S 21 KR 479/96

Land
Hamburg
Sozialgericht
SG Hamburg (HAM)
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
21
1. Instanz
SG Hamburg (HAM)
Aktenzeichen
S 21 KR 479/96
Datum
2. Instanz
LSG Hamburg
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
1. Ein Krankengeldanspruch wird von der Ruhensregelung in § 16 Abs. 1 Nr. 4 SGB V nicht erfasst.
2. Der Kausalzusammenhang zwischen der Krankheit und der Unfähigkeit, einer Arbeit nachzugehen, ist gegeben, wenn es vor Haftantritt zur Erkrankung kommt.
Die Beklagte wird unter Abänderung des Bescheides, der die Bewilligung des Krankengeldes beinhaltete, sowie entsprechender Aufhebung des Widerspruchsbescheides vom 11. Februar 1997 verurteilt, dem Kläger für die Zeit vom 26. Juni 1995 bis 11. April 1996 Krankengeld nach Maßgabe des § 47 Abs. 1 und 2 SGB V in der in diesem Zeitraum geltenden Fassung zu zahlen und eine Verzinsung gemäß § 44 SGB - Allgemeiner Teil - vorzunehmen. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen. Die Beklagte hat dem Kläger ¾ der notwendigen außergerichtlichen Kosten des Verfahrens zu erstatten.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über die Dauer und Höhe von Krankengeld.

Der Kläger, der an einer chronifizierten Psychose aus dem schizophrenen Formenkreis leidet, war im Rahmen freiheitsentziehender Maßregeln auf der forensisch-psychiatrischen Abteilung des Allgemeinen Krankenhauses O. (jetzt: K.) untergebracht gewesen. Nach seiner Freilassung auf Grund einer Aussetzung der weiteren Vollstreckung nahm er im April 1994 eine Teilzeitbeschäftigung als Schlosserhelfer in dem Integrationsbetrieb R. GmbH auf. Am 18. Oktober 1994 wurde er arbeitsunfähig und erhielt nach Ablauf der Entgeltfortzahlung ab dem 24. November 1994 Krankengeld, nach eigenen Angaben bis zum 25. Juni 1995. Der letzte Zahlschein - ausgestellt von dem Arzt Dr. C. - datierte vom 24. Mai 1995. Seit dem 21. Juni 1995 befindet sich der Kläger wieder in der Klinik, anfangs auf der Grundlage eines Sicherungshaftbefehls nach § 453c der Strafprozessordnung (StPO), ab Ende Oktober 1995 erneut gemäß § 63 des Strafgesetzbuches. Herr Dr. C. äußerte unter dem 18. September 1995 die Meinung, dass der Kläger sicherlich weiterhin arbeitsunfähig sei. Die Höhe des Krankengeldes wurde auf der Basis des § 47 Abs. 1 und 2 des Sozialgesetzbuches - Gesetzliche Krankenversicherung – (SGB V) in der 1994 geltenden Fassung errechnet. Bescheide liegen nicht mehr vor. Der Kläger hatte eigener Erklärung zufolge Widerspruch eingelegt. Ein entsprechender Vorgang konnte bei der Beklagten nicht aufgefunden werden.

Mit einem am 4. Dezember 1996 bei den Sozialgericht eingegangenen Schriftsatz erhob der Kläger Klage. Er machte geltend, dass ihm Krankengeld zumindest bis zum Leistungsende zugestanden habe. Er sei allein durch die Krankheit gehindert gewesen, das Beschäftigungsverhältnis fortzusetzen. Das Krankengeld sei außerdem zu niedrig festgesetzt worden. Von einer Lohnersatzfunktion, wie sie grundgesetzlich gesichert sei, könne nur gesprochen werden, wenn es in Höhe des vollen Arbeitsentgelts bei Zugrundelegung eines garantierten monatlichen Mindestlohns von 1.400,- DM netto gewährt werde. Er verwies insoweit auf seine Berufungsbegründung in dem Verfahren OVG Bf 311/91 vor dem Oberverwaltungsgericht Hamburg.

Die Beklagte holte das Vorverfahren nach und erließ am 11. Februar 1997 einen Widerspruchsbescheid, mit dem sie eine weitere Krankengeldzahlung unter Hinweis auf § 16 Abs. 1 Nr. 4 SGB V und den fehlenden Nachweis einer längerdauernden Arbeitsunfähigkeit ablehnte. Die Höhe des gewährten Krankengeldes sei mit täglich 36,04 DM korrekt ermittelt worden. Ergänzend trug sie im Klageverfahren vor, es sei nicht hinnehmbar, dass auf der einen Seite Krankengeld geleistet werden solle, auf der anderen Seite wegen der Unterbringung aber darauf verzichtet werden müsse, etwa die Dauer der Arbeitsunfähigkeit durch den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) prüfen zu lassen oder über § 51 SGB V Rehabilitationsmaßnahmen, gegebenenfalls mit der Folge des § 116 Abs. 1 SGB – Gesetzliche Rentenversicherung -, zu initiieren. Schließlich sei zu berücksichtigen, dass der Lohnausfall beim Kläger jedenfalls nicht in erster Linie aus Krankheitsgründen erfolgt sei; selbst bei Arbeitsfähigkeit hätte er wegen der Unterbringung keinen Lohn erzielen können.

Das Gericht hat zu der Frage der Arbeitsunfähigkeit des Klägers vom K. die Auskunft vom 2. Oktober 2001 eingeholt und in der mündlichen Verhandlung vom 5. Dezember 2003 Herrn Dr. T. als medizinischen Sachverständigen gehört.

Zuvor hatte der Kläger eine von ihm unter dem 29. Mai 2003 unterzeichnete Erklärung eingereicht, mit der er den Klageanspruch als Unterhalt an seine Tochter abtrat.

Er beantragt nach Aktenlage,

die Beklagte unter Abänderung der Ausgangsbescheide sowie des Widerspruchsbescheides vom 11. Februar 1997 zu verurteilen, ab 26. Juni 1995 Krankengeld zuzüglich Zinsen bis zum Leistungsende in Höhe von monatlich 715,81 EUR (= 1.400,- DM), hilfsweise für die Dauer von zwei Jahren in der gesetzlichen Höhe zu zahlen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Wegen Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf den Inhalt der Prozessakte und der beigezogenen Unterlagen Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Klage ist zulässig. Die erkennende Kammer brauchte der Frage, ob und wann der Kläger vor der Klageerhebung Widerspruch eingelegt hat, nicht näher nachzugehen. Denn in der Klage liegt nach ständiger Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (ausgehend vom Urt. vom 18. Februar 1964 – 11/1 RA 90/61 – in BSGE 20, S. 199 ff., 200) gleichzeitig immer auch ein Widerspruch. Der Widerspruchsbescheid vom 11. Februar 1997 ist über §§ 95 und 96 Abs. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) Gegenstand des Verfahrens geworden (vgl. Urt. des BSG vom 1. Juli 1992 – 14a/6 RKa 1/90 - in BSGE 71, S. 42 ff., 44; Pawlak in Hennig, SGG, § 96, Rz. 76). Da die Beklagte sich nicht auf eine Versäumung der Widerspruchsfrist berufen, sondern eine sachlich-rechtliche Prüfung vorgenommen hat, hat das Gericht ihre Entscheidung in materieller Hinsicht zu überprüfen (vgl. Urt. des BSG vom 3. März 1994 – 1 RK 17/93 – in Breith 1995, S. 177 ff., 178 m.w.N.).

Die Klage ist zum überwiegenden Teil begründet. Die Beklagte hat es zu Unrecht abgelehnt, dem Kläger bis zu dem von ihr mitgeteilten Leistungsende am 11. April 1996 Krankengeld zu gewähren. Einen Anspruch auf Zahlung über das normale Leistungsende hinaus und eines höheren Krankengeldes hat er dagegen nicht.

Entgegen der Auffassung der Beklagten wird der Anspruch des Klägers auf Krankengeld nach § 44 Abs. 1 S. 1 SGB V durch die Vorschrift des § 16 Abs. 1 Nr. 4 SGB V nicht berührt. Hiernach ruht der Anspruch auf Leistungen, solange sich Versicherte in Untersuchungshaft befinden, nach § 126a StPO einstweilen untergebracht sind oder gegen sie eine Freiheitsstrafe oder freiheitsentziehende Maßregel der Besserung und Sicherung vollzogen wird, soweit sie als Gefangene Anspruch auf Gesundheitsfürsorge nach dem Strafvollzugsgesetz oder sonstige Gesundheitsfürsorge erhalten. Die Voraussetzungen der Ruhensbestimmung sind nicht erfüllt. Zwar war der Kläger in der Zeit, in der er auf Grund des Sicherungshaftbefehls untergebracht war, in der Situation eines Untersuchungshäftlings (vgl. § 453c Abs. 2 S. 2 StPO) und anschließend wieder im Vollzug einer freiheitsentziehenden Maßregel, sodass vom Grundsatz her die Ruhensanordnung zum Zuge kam. Da aber die Gesundheitsfürsorge für Gefangene keine Lohnersatzleistungen vorsieht, wird ein Krankengeldanspruch davon nicht betroffen ("soweit"). Der Gesetzgeber knüpft mit dieser Regelung an § 216 Abs. 1 Nr. 1 der Reichsversicherungsordnung an, wobei er allerdings die Aufrechterhaltung des Krankengeldanspruchs nicht mehr davon abhängig macht, dass der Versicherte bisher von seinem Arbeitsverdienst Angehörige unterhalten hat. Dass ein Krankengeldanspruch von der Ruhensregelung nicht erfasst wird, ist in Praxis (vgl. Gemeinsames Rundschreiben der Spitzenverbände der Krankenversicherung vom 9. Dezember 1988, Anm. zu § 16 SGB V unter Tit. 5.2. Krankengeld) und Literatur (vgl. etwa Noftz in Hauck/Noftz, SGB V, K§ 16, Rz. 46; Jahn, SGB V, § 16, Anm. 9 – Wältermann -) völlig unstreitig.

Die Bedenken der Beklagten greifen nicht. Den Krankenkassen ist es durchaus möglich, während einer Haftzeit oder sonstigen Freiheitsentziehung den MDK mit einer Überprüfung der Arbeitsunfähigkeit zu beauftragen. Vielfach dürfte, da die Gefangenen im Rahmen der Gesundheitsfürsorge laufend in ärztlicher Betreuung stehen, eine Einsichtnahme in die medizinische Dokumentation ausreichen. Ansonsten müsste eine körperliche Untersuchung des Gefangenen, zu der er gegebenenfalls vorzuführen wäre, durchgeführt werden (mit den Möglichkeiten der §§ 66 SGB – Allgemeiner Teil (I) - und 276 Abs. 5 SGB V). Im Übrigen nimmt der Gesetzgeber Schwierigkeiten, die bei der Feststellung der Dauer der Arbeitsunfähigkeit während der Unterbringung auftreten mögen, bewusst in Kauf. Abgesehen davon, dass die Beklagte - ausgehend von ihrer unrichtigen Rechtsposition - nichts unternommen hatte, die Arbeitsunfähigkeit prüfen zu lassen, bestehen keine Zweifel daran, dass in dem fraglichen Zeitraum Arbeitsunfähigkeit tatsächlich vorgelegen hat. Herr Dr. P. in seiner Auskunft vom 2. Oktober 2001 und Herr Dr. T. in seiner Vernehmung haben übereinstimmend angegeben, dass der Kläger seit seiner Wiederaufnahme in die Klinik wegen seiner Krankheit außer Stande sei, außerhalb der geschlossenen Abteilung eine Arbeit auszuüben. Die Kammer hat keinerlei Veranlassung, an dieser Einschätzung zu zweifeln. Vorsorglich sei in diesem Zusammenhang angemerkt, dass die Äußerung von Herrn Dr. T., die Arbeitsunfähigkeit könne möglicherweise beseitigt werden, wenn der Kläger mit einer von ihm bislang abgelehnten Dauermedikation einverstanden wäre, für den in Rede stehenden Zeitraum ohne leistungsrechtliche Konsequenzen ist. Die Kammer brauchte deshalb nicht aufzuklären, ob die Arbeitsunfähigkeit auf diese Weise hätte überwunden werden können und ob die Unterziehung einer Dauermedikation für den Kläger zumutbar gewesen wäre. Die Beklagte hat keine rechtliche Handhabe, das Krankengeld zu versagen, weder unter dem Gesichtspunkt des § 52 SGB V noch dem der §§ 63 und 66 Abs. 2 SGB I. § 52 SGB V scheidet schon deshalb aus, weil in der Aufrechterhaltung eines nicht vorsätzlich herbeigeführten Krankheitszustandes (z. B. durch Nichteinnahme bestimmter Arzneimittel) ein Sichzuziehen der Erkrankung nicht gesehen werden kann (vgl. Schmidt in Peters, Handb KV II, SGB V, § 52, Rz. 29). Die Norm regelt allein die Folgen einer vorsätzlichen Herbeiführung einer Krankheit. Die Pflichten des Versicherten, auf eine eingetretene Krankheit einzuwirken, bestimmen sich hingegen nach §§ 60 ff. SGB I (vgl. Jahn, SGB V, § 52, Anm. 11 – Zipperer -). Selbst wenn bezüglich einer Dauermedikation dem Kläger eine Mitwirkungspflicht oblegen hätte, fehlt es für eine Sanktionierung, die ohnehin nur für die Zukunft ausgesprochen werden könnte, an den formellen Erfordernissen des § 66 Abs. 3 SGB I. Zu dem Hinweis der Beklagten auf § 51 SGB V sei lediglich bemerkt, dass der Kläger mangels Erfüllung der Wartezeit keinen Rentenanspruch hatte. Richtig ist, dass zwischen der Krankheit und der Unfähigkeit, eine Tätigkeit zu verrichten, ein Kausalzusammenhang vorhanden sein muss (vgl. Urt. des BSG vom 13. November 1971 – 3 RK 26/70 - in BSGE 33, S. 202 ff.). Ein solcher ist gegeben. Wie umgekehrt ein ursächlicher Zusammenhang zu verneinen ist, wenn ein Gefangener erst nach Haftantritt arbeitsunfähig erkrankt, ist er zu bejahen, wenn Arbeitsunfähigkeit eintritt, bevor es zu einer Haft kommt. Ein bereits eingetretener Erfolg kann durch ein späteres Ereignis nicht nochmals herbeigeführt werden. Die Erkrankung stellt somit die rechtlich wesentliche Ursache für das Unvermögen des Klägers dar, weiterhin seine Arbeitsverpflichtung einzuhalten.

Das Krankengeld war - wie es die Beklagte getan hat - nach Maßgabe des § 47 Abs. 1 und 2 SGB V a. F. zu errechnen. Verfassungsrechtliche Einwände gegen diese Bestimmungen sind bei der weiten Gestaltungsfreiheit, die dem Gesetzgeber - entgegen der Meinung des Klägers - zur Sicherung der Funktions- und Leistungsfähigkeit des Krankenversicherungssystems zusteht, nicht ersichtlich (vgl. Beschl. des BVerfG vom 17. Februar 1997 – 1 BvR 1903/96 – in SozR 3-2500 § 47 Nr. 8 – Bl. 19 -). Dies gilt ebenso für die Bezugsdauer von 78 Wochen innerhalb der Dreijahresfrist. Dem Kläger bleibt es unbenommen, eigene Vorstellungen zur Höhe und Dauer des Krankengeldes zu entwickeln. Den Gerichten jedenfalls ist es verwehrt, bei sozialpolitischen Entscheidungen nach der zweckmäßigsten, vernünftigsten und gerechtesten Lösung zu suchen, solange - wie hier - keine Anhaltspunkte dafür existieren, dass der Gesetzgeber seinen Gestaltungsraum überschritten hat (vgl. Beschl. des BVerfG vom 14. Juli 1993 – 1 BvR 823/93 - in SozR a.a.O. § 53 Nr. 3 – Bl. 16 -).

Die Nachzahlung des Krankengeldes ist an den Kläger zu leisten. Eine wirksame Übertragung im Sinne des § 53 SGB I, die nur unter besonderen Bedingungen erlaubt ist, ist mit seiner Erklärung vom 29. Mai 2003 nicht erfolgt. Hierfür reicht eine einseitige Willenserklärung nicht aus; vielmehr bedürfte es eines Vertrages zwischen altem und neuem Gläubiger (vgl. Lilge in GesKomm, § 53 SGB I, Anm. 2 und 3.1). Eine Überleitung nach § 50 SGB I ist nicht erfolgt.

Die Verzinsungspflicht folgt aus § 44 SGB I.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Nicht erstattungsfähig sind die Aufwendungen der Beklagten und des Beigeladenen.
Rechtskraft
Aus
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