S 77 AL 1761/04

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
SG Berlin (BRB)
Sachgebiet
Arbeitslosenversicherung
Abteilung
77
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 77 AL 1761/04
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
1. Der Bescheid der Beklagten vom 25. Juni 2003 in der Gestalt des undatierten Widerspruchsbescheides (Zugang am 10. März 2004) wird aufgehoben. 2. Die Beklagte wird verurteilt, dem Kläger über den 29. November 2003 hinaus Arbeitslosenhilfe unter Anrechnung von Ehegatteneinkommen zu gewähren. 3. Die Beklagte hat dem Kläger dessen außergerichtliche Kosten des Rechtsstreites zu erstatten. 4. Die Berufung wird zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über die Zahlung von Arbeitslosenhilfe.

Der im Oktober 1945 geborene Kläger ist seit 1970 verheiratet. Seine Ehefrau wurde im Januar 1949 geboren. Er bezog Arbeitslosengeld zunächst bis 13. Juni 2002. Anschließend hatte ihm die Beklagte Arbeitslosenhilfe bis 13. Juni 2003 bewilligt. Die Arbeitslosenhilfe beruhte auf einem Bemessungsentgelt von 635 Euro; nach einem Anrechnungsbetrag wegen Einkommens der Ehefrau von wöchentlich 27,30 Euro betrug der tägliche Zahlbetrag 23,66 Euro. Am 14. Mai 2003 beantragte der Kläger die Fortzahlung der Arbeitslosenhilfe. Dabei gab er ein Einkommen der Ehefrau mit 1.480 Euro brutto bzw. 976,83 Euro netto und einen Arbeitsweg von vier Kilometern (einfache Strecke) an. Die Eheleute verfügten auf Girokonten, Sparbüchern und bar über ca. 180 Euro. Sie verfügten weiter zum Antragszeitpunkt über verschiedene Versicherungen mit Rückkaufswerten von insgesamt 55.268,09 Euro. Die Beklagte lehnte mit Bescheid vom 25. Juni 2003 die Gewährung von Arbeitslosenhilfe ab, weil die Eheleute über Vermögen von 55.448,43 Euro verfügen würden, dessen mögliche Verwertung den Eheleuten zuzumuten sei. Nach Berücksichtigung eines Freibetrages von 41.160 EUR sei ein Vermögen von 14.288 Euro bei der Prüfung der Bedürftigkeit zu berücksichtigen und schließe Bedürftigkeit aus. Dagegen wandte sich der Kläger mit seinem Widerspruch vom 23. Juli 2003. Die Vertrauensschutzregelung nach § 4 AlhiVO könne nicht gesplittet werden. Außerdem habe der Bewilligungszeitraum wegen eines länger zu gewährenden Arbeitslosengeldes erst am 1. Dezember 2002 begonnen und würde dementsprechend später enden. Die Beklagte wies den Widerspruch mit undatiertem Widerspruchsbescheid, der den Bevollmächtigten des Klägers am 10. März 2004 zuging, zurück. Für die Ehegatten seien jeweils unterschiedliche Freibeträge anzusetzen, weil die Ehefrau erst 1949 geboren sei.

Der Kläger verfolgt mit seiner Klage vom 23. März 2004 sein Begehren weiter. Die Beklagte gewährte dem Kläger mit Bescheid vom 8. März 2004 Arbeitslosengeld bis 29. November 2002. Sie erkannte in der mündlichen Verhandlung einen Anspruch des Klägers auf Zahlung von Arbeitslosenhilfe bis einschließlich 29. November 2003 an. Dieses Teilanerkenntnis ist vom Kläger angenommen worden.

Der Kläger beantragt nunmehr:

1. den Bescheid der Beklagten vom 25. Juni 2003 in der Gestalt des undatierten Widerspruchsbescheides (Zugang am 10. März 2004) aufzuheben, 2. die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger über den 29. November 2003 hinaus Arbeitslosenhilfe unter Anrechnung von Einkommen der Ehefrau des Klägers zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Der Kammer haben außer den Prozessakten die Verwaltungsakten der Beklagten vorgelegen. Sie waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung. Wegen der Einzelheiten des Sachverhaltes und des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf die Schriftsätze und den Akteninhalt Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Der Kläger hat Anspruch auf Arbeitslosenhilfe auch im Zeitraum seit dem 30. November 2003. Dem Kläger stand im fraglichen Zeitraum kein Vermögen zur Verfügung, das den Freibetrag nach § 1 Abs. 2 AlhiVO überschritten hätte. Der angefochtene Bescheid ist deshalb rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten.

Anspruch auf Arbeitslosenhilfe hat nach § 190 Abs. 1 Nr. 5, 193 Drittes Buch Sozialgesetzbuch (SGB III), wer bedürftig ist. Nicht bedürftig ist ein Arbeitsloser, solange mit Rücksicht auf sein Vermögen, das Vermögen seines nicht dauernd getrennt lebenden Ehegatten die Erbringung von Arbeitslosenhilfe nicht gerechtfertigt ist (§ 193 Abs. 2 SGB III). Dazu bestimmt § 1 Abs. 2 der nach § 206 SGB III ergangenen AlhiVO einen vom berücksichtigungsfähigen Vermögen abzusetzenden Freibetrag. Dieser Freibetrag hatte in der Fassung der AlhiVO vom 13. Dezember 2001 (mit Wirkung ab 1. Januar 2002) eine Höhe von 520 Euro je vollendetem Lebensjahr des Arbeitslosen oder seines Partner, jeweils höchstens 33.800 Euro. Diese Regelung wurde durch Art. 11 Nr. 1 des Ersten Gesetzes für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt vom 23. Dezember 2002 (Hartz-I-Gesetz) mit Wirkung ab 1. Januar 2003 (Art. 14 Abs. 1) geändert. Der Betrag von 520 Euro wurde durch den Wert 200 Euro ersetzt und die jeweiligen Höchstfreibeträge pro Person wurden auf 13.000 Euro reduziert. Art. 11 Nr. 3 fügte der Übergangsvorschrift der AlhiVO (§ 4) einen zweiten Absatz mit folgendem Wortlaut an: "§ 1 Abs. 2 und § 3 Abs. 1 gelten in der bis zum 31. Dezember 2002 geltenden Fassung für die Dauer der laufenden Bewilligung weiter, wenn die Voraussetzungen eines Anspruches auf Arbeitslosenhilfe im Zeitraum vom 1. Oktober 2002 bis zum 31. Dezember 2002 vorgelegen haben. Abweichend von Satz 1 ist § 1 Abs. 2 in der bis zum 31. Dezember 2002 geltenden Fassung für Personen weiterhin anzuwenden, die bis zum 1. Januar 1948 geboren sind."

Damit gilt die Neufassung nicht für Personen, die bis zum 1. Januar 2003 das 55. Lebensjahr vollendeten. Die Kammer legt dabei diese Vorschrift so aus, dass für die Weitergeltung des bisherigen Rechtes genügt, wenn ein Ehegatte bis zum 1. Januar 1948 geboren wurde. Zwar ist der Beklagten zuzugeben, dass ihre Auslegung der Vorschrift nach Wortlaut und Systematik grundsätzlich möglich ist. Jedoch ist es nach Anwendung der maßgeblichen Auslegungsmethoden nicht die einzige mögliche Auslegung. Die von der Kammer gewählte Auslegung wird ebenso vom Wortlaut gedeckt. Sie hat den systematischen und teleologischen Vorzug, dass sie die besondere Schutzbedürftigkeit der gelebten Ehe nach Art. 6 Abs. 1 Grundgesetz und den Zweck der Vorschrift, bestehendes Vertrauen der rentennahen Jahrgänge zu schützen, für die gelebte Ehe berücksichtigt. Ein Schutz für getrennt lebende Ehegatten ist wegen § 193 Abs. 1 SGB III nicht vorgesehen, weil auf das Vermögen des getrennt lebenden Ehegatten gar nicht zuzugreifen ist. Unter diesem Gesichtspunkt erscheint es der Kammer aus teleologischen und systematischen Gründen vorzugswürdig, wenn der Vertrauensschutz der Regelung des § 4 Abs. 2 Satz 2 AlhiVO bereits dann greift, wenn einer der beiden Ehegatten zu den von der Übergangsvorschrift erfassten rentennahen Jahrgängen gehört. Wegen des Wortlautes der Regelung kann es nämlich nicht darauf ankommen, dass der Arbeitslose bei Inkrafttreten der Vorschriften 55 Jahre alt war, denn das Gesetz spricht von Personen und nicht etwa vom Arbeitslosen oder Berechtigten. Da regelmäßig die Frauen in den Ehen der fraglichen Generation jünger als die Ehemänner sind und Frauen in besonderen Maße von der Langzeitarbeitslosigkeit, die zum Arbeitslosenhilfe-Bezug führt, betroffen sind, vermeidet die Auslegung durch die Kammer eine EU-rechtswidrige indirekte Diskriminierung von Frauen mit regelmäßig ohnehin geringeren Rentenanwartschaften und sichert diesen eine angemessene Altersversorgung. Gerade auch ein Fall wie der vorliegende bestätigt dies. Während dem arbeitslosen älteren Ehemann (mit regelmäßig höherer Altersversorgungsanwartschaft) bei anderer Auslegung ein höherer Schutzbetrag eingeräumt würde, würde erwartet, dass die noch erwerbstätige Gattin sich mit einem zu schützenden Vermögen, das nur den Umfang von zwei Fünftel desjenigen des älteren Ehegatten hätte, begnügte, von den eigenen Erwerbseinkünften und ihrem nicht geschützten Vermögen den Ehegatten unterhielte und für die eigene Altersvorsorge gerade nichts mehr tun könnte. Sie würde damit gegenüber der getrennt lebenden Ehefrau, die ebenso regelmäßig wegen der Vermögenssituation unter den Ehegatten nicht unterhaltsverpflichtet wäre, deutlich benachteiligt. Auch wenn diese Auslegung nicht an sich zwingend erscheint, so führt die zentrale Auslegungsregel des § 2 Abs. 2 letzter Teilsatz SGB I dazu, dass die von der Kammer bevorzugte Auslegung zwingend wird. Diese Auslegungsvorschrift gilt selbstverständlich auch für Sozialrecht auf Verordnungsrang, wobei die Regelung hier ja durch Parlamentsgesetz getroffen wurde. Sie greift gerade dann, wenn mehrere Auslegungsmöglichkeiten vorhanden sind und die Regelungszwecke und –systematik nicht zu einem eindeutigen Ergebnis führen. Da im vorliegenden Fall der Kläger vor 1948 geboren wurde, gilt der erhöhte Freibetrag der alten Fassung für beide Eheleute. Es errechnet sich somit ein Gesamtfreibetrag von 58.240 Euro ([58+54]´520). Das vorhandene Vermögen der Eheleute erreicht diesen Freibetrag nicht. Der Kläger ist deshalb bedürftig. Auch unter Berücksichtigung des Einkommens der Ehefrau des Klägers, das nach Berechnung der Kammer mit 84,05 Euro wöchentlich auf die Arbeitslosenhilfe des Klägers anzurechnen ist, ergibt sich ein Zahlbetrag der etwa bei 15 Euro (14,95 Euro) täglich liegen dürfte. Die weiteren Anspruchsvoraussetzungen sind erfüllt; dies ist zwischen den Beteiligten zutreffend unstreitig. Die Beklagte war deshalb antragsgemäß zur Gewährung von Arbeitslosenhilfe über den 29. November 2003 hinaus zu verurteilen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Sie berücksichtigt den Erfolg der Rechtsverfolgung.

Die Berufung war wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Sache zuzulassen; sie ist aber bereits wegen des Beschwerdewerts für die Beklagte zulässig.
Rechtskraft
Aus
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