S 26 RJ 1253/03

Land
Hamburg
Sozialgericht
SG Hamburg (HAM)
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
26
1. Instanz
SG Hamburg (HAM)
Aktenzeichen
S 26 RJ 1253/03
Datum
2. Instanz
LSG Hamburg
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
1. Die Klage wird abgewiesen. 2. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Die Klägerin begehrt eine Altersrente, insbesondere unter Berücksichtigung von Zeiten nach dem Gesetz zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungszeiten im Ghetto (ZRBG).

Die Klägerin wurde am XX.X.1923 unter dem Namen M. R. in D. in Rumänien geboren. Sie ist jüdischen Glaubens.

Zu Beginn des Zweiten Weltkrieges hielt sich die Klägerin mit ihrer Familie in D. auf. Am 13.11.1941 musste die damals 18-jährige Klägerin gemeinsam mit ihrer Familie D. verlassen. Zusammen mit der übrigen jüdischen Bevölkerung des Bezirks D. wurde die Familie der Klägerin in das Gebiet des seinerzeit so genannten "Transnistrien" vertrieben. Dort gelangte sie in den Ort Moghilev-Podolski (auch: "Mogiljow-Podolsk" o.ä.). Weitere Einzelheiten ihres Verfolgungsschicksals hat die Klägerin im Rahmen des Rentenantragsverfahrens vorgetragen (dazu unten). Nach ihrer Befreiung kehrte die Klägerin zunächst nach D. zurück. Bis ins Jahr 1970 lebte die Klägerin in Rumänien. Anschließend lebte sie von 1970 bis ins Jahr 1983 in Israel. Im Jahr 1983 wanderte sie von dort nach Kanada aus, wo sie bis heute lebt. Mittlerweile ist die Klägerin kanadische Staatsangehörige.

Einen Antrag auf Entschädigung nach dem Bundesentschädigungsgesetz (BEG) hat die Klägerin nicht gestellt. Von der Claims Conference wurden der Klägerin Leistungen aus dem so genannten Article 2 Fund der Bundesregierung bewilligt.

Am 7.11.2002 stellte die Klägerin erstmals einen Antrag auf Bewilligung einer Altersrente. Zur Begründung führte sie aus, sie sei schon im Jahr 1938 gezwungen worden, den sog. "Judenstern" zu tragen. Sie sei zusammen mit allen anderen jüdischen Schülern aus ihrer Schule entfernt worden. Im Sommer 1941 habe man ihren Vater durch ein neues Gesetz gezwungen, alle Wertsachen der Familie bei der Nationalbank in D. zu hinterlegen. Am 13.11.1941 habe ihre gesamte Familie das Haus in D. verlassen müssen. Bei A. seien sie gezwungen worden, über den Fluss D1 auf ukrainisches Gebiet nach Moghilev-Podolski im seinerzeit sog. Transnistrien zu ziehen. Ihre gesamte, 33 Personen umfassende Familie sei von dieser Vertreibung betroffen gewesen.

Moghilev-Podolski habe in einem militärischen Sperrgebiet gelegen. Zwischen 1942 und 1943 habe die deutsche Armee dort schreckliche Dinge getan. Sie erinnere sich an einen Vorfall im Juli 1942, als deutsche Soldaten in einem Lastwagen auf einem "Flohmarkt" in Moghilev-Podolski erschienen seien. Der Lastwagen sei absichtlich durch und über die Verkaufsstände gesteuert worden und habe die Juden, die dort ihre Habe für Lebensmittel verkauft hätten, erfasst. Dabei sei alles zerstört worden und es seien fünf tote und viele verwundete Juden zurückgeblieben.

Im Jahr 1942 habe ihr Vater von einer Gießerei in Moghilev-Podolski erfahren, die für die Deutschen gearbeitet habe. Er habe aufgrund seiner Sprachkenntnisse eine Arbeit in dieser Gießerei erhalten. Die Fabrik sei von deutschen Einsatzgruppen und rumänischen Spezialeinheiten ("Echelon") überwacht worden. In den Betrieben der Gießerei seien Männer und Frauen tätig gewesen. Dort habe es außerdem auch Werkstätten anderer Gewerbe gegeben, in denen jüdische Facharbeiter beschäftigt worden seien. Sie selbst habe als Dienerin / Handlangerin ("servant") in der Gießerei gearbeitet. Sie sei damals 18 Jahre alt gewesen. Für diese Arbeit habe sie Suppe und Brot, gelegentlich auch etwas Geld erhalten. Erst im Dezember 1943 hätte sie nach Hause zurückkehren können. Nur wenige Mitglieder ihrer Familie hätten die Verfolgung überlebt.

Mit Bescheid vom 20.1.2003 lehnte die Beklagte den Antrag der Klägerin ab. Zur Begründung führte sie aus, dass keine in der gesetzlichen Rentenversicherung anrechenbaren Zeiten zurückgelegt worden seien. Der von der Klägerin angegebene Beschäftigungsort sei nicht als Ghetto nachgewiesen. Darüber hinaus könnten Tätigkeiten in der "transnistrischen Kolonie" generell nicht nach dem Gesetz zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungszeiten im Ghetto (ZRBG) anerkannt werden.

Mit ihrem Widerspruchsschreiben vom 2.4.2003 legte die Klägerin ein mit "Identitätsausweis" überschriebenes Dokument aus dem Ghetto Moghilev-Podolski vom 27.8.1943 vor. Darüber hinaus verwies sie auf verschiedene Internet-Dokumente, aus denen sich ergebe, dass in Moghilev-Podolski tatsächlich ein Ghetto bestanden habe. Mit Widerspruchsbescheid vom 28.11.2003 wies die Beklagte auch den Widerspruch der Klägerin zurück. Zur Begründung stellte die Beklagte nunmehr allein darauf ab, dass das Gebiet Transnistrien seit seiner Eroberung im Sommer 1941 von Rumänien besetzt gewesen sei. Damit falle das Ghetto Moghilev-Podolski nicht in den Anwendungsbereich des ZRBG. Daraufhin hat die Klägerin mit Schreiben vom 15.12.2003, Eingang bei Gericht am 29.12.2003, Klage gegen die Entscheidung der Beklagten erhoben. Zur Begründung führt sie aus, dass die während des Zweiten Weltkrieges verübten Verbrechen auch in Transnistrien von der deutschen Armee initiiert und koordiniert worden seien. Rumänien habe seinerzeit auf deutscher Seite am Krieg teilgenommen und sei dafür von der deutschen Seite hoch geschätzt worden. Es sei nicht verständlich, dass das Ghetto in Moghilev-Podolski von einer Berücksichtigung durch die Beklagte ausgeschlossen werde. Rumänien sei ein Verbündeter des Deutschen Reiches gewesen. Im Ghetto selbst sei die gesamte Verwaltung von Deutschen wahrgenommen worden. Auch sei die gesamte Arbeit im Ghetto auf die Versorgung des Deutschen Reiches und der deutschen Armee ausgerichtet gewesen. Deutsche Einsatzgruppen hätten die Gießerei überwacht.

Die Klägerin beantragt nach Lage der Akten sinngemäß,

den Bescheid der Beklagten vom 20.1.2003 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 28.11.2003 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihr ein Altersruhegeld zu bewilligen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Zur Begründung verweist die Beklagte auf ihre Ausführungen in den angefochtenen Bescheiden und auf den Inhalt der Akten. Ergänzend führt die Beklagte aus, dass Transnistrien ihren Erkenntnissen zufolge spätestens seit dem 30.8.1941 bis zur Befreiung des Gebietes durch die Rote Armee im März 1944 als eingegliederte Provinz dem rumänischen Herrschaftsbereich zugeordnet gewesen sei. Damit gehöre Transnistrien nicht zu den im Sinne von § 1 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 ZRBG vom Deutschen Reich besetzten oder eingegliederten Gebieten.

Zur weiteren Aufklärung des Sachverhalts hat das Gericht die die Klägerin betreffenden Akten und Unterlagen der Beklagten beigezogen. Auf Anforderung des Gerichts hat darüber hinaus das Politische Archiv des Auswärtigen Amtes eine Kopie des so genannten "Abkommens von Tighina" (auch: "Hauffe-Tataranu-Abkommen") vom 30.8.1941 zur Verfügung gestellt (Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes, Büro Unterstaatssekretär, Russland I, Archivsignatur R 29905). Eine als Anlage zu diesem Abkommen gehörende Landkarte betreffend die geographische Grenzziehung im Abkommensgebiet konnte weder in den Aktenbeständen des Auswärtigen Amtes noch in den Beständen des Bundesarchivs ermittelt werden. Vom Bundesarchiv wurde dem Gericht ersatzweise eine Karte zum "Verwaltungsstand Transnistrien Oktober 1941" (Bundesarchiv, Bestand Kart. 775 – Politische und Verwaltungskarten der Ukraine, Karte Nr. 7) übersandt.

Darüber hinaus hat das Gericht das Militärgeschichtliche Forschungsamt in Potsdam für den fraglichen Zeitraum um Stellungnahme zum dortigen Forschungsstand im Hinblick auf die tatsächlichen Besatzungsverhältnisse im Gebiet des seinerzeit sog. Transnistrien gebeten. Von dort konnten zum hier maßgeblichen Problemkreis jedoch keine weiterführenden Angaben gemacht werden. Zu den Aktivitäten der so genannten Einsatzgruppe D / Sonderkommando 10 b im Gebiet von Moghilev-Podolski hat das Gericht vom Staatsarchiv München die Zeugenaussagen des F. R1 und des W. K. aus dem Ermittlungsverfahren Staatsanwaltschaft München I, Az.: 22 Js 203/61 angefordert (Staatsarchiv München, Signatur: Staatsanwaltschaften 35303/1, Bd. 7, S. Bl. 1395 ff. bzw. Bd. 10, S. 2411 ff.).

Zum historischen Hintergrund haben der Kammer ferner vorgelegen: Israel Gutmann (Hrsg.), "Enzyklopädie des Holocaust" (Tel Aviv 1990, Berlin 1993); Norbert Müller, "Die faschistische Okkupationspolitik in den zeitweilig besetzten Gebieten der Sowjetunion" (Berlin 1991); Andrej Angrick, "Besatzungspolitik und Massenmord – Die Einsatzgruppe D in der südlichen Sowjetunion 1941-1943" (Hamburg 2003); Andrej Angrick, "The Escalation of German-Rumanian Anti-Jewish Policy after the Attack on the Soviet Union, June 22, 1941" (Yad Vashem Studies, Vol. XXVI, Jerusalem 1998, S. 203-238); Siegfried Jagendorf, "Jagendorf’s Foundry - Memoir of the Romanian Holocaust" (New York 1991); Matatias Carp, "Holocaust in Romania" (im Internet veröffentlicht unter www.hungarian-history.hu/lib/carp/carp.pdf - Stand: 8.9.2005).

Für weitere Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Prozessakte des Gerichts sowie den Inhalt der historischen Quellen und der beigezogenen Akten und Unterlagen verwiesen, die vorgelegen haben und Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Klage bleibt in der Sache ohne Erfolg. Die Beklagte hat die Gewährung einer Regelaltersrente zu Recht abgelehnt. Die Klägerin hat in Ermangelung anrechenbarer (fiktiver) Beitragszeiten in der gesetzlichen Rentenversicherung keinen Anspruch auf Bewilligung einer Altersrente.

Die Kammer gibt vorab zu Bedenken, dass der vorliegende Rechtsstreit allein die Frage der Bewertung des Verfolgungsschicksals und der damit verbundenen Tätigkeiten der Klägerin nach geltenden rentenversicherungsrechtlichen Vorschriften betrifft. Eventuell weitergehende Gesichtspunkte einer wünschenswerten Wiedergutmachung des von der Klägerin während der Zeit ihrer Verfolgung erlittenen Unrechts waren dabei nicht entscheidend. Dem letztgenannten Aspekt dienen insbesondere die Leistungen nach dem Bundesentschädigungsgesetz (BEG) bzw. aus dem im Zusammenhang mit der deutschen Wiedervereinigung eingerichteten Article 2 Fund der Bundesregierung.

Die Kammer hat keinen Zweifel, dass die Darstellung des Verfolgungsschicksals der Klägerin im Wesentlichen den tatsächlichen Geschehnissen der Jahre 1939 bis 1945 entspricht. Insbesondere geht die Kammer in Anbetracht des im Rahmen der Sachverhaltsermittlung herangezogenen biographischen Zeitzeugenberichtes des Ingenieurs Siegfried Jagendorf (dazu unten) davon aus, dass die Klägerin während der Zeit ihres zwangsweisen Aufenthaltes in Moghilev-Podolski zumindest zeitweise in einer dort eingerichteten und mithilfe jüdischer Arbeitnehmer betriebenen Gießerei beschäftigt war.

Gleichwohl hat die Klägerin nach dem derzeit geltenden Recht unter Berücksichtigung aller zur Verfügung stehenden Informationen über ihr Verfolgungsschicksal und die damit verbundenen Arbeiten keinen Anspruch auf die Bewilligung einer Regelaltersrente aus der deutschen gesetzlichen Rentenversicherung. In Ermangelung anzuerkennender Beitragszeiten hat die Klägerin die allgemeine Wartezeit nicht erfüllt. Nach § 35 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI) haben Versicherte einen Anspruch auf Altersrente, wenn sie das 65. Lebensjahr vollendet und die allgemeine Wartezeit erfüllt haben. Nach § 50 Abs. 1 Satz 1 SGB VI beträgt die allgemeine Wartezeit fünf Jahre. Auf die allgemeine Wartezeit werden Beitragszeiten und Ersatzzeiten angerechnet, vgl. § 51 Abs. 1 und 4 SGB VI.

Eine Anrechnung der Arbeitstätigkeit der Klägerin in der Gießerei im Ghetto von Moghilev-Podolski als (fiktive) Beitragszeit in der gesetzlichen Rentenversicherung im Sinne von § 51 Abs. 1 SGB VI kommt nicht in Betracht. Für die angegebene Arbeitstätigkeit sind Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung nicht entrichtet worden. Allerdings können nach § 2 Abs. 1 in Verbindung mit § 1 Abs. 1 Gesetz zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungszeiten im Ghetto vom 20.6.2002 (ZRBG – BGBl. I 2002, S. 2074 f.) Beitragszahlungen zur gesetzlichen Rentenversicherung ausnahmsweise fingiert werden, wenn ein Verfolgter sich zwangsweise in einem Ghetto aufgehalten hat, dort aus eigenem Willensentschluss eine Beschäftigung aufgenommen hat, diese Beschäftigung gegen Entgelt ausgeübt wurde und das Ghetto sich in einem Gebiet befand, das vom Deutschen Reich besetzt oder in dieses eingegliedert war. Jedoch ist im vorliegenden Fall jedenfalls das letztgenannte Tatbestandsmerkmal nicht erfüllt. Der Ort Moghilev-Podolski bzw. das dortige Ghetto wird vom räumlichen Anwendungsbereich des Gesetzes über die Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungszeiten im Ghetto (ZRBG) nicht erfasst.

Moghilev-Podolski befindet sich nicht in einem Gebiet, das während des Zweiten Weltkrieges im Sinne des ZRBG vom Deutschen Reich besetzt oder in dieses eingegliedert worden war. Nach Sinn und Zweck des ZRBG kommt eine Anwendung des ZRBG nur in den Regionen in Betracht, die in besonderem Maße der hoheitlichen Gewalt des Deutschen Reiches ausgesetzt waren (vgl. die Begründung des Entwurfs eines Gesetzes über die Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungszeiten im Ghetto vom 19.3.2002, Bundestagsdrucksache 14/8583, Seite 6). Nach Auffassung der Kammer kommt die Annahme eines solchen besonders hohen Maßes an hoheitlicher Gewalt des Deutschen Reiches bei Gebieten, die von eigenständige politische Interessen verfolgenden Bündnispartnern des Deutschen Reiches besetzt gehalten wurden, in der Regel nicht in Betracht. Nach den Ergebnissen der Ermittlungen des Gerichts war das Gebiet um Moghilev-Podolski ab dem 30.8.1941 von Rumänien besetzt. Rumänien war während des Zweiten Weltkrieges ein weitgehend autonom agierender Bündnispartner des Deutschen Reiches, der – anders als z.B. das benachbarte Ungarn – zu keiner Zeit durch das Deutschen Reich militärisch besetzt und von diesem direkt seinem politischen Willen unterworfen wurde (vgl. hierzu u.a. Carp, "Holocaust in Romania", Seite 151 ff.). Die Tatsache, dass die in Rumänien während des Zweiten Weltkrieges herrschenden politischen Kräfte in weiten Bereichen mit den politischen und militärischen Zielen des nationalsozialistischen Deutschen Reiches konform gingen und auch massiv von diesem beeinflusst wurden (vgl. Enzyklopädie des Holocaust – Kapitel "Rumänien", Seite 1249 ff.), vermag daran nach Auffassung der Kammer nichts zu ändern. Denn die "hoheitliche Gewalt" im Sinne der Begründung des ZRBG verblieb in Moghilev-Podolski trotz allem letztendlich bei der rumänischen Regierung:

Der Ort Moghilev-Podolski befindet sich in dem während des Zweiten Weltkrieges als "Transnistrien" bezeichneten Gebiet, das einen Teil der heutigen Republik Moldau sowie der Südukraine umfasste. Dieses Gebiet wurde schon kurz nach Beginn des Überfalls auf die Sowjetunion am 22.7.1941 von deutschen und rumänischen Truppen gemeinsam erobert (vgl. Enzyklopädie des Holocaust, Bd. III, Seite 1421). Am 30.8.1941 wurde die Region durch die zwischen dem Oberkommando des Heeres und dem Rumänischen Generalstab geschlossene "Vereinbarung über die Sicherung, Verwaltung und Wirtschaftsauswertung der Gebiete zwischen Dnjestr und Bug (Transnistrien) und Bug und Dnjpr (Bug-Dnjpr-Gebiet)" – sog. "Abkommen von Tighina" – formell rumänischer Besatzungshoheit unterstellt. Dabei wurden gemäß Ziffer 1.), Buchstabe a) des Abkommens von Tighina die Sicherung, Verwaltung und Wirtschaftsausnutzung in Transnistrien der rumänischen Seite übergeben. Nach Ziffer 4.) des Abkommens von Tighina wurde die Verwaltung Transnistriens einem rumänischen Chef der Verwaltung unterstellt. Lediglich ein eng umgrenzter Bereich – insbesondere die Verwaltung der Eisenbahnlinien – verblieb unter der verantwortlichen Aufsicht der deutschen Seite.

Dass der Ort Moghilev-Podolski während des Zweiten Weltkrieges tatsächlich dem Territorium von Transnistrien angehörte, ergibt sich unter anderem aus der vom Bundesarchiv übermittelten Karte zum "Verwaltungsstand Transnistrien Oktober 1941" (Bundesarchiv, Bestand Kart. 775 Politische und Verwaltungskarten der Ukraine, Karte Nr. 7). Die Kammer ist überdies zu der Überzeugung gelangt, dass die Organisation der Besatzungsverwaltung in Moghilev-Podolski und im dortigen Ghetto während der Zeit des Bestehens des von der Klägerin beschriebenen Gießereibetriebes tatsächlich den Regelungen des sog. Abkommens von Tighina entsprach, d.h. im Wesentlichen von rumänischen Stellen ausging. Im Hinblick auf die tatsächlichen Verhältnisse im Ghetto von Moghilev-Podolski sowie die Zustände in der dort eingerichteten Gießerei hat die Kammer insbesondere die Erinnerungen des jüdischen Ingenieurs Siegfried Jagendorf ausgewertet (Jagendorf’s Foundry – Memoir of the Romanian Holocaust 1941-1944, New York 1991). Diesen – von der Kammer als glaubhafter Zeitzeugenbericht angesehenen – persönlichen Erinnerungen zufolge wurde mit dem Wiederaufbau einer von den nach Moghilev-Podolski Deportierten zerstört vorgefundenen Gießerei im November 1941 begonnen. Die Kammer geht angesichts der historischen Quellenlage davon aus, dass die in dieser Zeit von Siegfried Jagendorf geleitete Gießerei der Betrieb ist, den die Klägerin in ihrer Klagebegründung als Ort ihrer Tätigkeit und der Tätigkeit ihres Vaters beschreibt. Dafür spricht insbesondere die von der Klägerin wie von Siegfried Jagendorf beschriebene Vielfalt der gewerblichen Aktivitäten wie auch die Tatsache, dass in den Abteilungen der Gießerei jüdische Männer und Frauen arbeiteten und teilweise sogar ausgebildet wurden. Dass unter den seinerzeit geltenden Umständen mehrere auf diese Weise um eine Gießerei angesiedelte betriebliche Aktivitäten in Moghilev-Podolski existierten, hält die Kammer nicht für wahrscheinlich.

Die von der Klägerin behauptete maßgebliche Stellung deutscher Besatzungsbeamter und deutscher Soldaten bei der Organisation und Bewachung des Ghettos und der Gießerei in Moghilev-Podolski lässt sich den Darstellungen des Siegfried Jagendorf jedoch an keiner Stelle entnehmen. Als Initiator des Wiederaufbaus der Gießerei hatte sich Siegfried Jagendorf seinen eigenen Erinnerungen zufolge vor Ort stets mit rumänischen Besatzungsbeamten auseinanderzusetzen, die sowohl die Verhältnisse in Moghilev-Podolski vor Ort als auch im gesamten Transnistrien entscheidend beeinflussten. Auch wenn sowohl das Abkommen von Tighina als auch die Schilderungen des Siegfried Jagendorf durchaus Raum für eine gewisse Einflussnahme deutscher Stellen auf die Verwaltung in Transnistrien lassen, genügt dies angesichts der klaren Aufteilung der besatzungsrechtlichen Befugnisse sowie der tatsächlichen Schilderungen des Siegfried Jagendorf im Hinblick auf die Verhältnisse in Moghilev-Podolski nicht zu der Annahme, dass das Gebiet um Moghilev-Podolski als vom Deutschen Reich besetzt im Sinne des ZRBG anzusehen wäre.

Die Kammer verkennt jedoch nicht, dass während des Zweiten Weltkrieges im Gebiet von Transnistrien zahlreiche Verbrechen insbesondere gegen die jüdische Bevölkerung verübt wurden, an denen auch deutsche Einheiten maßgeblich beteiligt waren. So ergibt sich unter anderem aus den Aussagen der Zeugen W. K. und F. R1 im Ermittlungsverfahren Staatsanwaltschaft München I zum Az.: 22 Js 203/61, dass jedenfalls in den ersten Wochen nach Beginn des Überfalls auf die Sowjetunion am 22.7.1941 und der Eroberung des Gebietes Transnistrien durch die deutsche 11. Armee das sog. Sonderkommando 10 b der Einsatzgruppe D im Gebiet um Moghilev-Podolski an Deportationen der jüdischen Bevölkerung sowie an der Verübung weiterer Gewaltverbrechen beteiligt war (siehe dazu auch: Angrick: "Besatzungspolitik und Massenmord – Die Einsatzgruppe D in der südlichen Sowjetunion 1941-1943"; ders.: "The Escalation of German-Rumanian Anti-Jewish Policy after the Attack on the Soviet Union, June 22, 1941" - Yad Vashem Studies, Vol. XXVI, S. 203-238).

Auch durch die Annahme der Ausübung der tatsächlichen Besatzungshoheit durch rumänische Beamte ab dem 30.8.1941 werden spätere gewalttätige Übergriffe deutscher Soldaten bzw. von Mitgliedern sonstiger Einheiten in Moghilev-Podolski – wie der von der Klägerin dargestellte Überfall auf den "Flohmarkt" im Juli 1942 – keineswegs ausgeschlossen. Angesichts der nahen Grenze zum deutsch besetzten Reichskommissariat Ukraine und der Tatsache, dass nach dem Abkommen von Tighina gewisse Aufgaben in Transnistrien der deutschen Seite vorbehalten waren, erscheint es der Kammer als plausibel, dass auch nach dem 30.8.1941 noch deutsche militärische oder sonstige Einheiten in nennenswerter Zahl in Transnistrien stationiert waren. Damit sind auch wiederholte Übergriffe wie der von der Klägerin beschriebene auf den "Flohmarkt" in Moghilev-Podolski durchaus wahrscheinlich. Aufgrund der Zuweisung der allgemeinen Besatzungshoheit an Rumänien im Abkommen von Tighina und der tatsächlichen Wahrnehmung dieser Aufgaben durch die rumänische Seite genügt dieser Umstand nach Auffassung der Kammer jedoch nicht, zu einer Anwendung des ZRBG auch im Gebiet von Moghilev-Podolski zu gelangen. Hiergegen steht der eindeutige Wortlaut sowie der Sinn und Zweck des Gesetzes über die Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungszeiten im Ghetto (ZRBG), wonach ausdrücklich eine deutsche Besetzung des fraglichen Gebietes vorausgesetzt wird.

Nach alledem kommt es auf die Frage, ob bei der Arbeitsleistung der Klägerin im Ghetto Moghilev-Podolski eine Beschäftigungsaufnahme aus freiem Willensentschluss sowie Entgeltlichkeit im Sinne des ZRBG vorgelegen haben, nicht an. Die Anrechnung fiktiver Beitragszeiten nach dem ZRBG kommt daher nicht in Betracht.

Infolgedessen ist auch die Anerkennung einer Ersatzzeit wegen nationalsozialistischer Verfolgung nach § 250 Abs. 1 Nr. 4 SGB VI nicht möglich. § 250 Abs. 1 Nr. 4 setzt voraus, dass der Verfolgte bereits als "Versicherter" gilt. Versichert im Sinne dieser Vorschrift sind nur Personen, die mindestens einen Beitrag zur gesetzlichen Rentenversicherung entrichtet haben (vgl. Kreikebohm, Kommentar zum SGB VI, 2. Auflage, § 250, Rdnr. 6). Da die Klägerin jedoch keine solchen Beiträge zur deutschen gesetzlichen Rentenversicherung entrichtet hat und auch keine solchen Beiträgen für die Beschäftigung während der Zeit ihrer Verfolgung unter dem Nationalsozialismus als entrichtet gelten, scheidet die Berücksichtigung einer Ersatzzeit nach § 250 Abs. 1 Nr. 4 SGB VI aus.

Nach alledem war die Klage auf Gewährung einer Altersrente aus der gesetzlichen Rentenversicherung insgesamt abzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG).
Rechtskraft
Aus
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