Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Dortmund (NRW)
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
20
1. Instanz
SG Dortmund (NRW)
Aktenzeichen
S 20 SB 127/01
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Der Bescheid vom 22.02.2001 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19.04.2001 wird aufgehoben. Der Beklagte hat der Klägerin die notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten darüber, ob der Beklagte berechtigt war, den Bescheid vom 02.12.1996, mit dem er einen GdB von 60 festgestellt hatte, zurückzunehmen und bei der Klägerin einen GdB von 30 festzustellen.
Die am ... geborene Klägerin stellte am 14.06.1996 erstmals einen Antrag auf Feststellung einer Behinderung sowie des Grades der Behinderung (GdB) nach dem Schwerbehindertengesetz (SchwbG). Der Beklagte holte einen Befundbericht von dem praktischen Arzt Dr A ein und zog einen Reha-Entlassungsbericht der Klinik von der Landesversicherungsanstalt Westfalen bei. Dr A berichtete von einer chronischen Alkoholkrankheit mit einer Entzugsbehandlung im Jahr 1988. In dem ärztlichen Entlassungsbericht der Klinik wurde von einem stationären Aufenthalt im Jahre 1990 wegen der Alkoholproblematik berichtet, seither sei die Patientin "trocken". Zudem wurde in beiden Berichten eine Coxarthrose und wiederkehrende Lumbalgien beschreiben.
Nach versorgungsärztlicher Auswertung der medizinischen Unterlagen stellte der Beklagte mit Bescheid vom 02.12.1996 einen GdB von 60 und die folgende Behinderung fest:
chronisch-toxische Schädigung; verbildende Wirbelsäulenveränderungen, Fehlhaltung; Hüftgelenksfunktionsbehinderung links, Fußverbildungen; Funktionsbehinderung linkes Ellenbogengelenk; Zuckerkrankheit.
Im Januar 1999 leitete der Beklagte von Amts wegen eine Nachprüfung ein und holte einen Befundbericht von dem Orthopäden DrB ein. Sodann teilte er der Klägerin mit, dass er beabsichtige den GdB herabzusetzen, da die für die Entscheidung in dem Bescheid vom 02.12.1996 ausschlaggebende Gesundheitsstörung der toxischen Schädigung nicht mehr vorliege. Mit Bescheid vom 18.03.1999 stellte der Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 02.12.1996 einen GdB von 30 fest.
Gegen diese Entscheidung legte die Klägerin Widerspruch ein. Sie trug vor, dass eine toxische Schädigung auch im Jahre 1996 nicht mehr vorgelegen habe. Sie könne nicht verstehen, warum dann ein GdB von 30 abgezogen werde. Sie habe 1996 wegen ihrer Hüfte und Wirbelsäule den Antrag auf Feststellung eines Grades der Behinderung gestellt, nachdem sie wegen dieser Erkrankung eine Kur durchgeführt habe. Zwischenzeitlich habe sich insbesondere ihre Hüfterkrankung wesentlich verschlechtert.
Der Beklagte holte weitere Befundberichte von Dr C und Dr D ein und ließ die Klägerin von Frau Dr E versorgungsärztlich untersuchen und begutachten. Die Versorgungsärztin führte aus, dass hinsichtlich der mit einem GdB von 50 zugrunde gelegten chronisch-toxischen.Schädigung von Anfang an eine zweifelsfreie Unrichtigkeit vorgelegen habe. Die früher bestehenden Alkoholprobleme seien seit vielen Jahren überwunden und stellten auch 1996 keine Behinderung mehr dar.
Daraufhin hob der Beklagte den Bescheid vom 18.03.1999 auf und teilte der Klägerin mit, dass er beabsichtige, den Bescheid vom 02.12.1996 nach § 45 SGB X aufzuheben. Nach der Einholung weiterer Befund- und Entlassungsberichte vom Dr C und Dr D und der Anhörung der Klägerin nahm der Beklagte mit Bescheid vom 22.02.2001 den Bescheid vom 02.12.1996 gemäß § 45 Abs. 1 SGB X zurück. Zur Begründung führte er aus, dass aus dem rechtswidrigen Bescheid vom 02.12.1996 zweifelsfrei erkennbar war, dass bei der Bewertung eine als chronisch-toxische Schädigung bezeichnete Alkoholkrankheit berücksichtigt wurde, die tatsächlich nicht mehr vorlag. Dies sei der Klägerin bekannt gewesen bzw. infolge grober Fahrlässigkeit nicht bekannt gewesen. Der hiergegen eingelegte Widerspruch wurde mit Widerspruchsbescheid vom 19.04.2001 zurückgewiesen.
Mit der am 30.04.2001 erhobenen Klage macht die Klägerin geltend, dass ihre Behinderung nicht ausreichend gewürdigt sei. Die Behinderung der linken Hüfte wirke sich negativ auf die Lendenwirbelsäule aus und eine linksseitige Schultergelenkserkrankung sei nicht berücksichtigt worden.
Die Klägerin beantragt,
den Bescheid vom 22.02.2001 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19.04.2001 aufzuheben.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Er hält den Bescheid für rechtmäßig.
Das Gericht hat am 08.11.2001 einen Erörterungstermin in Siegen durchgeführt und die Klägerin informatorisch befragt.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Sitzungsniederschrift vom 08.11.2001 sowie auf den Inhalt der Gerichtsakte und der Schwerbehindertenakte des Beklagten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die Kammer konnte mit dem Einverständis der Beteiligten gemäß § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ohne mündliche Verhandlung entscheiden.
Die Klage ist zulässig und begründet. Die Klägerin ist durch den angefochtenen Bescheid beschwert im Sinne des § 54 Abs. 2 Satz 1 SGG. Der Beklagte war nicht berechtigt, den Bescheid vom 02.12.1996 zurückzunehmen, da die Voraussetzungen für eine Rücknahme nicht § 45 Abs. 1 SGB X nicht vorlagen.
Nach § 45 Abs. 1 Satz 1 SGB X darf ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt nur unter den Einschränkungen der Absätze 2 bis 4 zurückgenommen werden. Die Rücknahme eines Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung, ist gemäß § 45 Abs. 3 Satz 1 SGB X grundsätzlich nur bis zum Ablauf von zwei Jahren nach seiner Bekanntgabe möglich. Diese Zwei-Jahres-Frist war vorliegend abgelaufen. Nach Ablauf dieser Frist kann der Verwaltungsakt nach § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 SGB X zurückgenommen werden, wenn der Begünstigte den Verwaltungsakt durch arglistige Täuschung, Drohung oder Bestechung erwirkt hat (Nr. l). Der Verwaltungsakt auf Angaben beruht, die der Begünstigte vorsätzlich oder grob fahlässig unrichtig oder unvollständig gemacht hat (Nr.2), oder wenn der Begünstigte die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes kannte oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht kannte (Nr.3). In diesem Fall gilt die Zehn-Jahres-Frist des § 45 Abs. 3 Satz 3 SGB X.
Der Bescheid vom 02.12.1996 war rechtswidrig. Ein GdB von 60 stand der Klägerin zu diesem Zeitpunkt nicht zu, da eine Alkoholkrankheit bereits seit mehreren Jahren nicht mehr bestand. Dies ergibt sich zweifelsfrei aus den ärztlichen Befundunterlagen und den Angaben der Klägerin. Die zu diesem Zeitpunkt bestehenden weiteren Gesundheitsstörungen waren jedoch nach Art und Ausmaß nicht geeignet, einen GdB von 60 zu begründen.
Allerdings lag kein Rücknahmegrund nach § 45 Abs. 2 Satz 3 SGB X vor. Die Klägerin hat den Verwaltungsakt weder durch arglistige Täuschung, Drohung oder Bestechung erwirkt noch vorsätzlich oder grob fahrlässig unrichtige oder unvollständige Angaben gemacht.
Nach Auffassung der Kammer hat die Klägerin die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes auch nicht gekannt oder infoige grober Fahrlässigkeit verkannt. Grobe Fahrlässigkeit im Sinne des Kennenmüssens liegt vor, wenn die in der Personengruppe herrschende Sorgfalt in ungewöhnlich hohem Maße verletzt worden ist, wenn außer Acht gelassen worden ist, was im gegebenen Fall jedem hätte einleuchten müssen. Es muß anhand der Umstände und ganz naheliegender Überlegungen einleuchten und auffallen, dass der Bescheid fehlerhaft ist (BGHZ 10, 16; BSG E 14, 154; 15, 96; 24, 204).
Zwar ergibt sich die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes ohne weitere Nachforschung aus dem Bescheid selbst, da die chronisch-toxische Schädigung als Behinderung in dem Bescheid genannt ist. Die Kammer ist jedoch der Ansicht, dass nicht ohne weiteres davon ausgegangen werden kann, dass in der Laiensphäre bekannt ist, dass eine chronisch-toxische Schädigung eine Alkoholabhängigkeit umschreibt. Selbst wenn die Kenntnis dieser Tatsache unterstellt wird, ist aus dieser Bezeichnung nicht erkennbar, dass der Bescheid rechtswidrig ist. Denn die Kenntnis von Tatsachen alleine reicht nicht aus, es muß eine Rechtsreflexion, ein individuelles Bezugsetzen auf die Rechtsordnung gegeben haben bzw. hätten geben müssen (Hauck-Heines, SGB XI, 2, § 45 Rn. 24, Stand Sept. 01). Aus Sicht der Klägerin bestand aber die Möglichkeit, dass aufgrund der länger zurückliegenden Erkrankung in geringem Maße chronische Schädigungen zurückgeblieben sind, die etwa mit einem Einzel-GdB von 10 berücksichtigt wurden. Die Klägerin konnte anhand des Bescheides nicht erkennen, welche Einzel-GdB den jeweiligen im Bescheid genannten Gesundheitsstörungen zugrundegelegen haben. Folglich war für sie nicht zu erkennen, dass die chronisch-toxische Schädigung ausschlaggebend für den festgestellten GdB von 60 war und dass die bestehenden Erkrankungen einen solchen nicht rechtfertigten.
Die Klägerin hat den Antrag auf Feststellung des Grades der Behinderung im Anschluß an eine Kurmaßnahme, die wegen ihrer Hüft- und Wirbelsäulenbeschwerden durchgeführt wurde, gestellt. Sie hat darauf vertraut, dass der Beklagte aufgrund der von den behandelnden Ärzten eingeholten Befundberichte zu einer richtigen Feststellung gelangt ist. Insgesamt kann nicht davon ausgegangen werden, dass die Klägerin ihre Sorgfaltspflichten in außergewöhnlich hohem Maße, d.h. in einem das gewöhnliche Maß an Fahrlässigkeit erheblich übersteigenden Ausmaß verletzt hat.
Unerheblich ist, dass der Klägerin durch den zunächst erlassenen Änderungsbescheid vom 18.03.1999 die Fehlerhaftigkeit des Bescheides vom Dezember 1996 bewusst wurde, denn die Erkenntnis der Rechtswidrigkeit bzw. das grob fahrlässige Verkennen der Rechtswidrigkeit muss zum Zeitpunkt des Erlasses des begünstigenden Verwaltungsaktes vorgelegen haben. Ein einmal eingetretenes Vertrauen auf den Bestand kann nicht durch spätere Kenntniserlangung beseitigt werden (von Wulffen, SGB X, 4. Auflage, § 45 Rn. 23 m. w. N. ).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten darüber, ob der Beklagte berechtigt war, den Bescheid vom 02.12.1996, mit dem er einen GdB von 60 festgestellt hatte, zurückzunehmen und bei der Klägerin einen GdB von 30 festzustellen.
Die am ... geborene Klägerin stellte am 14.06.1996 erstmals einen Antrag auf Feststellung einer Behinderung sowie des Grades der Behinderung (GdB) nach dem Schwerbehindertengesetz (SchwbG). Der Beklagte holte einen Befundbericht von dem praktischen Arzt Dr A ein und zog einen Reha-Entlassungsbericht der Klinik von der Landesversicherungsanstalt Westfalen bei. Dr A berichtete von einer chronischen Alkoholkrankheit mit einer Entzugsbehandlung im Jahr 1988. In dem ärztlichen Entlassungsbericht der Klinik wurde von einem stationären Aufenthalt im Jahre 1990 wegen der Alkoholproblematik berichtet, seither sei die Patientin "trocken". Zudem wurde in beiden Berichten eine Coxarthrose und wiederkehrende Lumbalgien beschreiben.
Nach versorgungsärztlicher Auswertung der medizinischen Unterlagen stellte der Beklagte mit Bescheid vom 02.12.1996 einen GdB von 60 und die folgende Behinderung fest:
chronisch-toxische Schädigung; verbildende Wirbelsäulenveränderungen, Fehlhaltung; Hüftgelenksfunktionsbehinderung links, Fußverbildungen; Funktionsbehinderung linkes Ellenbogengelenk; Zuckerkrankheit.
Im Januar 1999 leitete der Beklagte von Amts wegen eine Nachprüfung ein und holte einen Befundbericht von dem Orthopäden DrB ein. Sodann teilte er der Klägerin mit, dass er beabsichtige den GdB herabzusetzen, da die für die Entscheidung in dem Bescheid vom 02.12.1996 ausschlaggebende Gesundheitsstörung der toxischen Schädigung nicht mehr vorliege. Mit Bescheid vom 18.03.1999 stellte der Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 02.12.1996 einen GdB von 30 fest.
Gegen diese Entscheidung legte die Klägerin Widerspruch ein. Sie trug vor, dass eine toxische Schädigung auch im Jahre 1996 nicht mehr vorgelegen habe. Sie könne nicht verstehen, warum dann ein GdB von 30 abgezogen werde. Sie habe 1996 wegen ihrer Hüfte und Wirbelsäule den Antrag auf Feststellung eines Grades der Behinderung gestellt, nachdem sie wegen dieser Erkrankung eine Kur durchgeführt habe. Zwischenzeitlich habe sich insbesondere ihre Hüfterkrankung wesentlich verschlechtert.
Der Beklagte holte weitere Befundberichte von Dr C und Dr D ein und ließ die Klägerin von Frau Dr E versorgungsärztlich untersuchen und begutachten. Die Versorgungsärztin führte aus, dass hinsichtlich der mit einem GdB von 50 zugrunde gelegten chronisch-toxischen.Schädigung von Anfang an eine zweifelsfreie Unrichtigkeit vorgelegen habe. Die früher bestehenden Alkoholprobleme seien seit vielen Jahren überwunden und stellten auch 1996 keine Behinderung mehr dar.
Daraufhin hob der Beklagte den Bescheid vom 18.03.1999 auf und teilte der Klägerin mit, dass er beabsichtige, den Bescheid vom 02.12.1996 nach § 45 SGB X aufzuheben. Nach der Einholung weiterer Befund- und Entlassungsberichte vom Dr C und Dr D und der Anhörung der Klägerin nahm der Beklagte mit Bescheid vom 22.02.2001 den Bescheid vom 02.12.1996 gemäß § 45 Abs. 1 SGB X zurück. Zur Begründung führte er aus, dass aus dem rechtswidrigen Bescheid vom 02.12.1996 zweifelsfrei erkennbar war, dass bei der Bewertung eine als chronisch-toxische Schädigung bezeichnete Alkoholkrankheit berücksichtigt wurde, die tatsächlich nicht mehr vorlag. Dies sei der Klägerin bekannt gewesen bzw. infolge grober Fahrlässigkeit nicht bekannt gewesen. Der hiergegen eingelegte Widerspruch wurde mit Widerspruchsbescheid vom 19.04.2001 zurückgewiesen.
Mit der am 30.04.2001 erhobenen Klage macht die Klägerin geltend, dass ihre Behinderung nicht ausreichend gewürdigt sei. Die Behinderung der linken Hüfte wirke sich negativ auf die Lendenwirbelsäule aus und eine linksseitige Schultergelenkserkrankung sei nicht berücksichtigt worden.
Die Klägerin beantragt,
den Bescheid vom 22.02.2001 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19.04.2001 aufzuheben.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Er hält den Bescheid für rechtmäßig.
Das Gericht hat am 08.11.2001 einen Erörterungstermin in Siegen durchgeführt und die Klägerin informatorisch befragt.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Sitzungsniederschrift vom 08.11.2001 sowie auf den Inhalt der Gerichtsakte und der Schwerbehindertenakte des Beklagten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die Kammer konnte mit dem Einverständis der Beteiligten gemäß § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ohne mündliche Verhandlung entscheiden.
Die Klage ist zulässig und begründet. Die Klägerin ist durch den angefochtenen Bescheid beschwert im Sinne des § 54 Abs. 2 Satz 1 SGG. Der Beklagte war nicht berechtigt, den Bescheid vom 02.12.1996 zurückzunehmen, da die Voraussetzungen für eine Rücknahme nicht § 45 Abs. 1 SGB X nicht vorlagen.
Nach § 45 Abs. 1 Satz 1 SGB X darf ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt nur unter den Einschränkungen der Absätze 2 bis 4 zurückgenommen werden. Die Rücknahme eines Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung, ist gemäß § 45 Abs. 3 Satz 1 SGB X grundsätzlich nur bis zum Ablauf von zwei Jahren nach seiner Bekanntgabe möglich. Diese Zwei-Jahres-Frist war vorliegend abgelaufen. Nach Ablauf dieser Frist kann der Verwaltungsakt nach § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 SGB X zurückgenommen werden, wenn der Begünstigte den Verwaltungsakt durch arglistige Täuschung, Drohung oder Bestechung erwirkt hat (Nr. l). Der Verwaltungsakt auf Angaben beruht, die der Begünstigte vorsätzlich oder grob fahlässig unrichtig oder unvollständig gemacht hat (Nr.2), oder wenn der Begünstigte die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes kannte oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht kannte (Nr.3). In diesem Fall gilt die Zehn-Jahres-Frist des § 45 Abs. 3 Satz 3 SGB X.
Der Bescheid vom 02.12.1996 war rechtswidrig. Ein GdB von 60 stand der Klägerin zu diesem Zeitpunkt nicht zu, da eine Alkoholkrankheit bereits seit mehreren Jahren nicht mehr bestand. Dies ergibt sich zweifelsfrei aus den ärztlichen Befundunterlagen und den Angaben der Klägerin. Die zu diesem Zeitpunkt bestehenden weiteren Gesundheitsstörungen waren jedoch nach Art und Ausmaß nicht geeignet, einen GdB von 60 zu begründen.
Allerdings lag kein Rücknahmegrund nach § 45 Abs. 2 Satz 3 SGB X vor. Die Klägerin hat den Verwaltungsakt weder durch arglistige Täuschung, Drohung oder Bestechung erwirkt noch vorsätzlich oder grob fahrlässig unrichtige oder unvollständige Angaben gemacht.
Nach Auffassung der Kammer hat die Klägerin die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes auch nicht gekannt oder infoige grober Fahrlässigkeit verkannt. Grobe Fahrlässigkeit im Sinne des Kennenmüssens liegt vor, wenn die in der Personengruppe herrschende Sorgfalt in ungewöhnlich hohem Maße verletzt worden ist, wenn außer Acht gelassen worden ist, was im gegebenen Fall jedem hätte einleuchten müssen. Es muß anhand der Umstände und ganz naheliegender Überlegungen einleuchten und auffallen, dass der Bescheid fehlerhaft ist (BGHZ 10, 16; BSG E 14, 154; 15, 96; 24, 204).
Zwar ergibt sich die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes ohne weitere Nachforschung aus dem Bescheid selbst, da die chronisch-toxische Schädigung als Behinderung in dem Bescheid genannt ist. Die Kammer ist jedoch der Ansicht, dass nicht ohne weiteres davon ausgegangen werden kann, dass in der Laiensphäre bekannt ist, dass eine chronisch-toxische Schädigung eine Alkoholabhängigkeit umschreibt. Selbst wenn die Kenntnis dieser Tatsache unterstellt wird, ist aus dieser Bezeichnung nicht erkennbar, dass der Bescheid rechtswidrig ist. Denn die Kenntnis von Tatsachen alleine reicht nicht aus, es muß eine Rechtsreflexion, ein individuelles Bezugsetzen auf die Rechtsordnung gegeben haben bzw. hätten geben müssen (Hauck-Heines, SGB XI, 2, § 45 Rn. 24, Stand Sept. 01). Aus Sicht der Klägerin bestand aber die Möglichkeit, dass aufgrund der länger zurückliegenden Erkrankung in geringem Maße chronische Schädigungen zurückgeblieben sind, die etwa mit einem Einzel-GdB von 10 berücksichtigt wurden. Die Klägerin konnte anhand des Bescheides nicht erkennen, welche Einzel-GdB den jeweiligen im Bescheid genannten Gesundheitsstörungen zugrundegelegen haben. Folglich war für sie nicht zu erkennen, dass die chronisch-toxische Schädigung ausschlaggebend für den festgestellten GdB von 60 war und dass die bestehenden Erkrankungen einen solchen nicht rechtfertigten.
Die Klägerin hat den Antrag auf Feststellung des Grades der Behinderung im Anschluß an eine Kurmaßnahme, die wegen ihrer Hüft- und Wirbelsäulenbeschwerden durchgeführt wurde, gestellt. Sie hat darauf vertraut, dass der Beklagte aufgrund der von den behandelnden Ärzten eingeholten Befundberichte zu einer richtigen Feststellung gelangt ist. Insgesamt kann nicht davon ausgegangen werden, dass die Klägerin ihre Sorgfaltspflichten in außergewöhnlich hohem Maße, d.h. in einem das gewöhnliche Maß an Fahrlässigkeit erheblich übersteigenden Ausmaß verletzt hat.
Unerheblich ist, dass der Klägerin durch den zunächst erlassenen Änderungsbescheid vom 18.03.1999 die Fehlerhaftigkeit des Bescheides vom Dezember 1996 bewusst wurde, denn die Erkenntnis der Rechtswidrigkeit bzw. das grob fahrlässige Verkennen der Rechtswidrigkeit muss zum Zeitpunkt des Erlasses des begünstigenden Verwaltungsaktes vorgelegen haben. Ein einmal eingetretenes Vertrauen auf den Bestand kann nicht durch spätere Kenntniserlangung beseitigt werden (von Wulffen, SGB X, 4. Auflage, § 45 Rn. 23 m. w. N. ).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
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