S 10 RJ 11/02

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Düsseldorf (NRW)
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
10
1. Instanz
SG Düsseldorf (NRW)
Aktenzeichen
S 10 RJ 11/02
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 23.08.2001 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13.12.2001 verurteilt, der Klägerin ausgehend von einem Leistungsfall 01.12.2000 Rente wegen Erwerbsunfähigkeit nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu gewähren. Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten der Klägerin.

Tatbestand:

Die Klägerin begehrt von der Beklagten die Gewährung einer Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit.

Die am 00.00.1952 in der Türkei geborene Klägerin besuchte keine Schule und erlernte auch keinen Beruf. Die Klägerin ist Analphabetin. Sie war bis 1982 als Messerschleiferin tätig.

Am 13.02.2001 beantragte die Klägerin bei der Beklagten die Gewährung einer Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit. Die Beklagte ließ die Klägerin daraufhin medizinisch begutachten durch I1 der unter dem 08.06.2001 folgende Diagnosen stellte:

1. Vermehrte, vorwiegend muskelbänderbedingte Belastungsanfälligkeit der Lenden-Becken-Hüft-Region bei hyperlordotischer Fehlstatik und degenerativen Bandscheibenschaden L5/S1 - keine typische bandscheibenbedingte Beschwerdesymptomatik,

2. mäßige Verschleißbeschwerden der Halswirbelsäule mit reaktiven Muskelbänderverspannungen (Zervikalsyndrom),

3. mäßiger Verschleiß der rechten Kniescheibe (Retropatellaarthrose),

4. chronisch reaktive Depressionen mit leichteren Somatisierungsstörungen,

Anforderungen an Verantwortung und Aufmerksamkeit sowie Konzentrationsfähigkeit verrichten. In einem weiteren psychiatrischen Sachverständigengutachten diagnostizierte H unter dem 01.06.2001 eine chronisch reaktive Depression mit Somatisierung. Die Klägerin könne noch vollschichtig körperlich leichte Tätigkeiten verrichten.

5. Übergewicht.

Die Klägerin könne noch vollschichtig körperlich leichte Tätigkeiten in wechselnder Körperhaltung oder überwiegend im Sitzen ohne schweres Heben und Tragen, ohne Zeitdruck, ohne gehobene Anforderungen an Verantwortung und Aufmerksamkeit sowie Konzentrationsfähigkeit verrichten. In einem weiteren psychiatrischen Sachverständigengutachten diagnostizierte H unter dem 01.06.2001 eine chronisch reaktive Depression mit Somatisierung. Die Klägerin könne noch vollschichtig körperlich leichte Tätigkeiten verrichten.

Dies berücksichtigend lehnte die Beklagte den Rentenantrag der Klägerin mit Bescheid vom 23.08.2001 ab. Die Klägerin sei weder voll- noch teilweise erwerbsgemindert, weil sie noch sechs Stunden und mehr Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes verrichten könne. Auch sei die Klägerin nicht berufsunfähig, da sie sich als ungelernte Arbeiterin auf alle Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes verweisen lassen müsse.

Hiergegen erhob die Klägerin Widerspruch, den die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 13.12.2001 zurückwies.

Die Klägerin hat am 00.00.0000 Klage erhoben.

Die Klägerin ist er Auffassung, ihre Krankheiten seien bisher nicht hinreichend gewürdigt worden. Im Übrigen lägen bei ihr eine Vielzahl von Leistungseinschränkungen vor, ohne dass die Beklagte ihr eine konkrete Verweisungstätigkeit benannt hätte, die sie mit ihrem Restleistungsvermögen noch verrichten könne.

Die Klägerin beantragt,

die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 23.08.2001 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13.12.2001 zu verurteilen, ihr auf ihren Antrag vom 13.02.2001 Rente wegen Erwerbsunfähigkeit nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Die Beklagte hält die getroffene Entscheidung für zutreffend. Insbesondere läge hier - auch unter Berücksichtigung der Tatsache, dass die Klägerin Analphabetin ist - keine sogenannte Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen vor.

Das Gericht hat Beweis erhoben durch Einholung von Befundberichten der die Klägerin behandelnden Ärzte K, Herrn T, Herrn B, Q1 und Q2. Es hat des Weiteren ein orthopädisches Sachverständigengutachten von I2 vom 04.09.2003 sowie ein psychiatrisches Sachverständigengutachten von L vom 06.08.2003 in Auftrag gegeben. Diesbezüglich wird auf die Gerichtsakte hingewiesen.

Im Übrigen wird wegen des weiteren Sach- und Streitstandes auf die Gerichtsakte, die beigezogene Verwaltungsakte der Beklagten und die beigezogene Verwaltungsakte des Versorgungsamtes Wuppertal hingewiesen; diese Akten sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Klage ist begründet.

Der Bescheid der Beklagten vom 23.08.2001 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13.12.2001 beschwert die Klägerin nach § 54 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG), da diese Bescheide rechtswidrig sind. Die Klägerin hat gegen die Beklagte einen Anspruch auf Gewährung einer Rente wegen Erwerbsunfähigkeit nach § 44 Sechstes Sozialgesetzbuch (SGB VI) in der bis zum 31.12.2000 gültigen Fassung. Zunächst ist § 44 SGB VI in der vorgenannten Fassung anzuwenden, weil § 300 Abs. 2 SGB VI bestimmt, dass aufgehobene Vorschriften des SGB VI und durch das SGB VI ersetzte Vorschriften auch nach dem Zeitpunkt ihrer Aufhebung noch auf den bis dahin bestehenden Anspruch anzuwenden sind, wenn der Anspruch - wie von der Klägerin - bis zum Ablauf von drei Kalendermonaten nach der Aufhebung geltend gemacht wird.

Auch sind die Voraussetzungen des § 44 SGB VI erfüllt. Nach § 44 SGB VI haben Versicherte bis zur Vollendung des 65. Lebensjahres Anspruch auf Rente wegen Erwerbsunfähigkeit, wenn sie

1. erwerbsunfähig sind,

2. in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsunfähigkeit drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit haben und

3. vor Eintritt der Erwerbsunfähigkeit die allgemeine Wartezeit erfüllt haben.

Nach Abs. 2 dieser Vorschrift sind Versicherte erwerbsunfähig, wenn sie wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, eine Erwerbstätigkeit in gewisser Regelmäßigkeit auszuüben oder Arbeitsentgelt oder Arbeitseinkommen zu erzielen, dass monatlich 630,00 DM (325,00 Euro) übersteigt.

Diese Voraussetzungen erfüllt die Klägerin. Sie ist zunächst erwerbsunfähig, weil ihr Leistungsvermögen aufgrund qualitativer Einschränkungen nicht mehr für eine Tätigkeit unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes ausreicht und die Beklagte keine für sie in Betracht kommende Verweisungstätigkeit benennen konnte. Zwar bedarf es bei Versicherten, die - wie im vorliegenden Fall die Klägerin - auf das allgemeine Arbeitsfeld verweisbar sind und noch vollschichtig körperlich leichte Arbeiten mit zusätzlichen Einschränkungen verrichten können, grundsätzlich nicht der konkreten Benennung (zumindest) einer Verweisungstätigkeit. Ausnahmsweise hat die Rechtsprechung die Benennung einer konkreten Verweisungstätigkeit aber in solchen Fällen für erforderlich gehalten, in denen eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen vorliegt; kann keine Verweisungstätig keit benannt werden, ist der Versicherte erwerbsunfähig (BSG, Urteil vom 19.12.1996 - Gs 1 - 4/95 = SozR 3-2600 § 44 Nr. 8). Eine solche Summierung hat die Rechtsprechung insbesondere bei einem Analphabeten angenommen, der nur noch in der Lage ist, leichte körperliche Arbeiten in wechselnder Körperhaltung, in geschlossenen Räumen ohne Zwangshaltungen oder einseitige Körperpositionen, ohne dauerndes Arbeiten auf Gerüsten und Leitern, ohne ständige Einwirkungen von Kälte, Hitze, Zugluft, starken Temperaturschwankungen und Nässe regelmäßig und vollschichtig zu verrichten (BSG, Urteil vom 10.12.2003 - B 5 RJ 64/02 R -). Genau dies gilt auch im Falle der Klägerin. Die Klägerin ist zunächst Analphabetin und kann ferner nur noch körperlich leichte Tätigkeiten ohne häufiges Bücken und Knien, ohne langandauernde Zwangshaltungen der Wirbelsäule, ohne Arbeiten auf Leitern oder Gerüsten, ohne Witterungseinwirkung oder Einwirkung von Kälte und Hitze in wechselnder Körperposition oder überwiegend im Sitzen verrichten.

Die zuletzt genannten Leistungseinschränkungen stehen zur Überzeugung der Kammer aufgrund des orthopädischen Sachverständigengutachtens von I2 vom 04.09.2003 sowie des psychiatrischen Sachverständigengutachtens von L vom 06.08.2003 fest. I2 hat in seinem Gutachten vom 04.09.2003 festgestellt, dass die Klägerin an chronischen Wirbelsäulenschmerzen im Lenden- und Nackenbereich, an chronischen Knieschmerzen beidseits und einer leichtgradigen depressiven Störung mit reaktiven Anteilen leidet. Die Klägerin könne noch vollschichtig körperlich leichte Tätigkeiten unter Beachtung der vorgenannten Einschränkungen verrichten. In seinem psychiatrischen Gutachten vom 06.08.2003 hat L bei der Klägerin eine leichtgradig depressive Störung mit reaktiven Anteilen diagnostiziert, aus psychiatrischer Sicht aber keine Einschränkungen des Leistungsvermögens der Klägerin begründen können.

Diese Beurteilung der Sachverständigen hält die Kammer für überzeugend. Denn die Sachverständigen können diese auf eine ausführliche und erhobene Anamnese stützen und orientieren ihre Beurteilung an anerkannten Bewertungsmaßstäben. Die Gutachten sind in sich schlüssig und frei von Widersprüchen. Sie werden hinsichtlich der maßgeblichen Diagnosen und auch hinsichtlich der Leistungsbeurteilung durch die von der Beklagten im Verwaltungsverfahren eingeholten Gutachten von I2 und H bestätigt.

Auch konnte die Beklagte der Klägerin keine konkrete Verweisungstätigkeit benennen, die ihrem Restleistungsvermögen unter Berücksichtigung der vorstehend festgestellten Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen gerecht wird. Die von der Beklagten vorgeschlagenen Sortier- und Verpackungstätigkeiten scheiden deswegen aus, weil diese Tätigkeiten Lese- und Schreibkenntnisse voraussetzen, wobei es sich bei der Tätigkeit des Sortierers und Verpackers auch nur um eine leichte bis mittelschwere körperliche Tätigkeit handelt (LSG NRW, Urteil vom 23.10.2002 - L 8 RJ 140/00; BSG, a.a.O.).

Daneben erfüllt die Klägerin auch die weiteren Anspruchsvoraussetzungen für eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit. Sie hat in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsunfähigkeit drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung und erfüllt auch die allgemeine Wartezeit von fünf Jahren.

Die Rente war hier nach § 102 SGB VI in der bis zum 31.12.2000 gültigen Fassung unbefristet zu gewähren, da nach den eingeholten Sachverständigengutachten nicht die begründete Aussicht besteht, dass die Minderung der Erwerbsfähigkeit in absehbarer Zeit behoben sein kann. Insbesondere die orthopädische Leistungseinbuße ist dauernder Natur. Die degenerativen Veränderungen werden schicksalhaft fortschreiten und orthopädische Heilmaßnahmen haben keine Aussicht auf Erfolg (Bl. 28 des orthopädischen Gutachtens von I2 vom 04.09.2003).

Die Kammer geht ferner von einem Leistungsfall Dezember 2000 aus, weil die Klägerin auch damals schon die vorbeschriebenen Leistungseinschränkungen aufwies, die insbesondere durch orthopädische Erkrankungen begründet sind.

Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 183, 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
Saved