöglichen. Eine 30 Stunden wöchentlich umfassende Tätigkeit wäre der Klägerin mithin problemlos möglich gewesen. Dies hätte die Beklagte bei sorgfältiger Auswertung der ihr vorgelegten Unterlagen erkennen können/müssen.

Ausgehend von diesen Umständen ist die Kammer davon überzeugt, dass das Studium bereits konzeptionell und auch praktisch an einer möglichen laufenden beruflichen Tätigkeit der Klägerin ausgerichtet ist und deshalb diese und nicht das Studium für die Klägerin prägend ist. Versicherungspflicht im Sinne von § 27 Abs. 4 SGB III wäre bei einer Beschäftigung daher anzunehmen. Gleiches gilt für eine Tätigkeit neben dem von der Klägerin im Rahmen des Studiums absolvierten Praktikum, für das die Vor- und Nachbereitungszeit sogar entfiele.

Darüber hinaus ist die Vermutung des § 120 Abs. 2 Satz 1 SGB III ausnahmsweise im Falle der Klägerin auch deshalb widerlegt, weil sich die Kammer davon überzeugen konnte, dass die Klägerin tatsächlich bereit ist, jederzeit bei einem entsprechenden Arbeitsangebot das Studium notfalls zu Gunsten der Beschäftigung abzubrechen. Dies hat die Klägerin von Anfang an gegenüber der Beklagten mitgeteilt. Es erscheint insofern als glaubhaft, als es sich bei dem Studium nicht um die berufliche Erst- oder Zweitausbildung handelt, sondern vor allem der Verbreiterung der Marktchancen angesichts der sehr erheblichen Dauer der Arbeitslosigkeit dienen soll. Dies konnte die Klägerin durch die umfangreichen Bewerbungen über die gesamte Zeit des Studiums belegen. Aus ihren Bewerbungsschreiben lässt sich nicht entnehmen, dass sie sich nur für Teilzeitbeschäftigungen beworben hätte. Den Willen der Klägerin, unbedingt und so schnell als möglich wieder in eine vollschichtige Erwerbstätigkeit gelangen zu wollen, sieht deshalb die Kammer als gegeben an. In einem solchen Fall ist von Verfügbarkeit auch für vollschichtige Tätigkeiten trotz eines laufenden Studiums auszugehen.

Damit war die Klägerin im Sinne von §§ 190 Nr. 1, 118, 119 SGB III arbeitslos.

Somit lagen aber alle Anspruchsvoraussetzungen für den Bezug von Arbeitslosenhilfe vor.

Die Kostenentscheidung ergeht nach § 193 Sozialgerichtsgesetz. Sie berücksichtigt den Erfolg der Rechtsverfolgung.
Rechtskraft
Aus
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