S 115 AS 30483/08

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
SG Berlin (BRB)
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
115
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 115 AS 30483/08
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Der Aufhebungs- und Erstattungsbescheid der Beklagten vom 20. Dezember 2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25. April 2008 wird aufgehoben, soweit damit die Bewilligung der Regelleistung teilweise in Höhe von 1.529,74 EUR aufgehoben wurde. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen. Außergerichtliche Kosten der Klägerin sind zu 2/3 erstattungsfähig.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten um die Rechtmäßigkeit der teilweisen Aufhebung einer Leistungsbewilligung nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch – Grundsicherung für Arbeitssuchende (SGB II) für den Zeitraum vom 01. Februar 2007 bis 30. November 2007 und der daraus resultierenden Rückforderung in Höhe von 2.382,32 EUR. Die 1954 geborene Klägerin bezieht Witwenrente und steht seit 2005 im Bezug von Leistungen nach dem SGB II; sie wohnte in Haushaltsgemeinschaft mit ihrem 1978 geborenen Sohn. Mit in den Verwaltungsakten nicht enthaltenen Bescheiden vom 28. November 2006 und 2. Juni 2007 wurden der Klägerin Leistungen für den streitgegenständlichen Zeitraum gewährt. Mit Fortzahlungsantrag vom 8. November 2007 teilte die Klägerin der Beklagten mit, dass ihre 1996 geborene Enkeltochter N E seit März 2007 in ihrem Haushalt wohne; laut Anmeldebescheinigung war sie dort am 18. Februar 2007 eingezogen. Für die Enkeltochter wurden monatlich 154,- EUR Kindergeld und ab August 2007 monatlich 66,33 EUR Waisenrente an die Klägerin gezahlt. Leistungen nach dem SGB XII wurden der Enkeltochter erst nach Antragstellung durch die Klägerin am 27. November 2007 bewilligt. Mit Bescheid vom 20. Dezember 2007 hob die Beklagte nach Anhörung vom 22. November 2007 die Leistungen für den streitgegenständlichen Zeitraum gestützt auf § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 und Nr. 4 SGB X zum Teil auf und forderte die Summe von 2.382,32 EUR von der Klägerin zurück. Dabei wurden die monatlichen Kindergeldzahlungen in Höhe von 154,- EUR in voller Höhe auf den Bedarf der Klägerin angerechnet und die von den Kosten der Unterkunft und Heizung in Höhe von monatlich 562,31 EUR bruttowarm anerkannten Kosten von 271,36 EUR monatlich um kalendermonatlich 90,70 EUR gemindert. Hiergegen legte die Klägerin unter dem 16. Januar 2008 Widerspruch ein und teilte mit, eine Begründung reiche sie nach. Mit Widerspruchsbescheid vom 25. April 2008 wies die Beklagte den Widerspruch als unbegründet zurück. Das Kindergeld sei als Einkommen anzurechnen gewesen, sodass die Regelleistung in Höhe von insgesamt 1.529,74 EUR aufzubeben gewesen sei; bewilligte Leistungen für Unterkunft und Heizung hätten in Höhe von insgesamt 852,58 EUR aufgehoben werden müssen, da der Klägerin nur noch ein Anteil von 1/3 an den Kosten für Unterkunft und Heizung zugestanden habe. Die Klägerin hat am 19. Mai 2008 Klage vor dem Sozialgericht (SG) Berlin erhoben und trägt zur Begründung vor, der Bedarf der Enkeltochter sei im streitgegenständlichen Zeitraum nicht gedeckt gewesen, das Sozialamt bewillige aber im Hinblick auf die erst im November 2007 erfolgte Antragstellung rückwirkend keine Leistungen. Die Klägerin beantragt, den Aufhebungs- und Erstattungsbescheid der Beklagten vom 20. Dezember 2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25. April 2008 aufzuheben. Die Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen. Zur Begründung verweist sie im Wesentlichen auf die angefochtenen Bescheide. Nach dem Termin zur Erörterung des Sachverhalts am 19. Dezember 2008 hat die Beklagte der Klägerin mit Änderungsbescheiden vom 10. Juli 2009 u. a. für den streitgegenständlichen Zeitraum ein Mehrbedarfszuschlag für Alleinerziehende in Höhe von 42,- EUR monatlich bewilligt und ausgezahlt sowie mitgeteilt, zu einer Änderung der hier streitgegenständlichen Bescheide führten diese Änderungen dennoch nicht, da der nachträglich bewilligte Mehrbedarf auch ausgezahlt wurde und die Klägerin so eine Nachzahlung in Höhe von 812,- EUR erhalten habe. Wegen des Sach- und Streitstandes im Einzelnen sowie wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakte sowie die beigezogene, die Klägerin betreffende Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die nach § 54 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässige Anfechtungsklage hat in der Sache teilweise Erfolg. Der angefochtene Aufhebungs- und Erstattungsbescheid der Beklagten vom 20. Dezember 2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25. April 2008 ist in Teilen rechtswidrig und verletzt die Klägerin dadurch in ihren Rechten. Er ist rechtswidrig, soweit der Klägerin für ihre Enkeltochter geleistetes Kindergeld als Einkommen angerechnet wird. Im Übrigen ist er rechtmäßig.

Die rückwirkende Aufhebung der Bewilligung nach § 48 Abs. 1 Satz 2 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch – Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz (SGB X) und die hieraus folgende Rückforderung der entsprechenden Überzahlung nach § 50 Abs. 1 SGB X scheitern nicht von vornherein - auch nicht teilweise - daran, dass die Beklagte dem Sozialhilfeträger durch ihre Überzahlung Aufwendungen für die Hilfe für Lebensunterhalt der Enkeltochter der Klägerin erspart hätte. Das überzahlte Arbeitslosengeld II kann nicht nachträglich als Sozialhilfe gewertet werden. Die Erfüllungsfiktion des § 107 Abs. 1 SGB X greift im vorliegenden Fall mangels Erstattungsanspruchs nicht ein. Denn ein Erstattungsanspruch der Beklagten gegen den Sozialhilfeträger besteht nicht. Ein solcher ist - nach § 103 Abs. 3 sowie § 105 Abs. 3 SGB X, also den hier denkbarerweise einschlägigen Erstattungsvorschriften (bei nachträglichem Wegfall der Leistungspflicht bzw. bei Unzuständigkeit des Leistungsträgers) - dann ausgeschlossen, wenn dem Sozialhilfeträger im Leistungszeitraum nicht bekannt war, dass die Voraussetzungen für seine Leistungspflicht vorlagen. Diese Einschränkung ergibt sich bereits aus dem materiellen Leistungsrecht, wonach die Sozialhilfe einsetzt, sobald dem Träger der Sozialhilfe bekannt wird, dass die Voraussetzungen für die Gewährung vorliegen. Leistungen für einen vergangenen Zeitraum, für den dem Sozialhilfeträger der Bedarf nicht bekannt war, sind grundsätzlich ausgeschlossen. So liegt der Fall auch hier, weil dem Sozialhilfeträger die Bedürftigkeit der Enkeltochter der Klägerin nicht bekannt war.

Da der Ausgangsbewilligungsbescheid nicht wegen der Änderung der Verhältnisse nach seinem Erlass von Anfang an rechtswidrig sein konnte, kommt hier als Rechtsgrundlage für die Aufhebung nur § 48 SGB X in Betracht. Gemäß § 48 Abs. 1 Satz 2 SGB X soll der Verwaltungsakt mit Wirkung vom Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse u. a. aufgehoben werden, wenn der Betroffene einer durch Rechtsvorschrift vorgeschriebenen Pflicht zur Mitteilung wesentlicher für ihn nachteiliger Änderungen der Verhältnisse vorsätzlich oder grob fahrlässig nicht nachgekommen ist (Nr. 2). Nachdem die Klägerin jedenfalls in den Antragsformularen ausdrücklich darauf hingewiesen worden ist, dass sie unverzüglich mitzuteilen habe, wenn sich (leistungsrelevante) Änderungen ergeben, was im Falle des Einzugs eines weiteren Familienmitgliedes in die Wohnung, deren Miete durch die Beklagte nach Kopfteilen getragen wird, offensichtlich der Fall ist, kann der Klägerin der Vorwurf der grob fahrlässigen Verletzung dieser Mitwirkungspflicht nicht erspart werden. Demnach ist die Aufhebung insoweit nicht zu beanstanden. Durch den Einzug der Enkeltochter und ab diesem Zeitpunkt standen der Klägerin nur noch 1/3 statt 1/2 der Kosten der Unterkunft und Heizung zu.

Zwar muss nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) auch im Rahmen von § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB X untersucht werden, ob ein so genannter atypischer Fall vorliegt, der die Beklagte hätte veranlassen müssen, bei Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzungen noch nach pflichtgemäßem Ermessen darüber zu entscheiden, ob wegen der besonderen Lage des Falles ganz oder teilweise von einer rückwirkenden Aufhebung des Bewilligungsbescheides abzusehen war. Denn nach § 48 Abs. 1 Satz 2 SGB X "soll" der Verwaltungsakt mit Wirkung vom Zeitpunkt der Veränderung der Verhältnisse aufgehoben werden, wenn die Voraussetzungen der Nrn. 1 bis 4 vorliegen. Das bedeutet, dass die Behörde im Regelfall den Verwaltungsakt aufzuheben, in so genannten "atypischen Fällen" aber vorher ein Ermessen auszuüben hat (st. Rspr., vgl. u. a. BSG, Urteil vom 23.03.1995, Az.: 13 RJ 39/94, juris, sowie SozR 3-1300 § 48 Nr. 3; SozR 3-4100 § 115 Nr. 1; SozR 3-4100 § 103 Nr. 47 jeweils m. w. N.). Einen atypischen Fall hat die Rechtsprechung des BSG angenommen, wenn das Einkommen des Betroffenen bei der rückwirkenden Aufhebung des Bewilligungsbescheides im Nachhinein unter den Sozialhilfesatz sinken würde. Die Härte liegt in diesem Fall darin, dass er die Sozialhilfeansprüche, die ihm bei rechtzeitiger Klärung zugestanden hätten, für die Vergangenheit nicht mehr geltend machen kann. Ein atypischer Fall ist stets gegeben, wenn der Betroffene oder ein Angehöriger seiner Bedarfsgemeinschaft infolge des Wegfalls jener Sozialleistung, deren Bewilligung rückwirkend aufgehoben wurde, im Nachhinein unter den Sozialhilfesatz sinken oder vermehrt sozialhilfebedürftig würde (BSG, Urteil vom 12.12.1995, Az.: 10 RKg 9/95, Urteil vom 31.10.1991, Az.: 7 RAr 60/89, sowie SozR 3-1300 § 48 Nr. 37 unter Hinweis auf die zur Erstattung sog. Urteilsleistungen im Rahmen des § 50 SGB X ergangenen Entscheidungen, vgl. BSGE 57, 138, 145). Es entsteht dadurch ein zusätzlicher Schaden, dass Sozialhilfeansprüche entgangen sind, die zugestanden hätten, wenn die Klägerin die Leistungen rechtzeitig beantragt hätte. Damit hätte sie im Ergebnis wegen der Pflicht zur Rückzahlung solche Leistungen zu ersetzen, die ihr bzw. der Enkeltochter in der Vergangenheit als - weitere - Hilfe zum Lebensunterhalt zugestanden hätten. Das Vorliegen eines atypischen Falles ist somit hier naheliegend.

Jedoch kommt eine solche Ermessensausübung hier nach dem ausdrücklichen Willen des Gesetzgebers nicht in Betracht, da § 40 Abs. 1 Nr. 1 SGB II § 330 Abs. 1, 2, 3 Satz 1 und 4 SGB III für anwendbar erklärt. § 330 Abs. 3 Satz 1 SGB III bestimmt: Liegen die in § 48 Abs. 1 Satz 2 des Zehnten Buches genannten Voraussetzungen für die Aufhebung eines Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung vor, ist dieser mit Wirkung vom Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse aufzuheben. Er modifiziert also die Rechtsfolge des § 48 Abs. 1 Satz 2 SGB X insoweit, als er bestimmt, dass bei Vorliegen der Voraussetzungen für die Aufhebung des Verwaltungsakts mit Wirkung Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse an eine entsprechende Verwaltungsentscheidung obligatorisch ist ("ist aufzuheben"). Die Beklagte hat also auch in atypischen Fällen generell kein Ermessen auszuüben, sondern eine gebundene Entscheidung zu treffen (vgl. BSG, Urteil vom 05.06.2003, Az.: B 11 AL 70/02 R und Urteil vom 09.02.2006, Az.: B 7a AL 58/05 R, juris).

Im Falle einer so gegebenen Härte kommt allein der Lösungsweg des - ggf. teilweisen - Erlasses in Betracht, also einer Ausnahmeentscheidung darüber, ob von dem Grundsatz der rechtzeitigen und vollständigen Einnahmeerhebung aus Billigkeitsgründen Abstand genommen wird. Die insoweit erforderliche Ermessensentscheidung wird durch § 330 SGB III nicht ausgeschlossen. Die Behörde ist aber nicht verpflichtet, die Grundentscheidung mit einer Entscheidung über den Erlass der Erstattungsforderung zu verbinden (Hengelhaupt in: Hauck/Noftz, SGB III K § 330 m. w. N.). Hier kommt als Rechtsgrundlage § 44 SGB II in Betracht. Die Träger von Leistungen nach dem SGB II dürfen Ansprüche danach erlassen, wenn deren Einziehung nach Lage des einzelnen Falles unbillig wäre. Nicht geregelt ist, ob dies einen Antrag voraussetzt oder von Amts wegen erfolgt. In dem mit Zahlungsschwierigkeiten begründeten Widerspruch gegen den die Zahlungspflicht feststellenden Verwaltungsakt kann jedenfalls gleichzeitig ein konkludenter Antrag auf Erlass zu sehen sein; die Entscheidung ergeht regelmäßig durch Verwaltungsakt unter Ausübung pflichtgemäßen Ermessens (Hengelhaupt in: Hauck/Noftz, SGB II K § 44 Rn. 24, 35f.).

Ist die Aufhebungsentscheidung der Beklagten auch dem Grunde nach rechtmäßig, so doch nicht in der Höhe. Zu Unrecht hat die Beklagte das für die Enkeltochter gezahlte Kindergeld als Einkommen der Klägerin angerechnet. Nach § 11 Abs. 1 Satz 3 SGB II gilt bereits, dass das Kindergeld für zur Bedarfsgemeinschaft gehörende Kinder, soweit es bei dem jeweiligen Kind zur Sicherung des Lebensunterhalts benötigt wird, als Einkommen dem jeweiligen Kind zuzurechnen ist, da andern¬falls durch dieses Instrument nicht die Abhängigkeit des Kindes von Sozialgeld oder Arbeitslosengeld II beseitigt werden kann. Erst recht gilt dies, wenn das Kind, wie hier, nicht zur Bedarfsgemeinschaft gehört. Das Kindergeld soll aber auch innerhalb von Bedarfsgemeinschaften vorrangig zur Sicherung des Lebensunterhalts des Kindes verwendet werden. Zwar ist im Grundsatz das Kindergeld Einkommen dessen, der es erhält; aus dem Zweck des Kindergeldes folgt keine von der Auszahlung unabhängige Zuordnung als Einkommen des Kindes, denn ein Zweck des Kindergeldes ist es, die steuerliche Freistellung eines Einkommensbetrages in Höhe des Existenzminimums eines Kindes zu bewirken. Mit diesem wird Kindergeld nicht dem Kind selbst als Einkommen zur Sicherung seines Existenzminimums gewährt, sondern es bleibt der Teil des elterlichen Einkommens steuerfrei, den diese zur Existenzsicherung ihres Kindes benötigen. Den Eltern steht ein für ihre Kinder einsetzbares Einkommen sozialhilferechtlich allerdings erst zur Verfügung, wenn sie es nicht selbst zur Deckung ihres eigenen Existenzminimums benötigen (SG Düsseldorf, Urteil vom 29. Mai 2007, Az.: S 23 AS 3/06, juris). Die Enkeltochter hatte vorliegend keine anderen Einnahmen als Kindergeld und Waisenrente. Die Anrechung bei der Großmutter kommt nicht in Betracht (vgl. SG Düsseldorf a. a. O.). Der Aufhebungs- und Erstattungsbescheid war sonach in Höhe von 1.529,74 EUR aufzuheben.

Die Klage konnte nach alledem nur teilweise Erfolg haben.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG und berücksichtigt der Höhe nach das Obsiegen der Klägerin.

Die Berufung ist bereits nach §§ 143, 144 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGG zulässig.
Rechtskraft
Aus
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