S 81 KR 323/99

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
SG Berlin (BRB)
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
81
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 81 KR 323/99
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Beklagte wird unter Aufhebung ihres Bescheides vom 4. Januar 1999 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 19. April 1999 verurteilt, den Kläger ab dem 12. April 2005 von den Kosten für seine Behandlung mittels Immunglobulin 7 S (Octagam) freizustellen. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen. Die Beklagte erstattet dem Kläger die Hälfte seiner außergerichtlichen Kosten.

Tatbestand:

Der Kläger begehrt, ihm die Kosten für mehrere Behandlungen mit dem außerhalb seiner arzneimittelrechtlichen Zulassung eingesetzten Immunglobulinpräparat Octagam zu erstatten sowie ihn auch zukünftig von den Kosten für eine Behandlung mit außerhalb ihrer Zulassung eingesetzten Immunglobulinen freizustellen.

Der 1959 geborene Kläger leidet seit Ende 1996 an einer schubförmig verlaufenden Multiplen Sklerose. Mit Schreiben vom 9. Dezember 1998 beantragte für ihn Frau Prof. Dr. med. bei der Beklagten die Übernahme der Kosten von etwa 18000 DM jährlich für eine Therapie mittels Immunglobulin 7 S.

Die Beklagte bat daraufhin den Medizinischen Dienst der Krankenkasse (MDK) Berlin um Stellungnahme. Dieser wies daraufhin, dass Immunglobulin 7 S zur Behandlung der Multiplen Sklerose nicht zugelassen sei, Frau Prof. Dr. keine Zulassung zur vertragsärztlichen Behandlung besitze und überdies eine alternative Behandlungsform mittels Copaxone bestehe.

Mit Bescheid vom 23. Dezember 1998 lehnte die Beklagte unter Bezugnahme auf die Stellungnahme des MDK den Antrag des Klägers ab. Am 4. Januar 1999 erließ sie erneut einen ablehnenden Bescheid. Der Kläger hatte am Bescheid vom 23. Dezember 1998 das Fehlen einer Rechtsmittelbelehrung bemängelt.

Gegen den Bescheid der Beklagten vom 4. Januar 1999 erhob der Kläger am 15. Januar 1999 Widerspruch mit der Begründung, für ihn komme ausschließlich die Behandlung mittels Immunglobulin 7 S in Betracht, dessen Wirksamkeit insbesondere die so genannte Fazekas-Studie belegt habe.

Nachdem auch der den Kläger behandelnde Neurologe und Vertragsarzt, Herr , der Entscheidung der Beklagten widersprochen hatte, bat die Beklagte den MDK erneut um Stellungnahme. Wegen des Inhalts derselben wird auf Bl. 19 – 20 VA verwiesen.

Am 5. März 1999 wurde Kläger erstmals mittels einer Infusion Immunglobulin 7 S (Octagam) behandelt. Weitere Behandlungen folgten. Die ersten vier Male verordnete Herr Hoffmann das Präparat Octagam auf Privatrezept. Später stellte er Kassenrezepte aus. Die Kosten der Behandlungen in Höhe von 9033,52 DM trug der Kläger.

Mit Widerspruchsbescheid vom 19. April 1999 wies die Beklagte den Widerspruch des Klägers unter Hinweis auf die fehlende Zulassung von Immunglobulinen für die Behandlung der Multiplen Sklerose als unbegründet zurück.

Am 7. Mai 1999 hat der Kläger Klage erhoben und gleichzeitig die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes beantragt, diesen Antrag jedoch mittlerweile wieder zurückgenommen. Er ist der Meinung, dass die vom Bundessozialgericht in seiner Entscheidung vom 19. März 2002 aufgestellten Kriterien in seinem Fall erfüllt seien. Es bestehe aufgrund der Datenlage die begründete Aussicht, dass mit den in Rede stehenden Immunglobulinen ein Behandlungserfolg zu erzielen sei. Dies ergebe sich aus zahlreichen Veröffentlichungen, in denen Erkenntnisse publiziert worden seien, die über Qualität und Wirksamkeit der Präparate bei der Behandlung der schubförmig verlaufenden Multiplen Sklerose nachprüfbare Aussagen zuließen und aufgrund derer in den einschlägigen Fachkreisen Konsens über einen voraussichtlichen Nutzen besteh. Wegen der Einzelheiten seines Vortrags wird auf die Schriftsätze des Klägers vom 17. Dezember 1999 (Bl. 47 – 51 GA), vom 26. Oktober 2001 (Bl. 106 – 107 GA), vom 8. November 2003 (Bl. 173 – 176 GA) und vom 11. Dezember 2004 (Bl. 233 – 255 GA) verwiesen.

Er beantragt, 1. die Beklagte unter Aufhebung deren Bescheids vom 4. Januar 1999 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 19. April 1999 zu verurteilen, ihm die Kosten in Höhe von 9033,52 DM für die im Jahre 1999 durchgeführten Behandlungen nebst Zinsen in Höhe von 4 % für die Zeit vom 26. Mai 1999 bis 30. April 2000 sowie 5 % über dem Basiszinssatz für die Zeit ab dem 1. Mai 2000 zu erstatten. 2. ihn auch in Zukunft von den Kosten für eine Behandlung mit außerhalb ihrer Zulassung eingesetzten Immunglobulinen freizustellen.

Die Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.

Sie ist der Auffassung, dass die vom Bundessozialgericht in seiner Entscheidung vom 19. März 2002 aufgestellten Kriterien nicht erfüllt seien. Hierbei bezieht sie sich im Wesentlichen auf eine Stellungnahme der Arbeitsgruppe M 5 "Arzneimittel" der MDK-Gemeinschaft aus April 2001. Wegen des Inhalts dieser Stellungnahme wird auf Bl. 124 – 141 GA Bezug genommen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Tatbestandes wird Bezug genommen auf den Inhalt der Gerichtsakten und der Verwaltungsakten der Beklagten, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren.

Das Gericht hat von Herrn Hoffmann, dem behandelnden Neurologen des Klägers, einen Befundbericht eingeholt. Wegen des Inhalts dieses Berichts wird auf Bl. 89 – 98 GA verwiesen. Das Gericht hat zudem Beweis erhoben durch Einholung eines Sachverständigengutachtens. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf Bl. 206 – 222 GA verwiesen. Auf Antrag des Klägers hat das Gericht darüber hinaus Frau Dr. , die Leiterin des Fachgebiets Mono- und polykonale Antikörper am Paul-Ehrlich-Institut (PEI), Bundesamt für Sera und Imstofe zu der Behauptung des Klägers, dass das PEI die Zulassungserweiterung für Immunglobuline auf europäischer Ebene betreibe, um Stellungnahme gebeten sowie um Mitteilung, ob die auf dessen Internetseiten veröffentlichte Einschätzung des PEI zur Wirksamkeit und Sicherheit der Immunglobulin-Anwendung bei Multipler Sklerose weiterhin gelte. Auf das Antwortschreiben von Frau Dr. vom 26. Januar 2005 wird Bezug genommen (Bl. 260 – 261 GA). Mit Schreiben vom 5. April 2005 hat Frau Dr. ihr Antwortschreiben vom 26. Januar 2005 ergänzt beziehungsweise korrigiert. Wegen der Einzelheiten des Schreibens wird auf Bl. 275 – 276 Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Klage ist zulässig, jedoch nur teilweise begründet. Der Kläger kann für die Zukunft aus § 13 Abs. 3 SGB V analog beziehungsweise §§ 27 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 i.V.m. § 31 Abs. 1 SGB V die Freistellung von den Kosten seiner Behandlung mittels Immungloblin respektive seine Versorgung hiermit beanspruchen. Nicht beanspruchen dagegen kann er die Erstattung der Kosten, die im Rahmen der in der Vergangenheit durchgeführten Behandlungen angefallenen sind.

Die Behandlung der Multiplen Sklerose mit dem für dieses Anwendungsgebiet nicht zugelassenen Immunglobulin war im Jahre 1999 noch keine Leistung der gesetzlichen Krankenkassen. Sie ist es erst jetzt geworden. Die Kriterien, unter denen nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (Urteil vom 19.03.2002, B 1 KR 37/00 R.) ein Versicherter die Versorgung mit einem Medikament für ein Anwendungsgebiet, zu dem es arzneimittelrechtlich nicht zugelassen ist, beanspruchen kann, sind seit 2005 gegeben, nicht jedoch waren sie es im Jahre 1999.

Das Bundessozialgericht verlangt, dass es 1) um die Behandlung einer schwerwiegenden (lebensbedrohlichen oder die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigenden) Erkrankung geht, 2) keine andere Therapie verfügbar ist und 3) aufgrund der Datenlage die begründete Aussicht besteht, dass mit dem betreffenden Präparat ein Behandlungserfolg (kurativ oder palliativ) erzielt werden kann. Damit letzteres angenommen werden kann, müssen Forschungsergebnisse vorliegen, die erwarten lassen, dass das Arzneimittel für die betreffende Indikation zugelassen werden kann. Davon kann ausgegangen werden, wenn entweder die Erweiterung der Zulassung bereits beantragt ist und die Ergebnisse einer kontrollierten klinischen Prüfung der Phase III (gegenüber Standard oder Placebo) veröffentlicht sind und eine klinisch relevante Wirksamkeit respektive einen klinisch relevanten Nutzen bei vertretbaren Risiken belegen oder außerhalb eines Zulassungsverfahrens gewonnene Erkenntnisse veröffentlicht sind, die über Qualität und Wirksamkeit des Arzneimittels in dem neuen Anwendungsgebiet zuverlässige, wissenschaftlich nachprüfbare Aussagen zulassen und auf Grund deren in den einschlägigen Fachkreisen Konsens über einen voraussichtlichen Nutzen in dem vorgenannten Sinne besteht.

Im Jahre 1999 fehlte es noch an dem dritten der oben genannten Kriterien. Dies hat das Landessozialgericht Berlin in seinem Urteil vom 2. April 2003, L 9 KR 70/00 (dort Bl. 12 – 14), dem sich die Kammer anschließt, ausführlich begründet. Auf das Urteil, das den Beteiligten bekannt ist, wird deshalb gemäß § 136 Abs. 3 SGG Bezug genommen. Hinzugefügt sei, dass Frau Dr. bestätigt hat, dass Immunglobulin zur Behandlung der Multiplen Sklerose weder in der Vergangenheit, noch in der Gegenwart zugelassen war beziehungsweise ist und dass auch kein Zulassungsverfahren läuft, insbesondere nicht für Octagam. Die in der Vergangenheit durchgeführten Studien hätten keine verlässlichen Informationen zur Wirksamkeit von Immunglobulin bei der Behandlung der Multiplen Sklerose ergeben und hätten demnach nicht hingereicht, ein erweitertes Zulassungsverfahren zu rechtfertigen. Die auf seinen Internetseiten veröffentlichte Einschätzung des PEI, dass die in der Vergangenheit durchgeführten Studien und Fallberichte noch nicht die Anforderungen erfüllt hätten, die an Studien zum Nachweis der Wirksamkeit und Sicherheit der Immunglobulin-Anwendung bei Multipler Sklerose gestellt würden, hätten deshalb auch weiterhin gegolten.

Seit 2005 jedoch liegen die Voraussetzungen, die das Bundessozialgericht in seinem Urteil vom 19. März 2002 aufgestellt hat, vor. Der Kläger leidet an einer schwerwiegenden Erkrankung, die – davon ist nach dem Gutachten von Prof. Dr. Marx auszugehen – mit keiner anderen Therapie behandelt werden kann. Es besteht zudem seit kurzem aufgrund außerhalb eines Zulassungsverfahrens gewonnener und veröffentlichter Erkenntnisse, die über Qualität und Wirksamkeit von Immunglobulin bei Multipler Sklerose zuverlässige, wissenschaftlich nachprüfbare Aussagen zulassen, in den einschlägigen Fachkreisen Konsens über einen voraussichtlichen Nutzen in dem vorgenannten Sinne. Davon ist nach dem Schreiben Frau Dr. vom 5. April 2005 auszugehen. Denn in diesem Schreiben teilt sie mit, es sei vor kurzem eine randomisierte, placebo-kontrollierte, doppelblinde Studie über den Einsatz von IVIG in der frühen Multiplen Sklerose, also nach dem ersten entmarkenden Ereignis, publiziert worden, die zeige, dass die Gabe von IVIG signifikant die Wahrscheinlichkeit eines neuen Schubes reduziere. Eine weitere Studie bestätige, dass durch die Behandlung der Multiplen Sklerose mittels IVIG die Schubrate bei Schwangeren reduziert werde. Ein dritte, vor kurzem veröffentlichte Studie, bei der allerdings – wie bei den beiden anderen Studien – nicht bekannt sei, welches Immunglobulin verwandt wurde, habe ebenfalls die Wirksamkeit von IVIG durch eine signifikante Reduktion der Schubrate bestätigt. Die nunmehr vorliegende Datenlage sei mithin deutlicher als bislang so zu bewerten, dass die begründete Aussicht bestehe, es könne mit Immungloblin ein Behandlungserfolg erzielt werden. Prof. Dr. Marx hat in seinem Gutachten ebenfalls angegeben, dass in Deutschland Konsens über die Wirksamkeit des Einsatzes von Immunglobulin bei Multipler Sklerose bestehe.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 SGG und folgt dem Ausgang des Verfahrens.
Rechtskraft
Aus
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