S 37 AS 26006/15 ER

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
SG Berlin (BRB)
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
37
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 37 AS 26006/15 ER
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
Sind Selbsthilfemöglichkeiten des Betroffenen ausgeschöpft, kann der SGB II-Träger bei vollzogener Energiesperre die Gewährung eines Darlehens zur Wiederherstellung der Versorgung nur in atypischen Fällen (z. B. wiederholte mutwillige Verschuldung) ablehnen.

Auf einen Eilantrag beim Zivilgericht kann der Antragsteller nur verwiesen werden, wenn Anhaltspunkte für eine verfahrensfehlerhafte Energiesperre ersichtlich sind.


Nach vollzogener Energiesperre hilft ein Wechsel des Energieversorgers nicht. § 14 Abs. 4 StromnetzzugangsVO gibt keinen Anspruch auf Wiederherstellung der Versorgung.
Der Antragsgegner wird im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes verpflichtet, dem Antragsteller ein Darlehen über 1.412,54 EUR im Wege einer Direktzahlung an den Stromversorger zu gewähren. Das Darlehen ist mit der Maßgabe zu gewähren, dass der Antragsteller dieses erst nach Rückzahlung der mit den Bescheiden vom 7.5.2015 und vom 16.12.2015 gewährten Darlehen tilgen muss. Der Antragsgegner trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Antragstellers.

Gründe:

I.

Der Antragsteller (Ast.) bezieht seit Jahren Leistungen nach dem SGB II. Er ist u. a. wegen einer Hirnschädigung und einer Anpassungsstörung schwerbehindert. Seit dem 30.6.2015 besteht eine Betreuung.

Die vom Ast. unterhaltene Wohnung verfügt für die Beheizung und das Kochen über eine Gastherme und einen Gaskochherd. Die Gasversorgung war wegen hoher Energieschulden gesperrt worden. Der Ast. hatte deshalb mit Strom (Ölradiator) geheizt und sein Essen auf Kochplatten zubereitet.

Wegen aufgelaufener Stromschulden, bedingt durch das Heizen mit Strom, hatte der Antragsgegner (Ag.) im Juni 2007 ein Darlehen über 2031,75 EUR gewährt, das mit Raten in Höhe von 10% der Regelleistung zu tilgen war.

Ein Antrag auf Übernahme von Schulden gegenüber dem Gasversorger vom 27.8.2010 war dagegen abgelehnt worden; der Ast. hätte die Altschulden aus Zeiträumen vor 2005 mit Einkommen aus Erwerbsarbeit tilgen können (Bescheid vom 15.9.2010).

Am 26.9.2013 hatte der Ast. ergänzend zu einem Anspruch auf Arbeitslosengeld, dem ein ausgeschöpfter Anspruch auf Krankengeld vorangegangen war, erneut Alg II beantragt. Zu diesem Zeitpunkt war die Gasversorgung nach wie vor gesperrt. Der Ast. hatte für die Versorgung mit Strom einen monatlichen Abschlag von 156 EUR zu leisten.

Alg II wurde laufend ohne Berücksichtigung von Kosten für die Gastherme und ohne Übernahme anteiliger Stromkosten für das Heizen bewilligt.

Ein Antrag auf Übernahme der Energierückstände gegenüber dem Stromversorger vom 28.10.2013, begründet mit dem hohen Verbrauch wegen Ausfall der Gasheizung, war vom Ag. abgelehnt worden; Haushaltsenergie müsse aus dem Regelbedarf bestritten werden, eine Übernahme von Heiz-Strom sei mangels separater Energiemessung nicht möglich (Bescheid vom 1.11.2013).

Einen erneuten Antrag auf Übernahme von Stromkostenrückständen stellte der Ast. am 16.4.2015, nachdem der Stromversorger eine Sperre der Versorgung angekündigt hatte.

Der Ag. gewährte für die im April 2015 aufgelaufenen Stromrückstände (318,50 EUR) ein Darlehen, das seit August 2015 mit einem monatlichen Betrag von 39,90 EUR mit den laufenden Regelleistungen verrechnet wird.

Außerdem bewilligte der Ag. zur Wiederherstellung der Gasversorgung ein Darlehen über 2.315,97 EUR, das ebenfalls seit August 2015 mit einem monatlichen Betrag von 39,90 EUR mit den laufenden Regelleistungen verrechnet wird. Hierbei handelt es sich um Energieschulden aus dem Jahr 2005 nebst seitdem aufgelaufener Zinsen und Nebenkosten.

Ein weiteres Darlehen über 139,21 EUR zur Wiederherstellung des Gasanschlusses und einer Überprüfung der Therme, zu tilgen ab 1.1.2016 mit monatlich 40,40 EUR, gewährte der Ag. mit Bescheid vom 16.12.2015.

Ausweislich der Stromverbrauchsrechnung über den Zeitraum 16.9.2014 bis 8.9.2015 hatte der Ast. eine Nachforderung in Höhe von 1.076,44 EUR bis zum 6.10.2015 zu zahlen. Der ab November 2015 zu zahlende Abschlag war auf 182 EUR monatlich heraufgesetzt worden.

Nachdem der Ast. am 3.12.2015 über ein Schreiben des Stromversorgers an seinen Betreuer erneut aufgefordert worden war, Stromrückstände in Höhe von 1.267,14 EUR, darunter der säumige Abschlag für November 2015 sowie Kosten für eine versuchte Energieunterbrechung im Juli 2015, zu begleichen, wurde die Stromversorgung nach Ankündigung am 14.12.2015 unterbrochen.

Mit Eilantrag bei Gericht vom 18.12.2015 fordert der Ast. die Übernahme der Kosten für die Stromrückstände, weil ihm in der Vergangenheit zu Unrecht keine Kosten für das Heizen gewährt worden seien und weil ohne Strom auch die Gastherme nicht in Betrieb genommen werden könne.

Der Ag. wendet ein, dass dem Rechtsschutz beim Sozialgericht eine Selbsthilfe durch Wechsel des Stromanbieters und Beseitigung der Sperre durch Anordnung eines Zivilgerichts vorgingen. Mit dem Darlehen für die Wiederherstellung der Gasversorgung sei die Beheizung der Wohnung hinreichend sichergestellt worden.

II.

Der nach telefonischer Rücksprache mit dem Betreuer sachgemäß auszulegende

Antrag nach § 86b Abs. 2 SGG,

dem Antragsteller ein zunächst tilgungsfreies Darlehen gemäß § 22 Abs. 8 SGB II über 1.267,14 EUR zuzüglich 144,80 EUR für die Wiederherstellung der Stromversorgung zu gewähren,

ist zulässig und begründet.

Ein Anordnungsgrund (Eilbedürftigkeit) ist angesichts des Zustandes der Wohnung nach der Stromsperre (kein Licht, keine Beheizung, keine Kochmöglichkeit) gegeben.

Der Anordnungsanspruch ergibt sich aus § 22 Abs. 8 SGB II. Danach können, sofern Leistungen für Unterkunft und Heizung erbracht werden, auch Schulden übernommen werden, soweit dies zur Sicherung der Unterkunft oder Behebung einer vergleichbaren Notlage gerechtfertigt ist. Sie sollen übernommen werden, wenn dies gerechtfertigt und notwendig ist und sonst Wohnungslosigkeit einzutreten droht.

Wegen der einer Wohnungslosigkeit vergleichbaren Notlage bei Energierückständen für Haushaltsstrom, der als Teil des Regelbedarfs eigentlich nicht den Unterkunftskosten zuzuordnen ist, können auch Energieschulden im Rahmen des § 22 Abs. 8 SGB II übernommen werden. Die Sperrung der Energieversorgung ist eine Notlage, die die Bewohnbarkeit der Wohnung beeinträchtigt und die Notwendigkeit von Maßnahmen zur Sicherung der Unterkunft i.S.v. § 22 Abs. 8 S. 1 SGB II gebietet.

Sind Selbsthilfemöglichkeiten des Betroffenen ausgeschöpft, kann der SGB II-Träger die Gewährung eines Darlehens zum Ausgleich der bestehenden Schulden beim Energieversorger nur in atypischen Fällen (z. B. wiederholte mutwillige Verschuldung) ablehnen.

Davon kann hier keine Rede sein. Der Betreuer des Ast. hat hinreichend dargelegt, dass der Ast. auch keine andere Möglichkeit zur Überwindung der Notlage hat. Einsetzbares Vermögen steht nicht zur Verfügung und nach Höhe der Schulden und dem Vorlauf zur aktuellen Stromsperre hat das Gericht keinen Zweifel daran, dass sich der Energieversorger nicht auf eine für den Ast. tragbare Ratenzahlung einlassen wird.

Ein Verweis auf Zivilrechtsschutz (einstweilige Anordnung auf Wiederherstellung der Energieversorgung) ist angesichts der akuten Notlage nur zumutbar, wenn Anhaltspunkt dafür vorliegen, dass der Grund-Energieversorger, wie hier die XXXXXl, die Grundsätze des § 19 StromGVV, die Schutzwirkung für den Energieabnehmer haben (dazu OLG Köln vom 7.5.2015 - 7 U 127/14), missachtet hat. Nach Lage der Akten und dem Vortrag des Betreuers ist das nicht ersichtlich: Die Rückstände liegen deutlich über 100 EUR, die Sperre wurde schon im September 2015 angedroht und nach telefonischer Mitteilung des Betreuers auch vorher angekündigt.

Beanstandungen gegen die Forderungsbeträge werden vom Betreuer nicht geltend gemacht und sind, soweit im summarischen Verfahren zu beurteilen, auch nicht ersichtlich.

Auf die Geltendmachung einer nach Rechtsprechung der Zivilgerichte sehr unterschiedlich beurteilten Härte oder Unverhältnismäßigkeit einer Stromsperre kann der Ast. nicht verwiesen werden. Es entspricht herrschender Auffassung bei den Zivilgerichten, dass nur in außergewöhnlichen Härtefällen (konkrete Gefahr für die Gesundheit etc.) eine zivilrechtliche Abwehr der Stromsperre einer Hilfe durch den Sozialleistungsträger vorgeht (siehe z. B. AG Alsfeld vom 19.2.2014 - 30 C 508/13 (70)).

Nach vollzogener Stromsperre, wie hier, ist der Verweis auf einen Wechsel des Energieversorgers verfehlt, der Hinweis auf § 14 Abs. 4 StromnetzzugangsVO führt in die Irre (so aber LSG NRW vom 1.10.2015 – L 2 AS 1522/15 B ER). Denn § 14 Abs. 4 StromnetzzugangsVO regelt nur die Voraussetzungen für einen Lieferantenwechsel im ungestörten Lieferverhältnis und hat wettbewerbsrechtliche Steuerungsfunktion. Ist eine Energieversorgung vom Netzbetreiber auf Verlangen des Energieversorgers zu recht unterbrochen worden, wie hier, muss der Netzbetreiber den Anschluss gemäß § 24 Abs. 5 NAV nur bei Ausgleich aller mit der Wiederherstellung der Versorgung verbundenen Kosten vornehmen. Ein bloßer Anbieterwechsel hilft daher nicht weiter.

Außerdem ist für Berlin zu beachten, dass Netzbetreiber und Grundversorger wirtschaftlich miteinander verflochten sind und der Netzbetreiber nach § 24 Abs. 2 NAV ein eigenes Recht auf Sperrung des Netzzugangs hat, wenn Zahlungsrückstände in dem für eine Sperrung nach § 19 StromGVV erforderlichen Umfang bestehen (OLG München vom 5.7.2010 – 21 U 2843/10).

Dem Ast. kann nicht vorgehalten werden, sich zu spät um eine Abwendung der Sperre gekümmert zu haben, damit über einen Anbieterwechsel die (vorübergehende) Schuldenverlagerung auf die Allgemeinheit abgewendet werden kann.

Aus der Akte geht hervor, dass die Problematik der hohen Abschläge infolge eines Heizens und Kochens mit Strom dem Ag. seit 2013 bekannt war. Die Ablehnung des Antrags auf Übernahme der Stromkosten für das Heizen mit Bescheid vom 1.11.2013 war unrichtig, weil ein besonders hoher Stromverbrauch (für Haushaltsenergie) natürlich ein Darlehen nach § 24 Abs. 1 SGB II begründen kann. Der Hinweis auf die fehlende Trennbarkeit des Heiz-Stroms vom Haushaltsstrom war irreführend, weil die Ablehnung darauf hätte gestützt werden müssen, dass Heizen mit Strom bei vorhandener Gastherme nicht zu rechtfertigen ist, was dann aber die Frage nach der Rechtfertigung einer Übernahme der Gasschulden aufgeworfen hätte.

Mit früherer Übernahme der Gasschulden hätte der Ast. seinen Stromverbrauch auf Abschläge senken können, die er aus dem Regelbedarf hätte aufbringen können. Insofern ist die Verschuldung gegenüber dem Stromversorger Folgeproblem der zu spät übernommenen Gasschulden.

Mit Schreiben des Betreuers vom 8.10. und 29.10.2015 unter Verweis auf die angekündigte Stromsperre hat der Ast. auch so rechtzeitig einen als Antrag auf Kostenübernahme nach § 22 Abs. 8 SGB II auszulegenden Darlehensantrag gestellt (der Betreuer hatte ausdrücklich "nach der Vorgehensweise" bei angekündigter Stromsperre gefragt), dass der Ag. eine Sperre durch einen Anbieterwechsel mit zugesicherter Vorkasse im laufenden Netzbetrieb hätte vermeiden können.

Schließlich steht einer Schuldenübernahme nach § 22 Abs. 8 SGB auch nicht der Einwand entgegen, dass diese wegen der hohen Abschläge, die der Ast. nach eigenem Vorbringen nicht leisten könne, objektiv ungeeignet ist, um die Energieversorgung dauerhaft zu sichern. Denn sollte sich der jetzige Versorger nicht auf eine Reduzierung der laufenden Abschläge einlassen, kann der Ast. den Anbieter wechseln und einen auf bloßen Haushaltsstromverbrauch zugeschnittenen Tarif aushandeln.

Damit dies dem Ast. möglich ist, darf er allerdings nicht über Gebühr mit Tilgungen der gewährten Darlehen belastet werden. Dies wird dadurch vermieden, dass das zuerkannte Darlehen erst nach Tilgung der bereits gewährten Darlehen zu tilgen ist. Das erkennende Gericht nimmt insoweit Bezug auf diverse Entscheidungen, die § 42a SGB II mit überzeugenden Gründen verfassungskonform so auslegen, dass Darlehen nach § 24 oder 22 SGB II nur mit maximal 10% des Regelbedarfs aufgerechnet werden dürfen (SG Berlin vom 17.3.2015 – S 173 AS 23394/14; LSG Berlin-Brandenburg vom 29.7.2015 – L 32 AS 1688/15 B ER; s. auch LSG Berlin-Brandenburg vom 31.7.2015 – L 25 AS 1911/14 B PKH).

Die angekündigte Tilgung des am 16.12.2015 gewährten Darlehens kann der Ast. noch mit Widerspruch gegen den Darlehens-Bescheid abwenden (zur aufschiebenden Wirkung s. SG Leipzig vom 30.5.2014 – S 17 AS 1911/14 ER; LSG Sachsen-Anhalt vom 27.12.2011 – L 5 AS 473/11 B ER). Einer Regelung seitens des Gerichts bedarf es dazu nicht.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG analog.
Rechtskraft
Aus
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