S 39 RJ 173/02

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Düsseldorf (NRW)
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
39
1. Instanz
SG Düsseldorf (NRW)
Aktenzeichen
S 39 RJ 173/02
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 13 RJ 14/04 R
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 17.04.2002 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 05.09.2002 verurteilt, die Bescheide vom 22.04.1999 und 03.08.1999 teilweise zurückzunehmen und die Rente der Klägerin unter Berücksichtigung eines für den Rangstellenwert aus beitragsfreien Zeiten maßgeblichen Gesamtzeitraums, der am 31.03.1985 endet, neu zu berechnen. Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten der Klägerin. Die Sprungrevision wird zugelassen.

Tatbestand:

Die Klägerin begehrt die Neuberechnung der bewilligten Altersrente nach § 44 Sozialgesetzbuch 10. Buch -Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz- (SGB X).

Zwischen den Beteiligten ist die Berechnung des belegungsfähigen Gesamtzeitraums streitig.

Die am 00.00.1920 in M geborene Klägerin ist jüdischer Abstammung und als Verfolgte im Sinne des § 1 Bundesentschädigungsgesetz (BEG) anerkannt. Nach der Verfolgung wanderte sie im Juli 1946 nach Israel aus. Sie lebt seither dort und besitzt israelische Staatsangehörigkeit.

Am 26. Februar 1990 beantragte die Klägerin bei der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte die Gewährung von Altersruhegeld unter Anerkennung von Fremdbeitragszeiten nach § 17 Abs. 1 b FRG und die Nachentrichtung von Beiträgen nach den §§ 21, 22 WGSVG. Im seinerzeitigen Rentenverfahren machte die Klägerin Beitragszeiten von Juni 1935 bis September 1939 als Schneiderin in M geltend. Die Beklagte lehnte den Rentenantrag mit Bescheid vom 10.04.1992 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29.04.1993 mangels glaubhaft gemachter Beitragszeiten ab. Die hiergegen erhobene Klage vor dem Sozialgericht Düsseldorf -S 12 J 144/93- sowie das anschließende Berufungsverfahren vor dem Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen, Az: L 3 J 129/95 blieben erfolglos. Mit Urteil vom 12. Juli 1996 wurde die Berufung zurückgewiesen; wegen der Einzelheiten wird auf das genannte Urteil Bezug genommen.

Den Antrag auf Nachentrichtung von Beiträgen nach den §§ 21, 22 WGSVG ebenfalls vom 26.02.1990 lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 18. November 1996 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18. März 1997 ab. Im anschließenden Klageverfahren vor dem Sozialgericht Düsseldorf, Az: S 3 RJ 68/97 machte die Bevollmächtigte der Klägerin erstmals mit der Klagebegründung vom August 1997 unter Bezugnahme auf die Entscheidungen des Bundessozialgerichts Beitragszeiten im Ghetto M geltend. Daraufhin gab die Beklagte im Klageverfahren unter dem 20.04.1998 ein Anerkenntnis ab. Sie erkannte die Zeit vom 01.10.1940 bis 15.08.1944 als glaubhaft gemachte Beitragszeit an.

In Ausführung des Anerkenntnisses vom 20.04.1998 bewilligte die Beklagte der Klägerin mit Bescheid vom 22.04.1999 Regelaltersrente ab dem 01.01.1993. Bei der Rentenberechnung legte sie im Rahmen der Gesamtleistungsbewertung einen belegungsfähigen Gesamtzeitraum vom 27.03.1937 (Vollendung des 17. Lebensjahres) bis zum 28.02.1990 (Kalendermonat vor Rentenbeginn) insgesamt 636 Kalendermonate zugrunde. Dieser Bescheid sowie der weitere Bescheid vom 03.08.1999 wurde bindend.

Mit Schriftsatz vom 19. Dezember 2001, welcher am 21.12.2001 bei der Beklagten einging, beantragte die Bevollmächtigte der Klägerin die Überprüfung dieser Bescheide nach § 44 Abs. 1 SGG X und die Neuberechnung ihrer Altersrente unter Berücksichtigung eines kürzeren belegungsfähigen Gesamtzeitraums. Zur Begründung ihres Antrages verwies sie auf das Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 24. Juli 2001 (Az: B 4 RA 45/99). Danach müsse der belegungsfähige Gesamtzeitraum, der bei der Berechnung der Gesamtleistungsbewertung zu berücksichtigen sei, mit der Vollendung des 65. Lebensjahres enden und nicht, wie von der Beklagten angenommen, mit dem Kalendermonat vor Rentenbeginn. "Rentenbeginn" im Sinne der §§ 64, 72 SGB VI sei der Zeitpunkt, zu dem der Rechtsinhaber zum ersten Mal vom Rentenversicherungsträger verlangen könne, die Rente als eine jetzt zu erbringende Leistung zu zahlen (Fälligkeit des ersten Einzelanspruchs aus dem Rentenstammrecht). Dieses Recht erlangte der Vollrechtsinhaber mit dem Beginn des Monats, der auf die Erfüllung der Anspruchsvoraussetzungen folge, welche die Entstehung des Stammrechts auslösen (Vergleich § 34 SGB VI).

Die Erlangung des Rentenstammrechts löse noch keine Einzelansprüche aus. Das Gesetz räume dem Rechtsinhaber insoweit ein Dispositionsrecht an, ob er ein Rentenantrag stellt oder sein Antragsrecht zunächst nicht ausübt, um sich dadurch einen höheren Zugangsfaktor zu sichern. Die Auffassung der Beklagten führe zu einem Widerspruch, da der Versicherte mit einem Rentenbeginn nach dem 65. Lebensjahr zwar durch einen höheren Zugangsfaktor belohnt würde, gleichzeitig jedoch der Wert der beitragsfreien Zeiten durch eine "Überdehnung" des Gesamtzeitraums gemindert werde.

Mit Bescheid vom 17.04.2002 lehnte die Beklagte den Antrag auf Neuberechnung der Altersrente der Klägerin ab. Den hiergegen erhobenen Widerspruch wies sie mit Widerspruchsbescheid vom 05.09.2002 zurück. Sie vertritt die Auffassung, das Ende des belegungsfähigen Gesamtzeitraumes sei in § 72. Abs. 2 SGB VI mit dem Kalendermonat vor Rentenbeginn anzunehmen. Den Beginn einer Rente regele § 99 SGB VI und § 30 FRG. Nach diesen Vorschriften würde nicht zwischen der Fälligkeit des ersten Einzelanspruchs aus dem Rentenstammrecht und dem Zahlungsbeginn unterschieden. Wegen der Einzelheiten wird auf die angefochtenen Bescheide Bezug genommen.

Hiergegen wendet sich die Klägerin mit der Klage vom 04.10.2002. Sie stützt ihre Auffassung zur Dauer des belegungsfähigen Gesamtzeitraumes weiterhin auf die Entscheidung des BSG vom 24.07.2001 -B 4 RA 45/99 R-.

Die Klägerin beantragt, die Beklagte unter Aufhebung der Bescheide vom 17.04.2002 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 05.09.2002 zu verurteilen, die Bescheide vom 22.04.1999 und 03.08.1999 teilweise zurückzunehmen und die Rente der Klägerin unter Berücksichtigung eines für den Rangstellenwert aus beitragsfreien Zeiten maßgeblichen Gesamtzeitraums, der am 31.03.1985 endet, neu zu berechnen.

Die Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.

Sie vertritt die Auffassung, der Rechtsansicht des 4. Senats des BSG in dem bereits zitierten Urteil, wonach sich der belegungsfähige Gesamtzeitraum nur bis zum Erwerb des Rentenstammrechts erstrecke, sei nicht zu folgen. § 99 SGB VI regele nicht nur den Beginn der Rente, sondern auch die Folgen verspäteter Antragstellung einschließlich der Berechnung des belegungsfähigen Gesamtzeitraumes.

Zur weiteren Sachverhaltsdarstellung und bezüglich des Vorbringens der Beteiligten im Einzelnen wird auf die Rentenakte der Beklagten, sowie die beigezogenen Gerichtsakten in den Verfahren S 39 (14) RJ 195/99 sowie dem weiteren Verfahren S 39 RJ 68/97, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren, Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Klage ist begründet.

Die Klägerin wird durch den angefochtenen Bescheid vom 17.04.2002 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 05.09.2002 im Sinne des § 54 Abs. 2 Satz 1 SGG beschwert, da dieser rechtswidrig ist. Die Klägerin hat Anspruch auf Neuberechnung ihrer Altersrente unter Zugrundelegung eines um 58 Kalendermonate kürzeren belegungsfähigen Gesamtzeitraums. Die Rentenbescheide vom 22.04.1999 und 03.08.1999 über die gewährte Altersrente ab dem 01.01.1993 sind gemäß § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X zurückzunehmen bzw. zu ändern. Nach dieser Vorschrift ist ein Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, soweit sich ergibt, dass bei Erlass des Verwaltungsaktes das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist. Die Rentenbescheide vom 22.04.1999 und 03.08.1999, die gemäß § 77 SGG bindend geworden sind, entsprechen bezüglich der Berechnung des belegungsfähigen Gesamtzeitraums nicht der Rechtslage.

Mit den genannten Rentenbescheiden wurde der belegbare Gesamtzeitraum im Sinne der §§ 71 bis 73 SGB VI um 58 Kalendermonate (01.04.1985 - 28.02.1990) unzulässig verlängert. Die Zeiten vom 01.04.1985 - 28.02.1990 wurden in den belegungsfähigen Gesamtzeitraum einbezogen obwohl sie nach dem Beginn der zu berechnenden Altersrente, also nach dem 01.04.1985 (Kalendermonat nach Vollendung des 65. Lebensjahres) lagen.

Gemäß § 72 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 SGB VI endet der belegungsfähige Gesamtzeitraum mit dem Kalendermonat vor Beginn der zu berechnenden Rente. Rentenbeginn im Sinne der Vorschrift ist der Zeitpunkt, zu dem der Rechtsinhaber zum 1. Mal vom Rentenversicherungsträger verlangen kann, die Rente als eine jetzt zu erbringende Leistung zu zahlen (Fälligkeit des ersten Einzelanspruchs aus dem Rentenstammrecht). Die Kammer vermochte sich der Ansicht der Beklagten, dass der Rentenbeginn im Sinne des § 72 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 SGB VI der Zeitpunkt ist, zu dem die Rente zum 1. Mal tatsächlich ausbezahlt wird, nicht anzuschließen. Die Kammer folgte damit nach eigener Prüfung in Ausführungen des Bundessozialgerichts im Urteil vom 24.07.2001 Az: B 4 RA 45/99 R, auf die hier zur weiteren Begründung Bezug genommen wird. Von entscheidener Bedeutung ist für die Kammer dabei, dass es nicht dem Willen des Gesetzgebers entsprechen kann, dass die Rentenhöhe immer weiter sinkt, je länger ein Versicherter über die Vollendung des 65. Lebensjahres hinaus die Rente nicht in Anspruch nimmt. Dies gilt insbesondere im Hinblick darauf, dass der Gesetzgeber eine spätere Inanspruchnahme der Rente grundsätzlich durch einen höheren Zugangsfaktor honorieren will. Die Rechtsansicht der Beklagten zur Ausdehnung des belegungsfähigen Gesamtzeitraums über das 65. Lebensjahr hinaus bis zur Rentenantragstellung steht im Widerspruch zum dargestellten gesetzgeberischen Anliegen.

Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 183, 193 SGG.

Die Sprungrevision war nach § 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG zuzulassen. Die Rechtssache hat grundsätzliche Bedeutung. Bislang ist nicht entschieden, ob die für die Arbeiterrentenversicherung zuständigen Senate des Bundessozialgerichts (5. und 13. Senat) der Rechtsprechung des 4. Senats zur Berechnung des belegungsfähigen Gesamtzeitraums mit dem Erwerb des Rentenstammrechts folgen. Die Sprungrevision war daher zuzulassen.
Rechtskraft
Aus
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