S 223 KR 1556/16

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
SG Berlin (BRB)
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
223
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 223 KR 1556/16
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 1 KR 308/18
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 1 KR 5/20 R (Revision zurückgenommen)
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Eine fiktive Genehmigung nach § 13 Abs. 3a S 6 SGB V eines Antrages auf Kostenübernahme einer Behandlung, die von vornherein nur in einer Privatklinik erfolgen soll, ist nicht ausgeschlossen, wenn der Versicherte die Operation in der Privatklinik aus medizinischen Gründen für erforderlich halten durfte.
Der Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheids vom 27. April 2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 19. Juli 2016 verurteilt, die Kosten für die geschlechtsangleichende Operation in stationärer Behandlung in der Klinik S. zu übernehmen. Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über die Kostenübernahme für eine geschlechtsangleichende Operation in der Klinik S. Beim bei der Beklagten versicherten Kläger liegt eine diagnostizierte Frau-zu-Mann-Transsexualität vor. Der Kläger befindet sich bereits seit September 2014 in einer psychotherapeutischen Behandlung und unterzieht sich seit März 2015 einer gegengeschlechtlichen Hormontherapie. Im Januar 2016 änderte er seinen Namen und seinen Personenstand.

Der Kläger leidet an einem hereditären Angioödem – auch Quincke-Ödem genannt. Diese angeborene und sehr seltene Gesundheitsstörung führt zu episodisch auftretenden Ödemen im Bereich der Schleimhäute und der Haut, die bei Operationen zu Komplikationen führen können.

Der Kläger beantragte bei der Beklagten unter Hinweis auf die bereits durchlaufenen Therapiemaßnahmen die Übernahme der Kosten für die operative Geschlechtsanpassung in der Klinik S. "in einer Einzelfallentscheidung" (Eingang 8. März 2016). Er fügte zwei Kostenvoranschläge der Klinik bei für einen Penoidaufbau und die Implantation einer Erektionsprothese. Er begründete seinen Antrag damit, dass die Erkrankung an dem Quincke-Ödem eine besondere Intensivüberwachung benötige, welche die Klinik S. gewährleisten könne. Zudem würde der Eingriff in der Klinik S. von Spezialisten mit viel Erfahrung durchgeführt werden, weshalb es ein verringertes Komplikationsrisiko gebe. Zuletzt würde in der Klinik S. die Geschlechtsanpassung in weniger Operationen durchgeführt werden als in den zugelassenen Krankenhäusern.

Die Beklagte lehnte mit Bescheid vom 21. April 2016 die Kostenübernahme für die Klinik S. mit der Begründung ab, dass die Klinik kein nach § 108 SGB V zugelassenes Krankenhaus sei. Der am selben Tag mit einem Gutachten beauftragte Medizinische Dienst der Krankenversicherung (MDK) kam zu dem Ergebnis, dass die medizinischen Voraussetzungen für die Leistung erfüllt seien. Daraufhin bewilligte die Beklagte die Kostenübernahme für Penoidaufbau und Erektionsprothese in einem Vertragskrankenhaus und wiederholte die Ablehnung hinsichtlich der Kosten für die Klinik S. (27. April 2016).

Den vom Kläger gegen den Bescheid vom 21. April 2016 eingelegten Widerspruch wies die Beklagte als unbegründet zurück. Begründet wurde dies damit, dass nur Maßnahmen notwendig seien, die zur Linderung von Krankheitsbeschwerden unentbehrlich und unvermeidlich seien. Die Krankenkassen würden eine bedarfsgerechte Versorgung schulden, und zwar solcher Leistungen, die zur Heilung und Linderung nach den Regeln der ärztlichen Kunst zweckmäßig und ausreichend seien. Dass in zugelassenen Krankenhäusern möglicherweise mehr als zwei Operationen nötig seien, sei unerheblich. Außerdem könnten mögliche Qualitätsunterschiede oder größere Erfolgsversprechen einzelner Operateure keine Leistungspflicht der Krankenkassen außerhalb des gesetzlichen Systems begründen.

Der Kläger ist unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (B 1 KR 1/17 R) der Ansicht, dass die Genehmigungsfiktion nach § 13 Abs. 3a SGB V greife, da er die Leistung der Geschlechtsumwandelung in der Klinik S. für erforderlich halten durfte und sie nicht offensichtlich außerhalb des Leistungskatalogs der gesetzlichen Krankenversicherung liege. Bei ihm bestünde aufgrund des Quincke-Ödems ein erhöhtes OP-Risiko, welches die Wahl der Klinik S. notwendig gemacht habe. Dort könne die Geschlechtsumwandlung in zwei Operationen durchgeführt werden, während in den zugelassenen Krankenhäusern drei Operationen notwendig seien. Jede weitere Operation sei aufgrund seines Leidens stark gesundheitsgefährdend.

Die Klägervertreterin beantragt, den Beklagten unter Aufhebung des Bescheids vom 27. April 2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 19. Juli 2016 zu verurteilen, die Kosten für die geschlechtsangleichende Operation in stationärer Behandlung in der Klinik S. zu übernehmen.

Die Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.

Die Beklagte vertritt die Auffassung, dass die Genehmigungsfiktion nur greifen könne, wenn die beantragte Leistung innerhalb des Systems der gesetzlichen Krankenversicherung liege und dem Qualitäts- und Wirtschaftlichkeitsgebot entspreche.

Die Kammer hat den Kläger in der mündlichen Verhandlung in der Sache befragt. Es wird auf die Sitzungsniederschrift verwiesen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der Verwaltungsakten der Beklagten Bezug genommen. Diese haben der Kammer vorgelegen und sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung, geheimen Beratung und Entscheidung gewesen.

Entscheidungsgründe:

I. Die allgemeine Leistungsklage ist zulässig. Nach § 54 Abs. 5 SGG kann die Verurteilung zu einer Leistung, auf die ein Rechtsanspruch besteht, auch dann begehrt werden, wenn ein Verwaltungsakt nicht zu ergehen hatte. Hierfür genügt es, dass ein bindender Verwaltungsakt vorliegt, der Leistungsträger aber gleichwohl nicht leistet (BSGE 50, 82, 83). Ist die Genehmigung einer beantragten Leistung kraft Fiktion erfolgt, steht dies der Bewilligung der beantragten Leistung durch einen Leistungsbescheid mit der Rechtsfolge gleich, dass das in seinem Gegenstand durch den Antrag bestimmte Verwaltungsverfahren beendet ist und dem Versicherten - wie hier - unmittelbar aus der fingierten Genehmigung ein Anspruch auf Versorgung mit der Leistung zusteht (BSG, Urteil vom 11. Juli 2017 – B 1 KR 1/17 R). Die allgemeine Leistungsklage und nicht eine kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage ist statthaft. Denn der Kläger stützt sein Begehren auf den Eintritt der fingierten Genehmigung seines Antrags (§ 13 Abs. 3a S. 6 SGB V). Die Beklagte setzte mit dem späteren Erlass der Ablehnungsentscheidung das mit Eintritt der Genehmigungsfiktion beendete, ursprüngliche Verwaltungsverfahren nicht im Rechtssinne fort, sondern eröffnete ein neues eigenständiges Verfahren (BSG a.a.O.).

Der Kläger hat auch ein Rechtsschutzbedürfnis für die Leistungsklage, da sich die Beklagte weigert, eine durch – fingierten – Verwaltungsakt zuerkannte Leistung zu erbringen. Ihm bleibt nur die Leistungsklage, um einen Vollstreckungstitel zu erhalten (§ 199 Abs. 1 Nr. 1 SGG). Eine Vollstreckung aus Verwaltungsakten gegen die öffentliche Hand ist nicht vorgesehen (BSG, a.a.O.).

Die daneben im Wege der objektiven Klagehäufung (§ 56 SGG) erhobene isolierte Anfechtungsklage gegen die Ablehnungsentscheidung, mit der die Beklagte eine neue Sachentscheidung traf, ist zulässig (BSG a.a.O.). Streitgegenständlich ist der Bescheid vom 21. April 2016 in der durch den Bescheid vom 27. April 2016 geänderten Fassung in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 19. Juli 2016.

II. Die Leistungsklage ist begründet. Der Kläger hat einen Anspruch auf die Übernahme der Kosten der für den Penoidaufbau und die Erektionsprothese erforderlichen Operationen in der Klinik S. aus § 13 Abs. 3 S. 6 SGB V. Die Genehmigungsfiktion begründet zugunsten des Leistungsberechtigten einen Naturalleistungsanspruch, dem der Kostenerstattungsanspruch nach § 13 Abs. 3a S. 7 SGB V im Ansatz entspricht (BSG, a.a.O. sowie Urteil vom 8. März 2016 – B 1 KR 25/15 R). Die Voraussetzungen der Genehmigungsfiktion nach § 13 Abs. 3a S. 6 SGB V sind erfüllt. Die vom Kläger beantragten geschlechtsangleichenden Operationen in der Klinik S. gelten wegen Fristablauf als genehmigt.

Der zeitliche und sachliche Anwendungsbereich der Regelung ist eröffnet. Der Kläger hat die Kostenübernahme für die künftig zu leistenden geschlechtsangleichenden Operationen in der Klinik S. erst nach dem 26. Februar 2013 gestellt (BSGE 121,40). Außerdem verlangt der Kläger weder unmittelbar eine Geldleistung noch die Erstattung für Leistungen zur medizinischen Rehabilitation, vielmehr es geht um die Übernahme der Kosten für eine Krankenbehandlung.

Der Kläger beantragte hinreichend bestimmt die Übernahme der Kosten der geschlechtsumwandelnden Operationen in Form des Penoidaufbaus und der Implantation einer Erektionsprothese in der Klinik S. Durch die dem Antrag angehängten Dokumente, insbesondere der Kostenvoranschläge der Klinik S., war ausreichend bestimmt, was beantragt wird.

Die Beklagte beschied den Antrag nicht innerhalb der nach § 13 Abs. 3a S. 1 SGB V maßgeblichen Frist, ohne dass eine Entscheidung oder die Mittelung eines zureichenden Grundes durch die Beklagte erfolgte. Es gilt vorliegend die drei-Wochen-Frist, auch wenn die Beklagte den MDK in die Entscheidung einbezogen hat. Denn die drei-Wochen-Frist ist auch dann einschlägig, wenn die Krankenkasse zwar eine Stellungnahme des MDK einholt, den Versicherten darüber aber nicht innerhalb einer Frist von drei Wochen informiert. Das Bundessozialgericht hat dazu ausgeführt: "Die Frist von drei Wochen ist maßgeblich, weil die Beklagte den Kläger nicht über die Einholung einer gutachtlichen Stellungnahme unterrichtete (vgl zur Pflicht § 13 Abs 3a S 2 SGB V). Ohne diese gebotene Information kann der Leistungsberechtigte nach Ablauf von drei Wochen annehmen, dass sein Antrag als genehmigt gilt (aA Rieker, NZS 2015, 294, 296)." (BSG, Urteil vom 8.3.2016, Az: B 1 KR 25/15 R, juris, dort Rz 28).

Der Antrag des Klägers ging der Beklagten am 8. März 2016 zu. Die Frist begann am 9. März 2016 (§ 26 Abs. 1 SGB X i.V.m. § 187 Abs. 1 BGB) und endete am Mittwoch, dem 30. März 2016 (§ 26 Abs. 1 SGB X i.V.m. § 188 Abs. 2 BGB). Die Beklagte entschied erst nach Fristablauf über den Antrag, nämlich am 21. April 2016. Zu dem Zeitpunkt war im Übrigen auch bereits die fünf-Wochen-Frist des § 13 Abs. 3a S. 1Fall 2 SGB V abgelaufen (Ablauf am 13. April 2016).

Der Antrag betraf außerdem eine Leistung, die der Kläger für erforderlich halten durfte und die nicht offensichtlich außerhalb des Leistungskatalogs der gesetzlichen Krankenversicherung lag. Das BSG hat im Urteil vom 8. März 2016 – B 1 KR 25/15 R entschieden, dass diese Einschränkung sinngemäß nach dem Regelungszusammenhang und –zweck der Norm gelten muss. Es heißt in dem Urteil:

"Die Begrenzung auf erforderliche Leistungen bewirkt eine Beschränkung auf subjektiv für den Berechtigten erforderliche Leistungen, die nicht offensichtlich außerhalb des Leistungskatalogs der GKV liegen. Einerseits soll die Regelung es dem Berechtigten erleichtern, sich die ihm zustehende Leistung zeitnah zu beschaffen. Andererseits soll sie ihn nicht zu Rechtsmissbrauch einladen, indem sie Leistungsgrenzen des GKV-Leistungskatalogs überwindet, die jedem Versicherten klar sein müssen. Die Gesetzesmaterialien sprechen beispielhaft den Fall an, dass die KK auch im Fall der selbstbeschafften Leistung, zum Beispiel bei einer notwendigen Versorgung mit Zahnersatz, nicht den vom Versicherten zu tragenden Eigenanteil zu übernehmen hat" (m.w.N.).

Den überzeugenden Ausführungen des BSG schließt sich die Kammer an. Der Kläger durfte die geschlechtsumwandelnden Operationen grundsätzlich für erforderlich halten. Die medizinischen Voraussetzungen für den Eingriff waren bereits erfüllt, der Kläger hatte sowohl eine Hormon- als auch eine Psychotherapie durchgeführt und seinen Personenstand und Namen geändert.

Der Kläger durfte auch die Inanspruchnahme der Privatklinik für erforderlich und nicht als offensichtlich außerhalb des Leistungskatalogs liegend halten. Ob eine Vorfestlegung auf eine Privatklinik die Annahme der Genehmigungsfiktion ausschließt, wurde vom BSG in zwei Entscheidungen offen gelassen (Urteile vom 11. Juli 2017 – B 1 KR 1/17 R aufgrund einer Komplettablehnung der Leistung durch die Beklagte und B 1 KR 26/16 R aufgrund der fehlenden Vorfestlegung auf eine Privatklinik). Im letztgenannten Urteil heißt es: " Der Senat kann die Frage offenlassen, ob ein Leistungsbegehren offensichtlich außerhalb des Leistungskatalogs der GKV liegt, wenn ein Antragsteller die bariatrische Operation nur in einem nicht zur Versorgung gesetzlich Krankenversicherter zugelassenen Krankenhaus durchführen lassen will, obwohl auch zur Behandlung GKV-Versicherter zugelassene Krankenhäuser bariatrische Operationen durchführen. ( ) Denn die Klägerin hat jedenfalls ihren Antrag nicht auf eine Leistungserbringung durch das Zentrum beschränkt." Vorliegend hatte der Kläger sich bei Antragstellung auf eine Privatklinik festgelegt. Zudem wurde die Leistung von der Beklagten nicht komplett abgelehnt. Daher kann die Frage nicht offen bleiben.

Die Kammer gelangte durch die Befragung des Klägers zu der Überzeugung, dass er die Inanspruchnahme der Privatklinik aus medizinischen Gründen für erforderlich gehalten hat und keine Anhaltspunkte für einen bewussten Rechtsmissbrauch vorliegen. Die Kammer hielt den Kläger für glaubwürdig. Er war trotz der emotionalen Tragweite der Sache in der Befragung bestrebt, die Umstände ruhig und detailliert wiederzugeben. Der Kläger war bei Antragstellung aufgrund der seltenen Erkrankung an dem Quincke-Ödem überzeugt davon, dass jede Operation ein erhöhtes Gesundheitsrisiko beinhalten würde. Daher war er der Auffassung, dass er nachvollziehbare Gründe dafür hatte, dass die Operation(en) nur in der Klinik S. durchgeführt werden sollten, wo nach seinen Recherchen nur zwei anstelle von den in zugelassenen Krankenhäusern vorgesehenen drei Operation benötigt werden würden. Zudem war er der Meinung, dass eine ortsferne Operation aufgrund seines Leidens und des damit einhergehenden Komplikationsrisikos auch im Nachgang der Operation nicht in Betracht kommen könne. Der Kläger ging bei Antragstellung daher nicht davon aus, dass die Leistung offensichtlich außerhalb des Leistungskatalogs liegt, sondern dass er ausnahmsweise (in dieser "Einzelfallentscheidung") einen Anspruch auf die Übernahme der Kosten der Privatklinik habe. Die Intention eines Rechtsmissbrauchs konnte die Kammer nicht erkennen. Die Einstellung des Klägers war für die Kammer angesichts der besonderen Umstände nachvollziehbar. Er durfte sie daher für erforderlich und nicht als offensichtlich außerhalb des Leistungskatalogs liegend halten.

Auch die Anfechtungsklage ist begründet. Die Ablehnungsentscheidung (Bescheid vom 21. April 2016 in der Fassung des Änderungsbescheids vom 27. April 2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 19. Juli 2016) ist rechtswidrig. Sie verletzt den Kläger in seinem sich aus der fiktiven Genehmigung des Antrags ergebenden Leistungsanspruchs (vgl. BSG, Urteil vom 11. Juli 2017 – B 1 KR 26/16 R).

Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 193 SGG und folgt dem Ergebnis in der Sache. Anhaltspunkte für eine abweichende Kostenverteilung ergaben sich vorliegend nicht.
Rechtskraft
Aus
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