S 12 AS 4276/16

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Düsseldorf (NRW)
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
12
1. Instanz
SG Düsseldorf (NRW)
Aktenzeichen
S 12 AS 4276/16
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
1.) Die Beklagte wird unter Aufhebung der Bescheide vom 29.06.2016 in Gestalt der Widerspruchsbescheide vom 18.10.2016 verpflichtet, den Klägerinnen für das Jahr 2016 Bedarfe für Bildung und Teilhabe nach § 28 Abs. 7 S. 1 Nr. 3 SGB II für die Teilnahme an Freizeiten in Höhe von jeweils 120 Euro zu gewähren. 2.) Die Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerinnen. 3.) Die Berufung wird zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über die Gewährung von Leistungen zur Bildung und Teilhabe nach den Vorschriften des Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) in Form der Gewährung eines monatlichen Zuschusses von 10 Euro für die Teilnahme der Klägerinnen an einer Jugendfreizeit vom 23.07. bis 13.08.2016 im Sommercamp T1 des Jugendverbandes "S1" der N - M Partei Deutschlands (NMPD).

Die minderjährigen Klägerinnen stehen gemeinsam mit ihrer Mutter als Bedarfsgemeinschaft im Leistungsbezug nach dem SGB II und nahmen vom 23.07. bis 13.08.2016 einem Sommercamp des Jugendverbandes "S1" der NMPD in T1 (U1) teil. Das Motto der Jugendfreizeit lautete " Sommercamp 0000 – Im Zeichen der Solidarität mit Flüchtlingen". Auf seiner Homepage ( ) hat der Jugendverband "S1" das Sommercamp 0000 wie folgt beworben:

"Das Sommercamp von S1 und S2 auf der Ferien- und Freizeitanlage U2 findet drei Wochen statt vom 23.07-13.08.2016. Man kann sich ab sofort für das Jugendcamp vom 23.07.-13.08. oder für das Kindercamp vom 30.07.-13.08. bei uns anmelden. Das Motto des Sommercamp ist "Rebellisches Sommercamp meets kurdische Flüchtlinge – Internationalismus live". Wir werden gemeinsam mit kurdischen Flüchtlingen unseren Urlaub auf dem Sommercamp verbringen, die im "Haus der T2" auf der Ferien- und Freizeitanlage wohnen. Das Camp wird praktische und solidarische Hilfe leisten, was auf gegenseitigem Lernen beruht. Es wird Sprachkurse deutsch-kurdisch und kurdisch-deutsch geben, ein vielfältiges Kultur- und Freizeitprogramm, Veranstaltungen zur Fluchtursache, und vieles mehr. In Kürze wird der Sommercamp Flyer erscheinen. Melde dich gleich hier für das Sommercamp an."

Die Kosten für die Teilnahme am Sommercamp belaufen sich pro Teilnehmer auf 255,00 Euro unter Inanspruchnahme eines Frühbucherrabattes.

Die NMPD sowie deren Jugendverband "S1" werden vom Verfassungsschutz des Landes Nordrhein – Westfalen beobachtet und u.a. im Verfassungsschutzbericht 2014 und 2015 im Bereich "M" erwähnt und beschrieben.

Am 22.06.2016 beantragten die Klägerinnen bei der Beklagten die Gewährung eines monatlichen Zuschusses von 10 Euro als Zuschuss zur Teilnahme an Freizeiten hinsichtlich der Teilnahme am Sommercamp in T1. Mit Bescheiden vom 29.06.2016 wurden die Anträge abgelehnt, da die es sich bei der Organisation "T1" und keinen geeigneten Anbieter im Sinne von § 29 SGB II handele, denn laut Verfassungsschutzbericht 2014 handele es sich bei der Organisation "S1" um eines der wichtigsten Beobachtungsobjekte des Linksextremismus. Entsprechend der vom Ministerium für Arbeit, Integration und Soziales des Landes Nordrhein – Westfalen erlassenen Arbeitshilfe sind Vereine, die vom Verfassungsschutz beobachtet werden, nicht geeignet.

Gegen die Bescheide vom 29.06.2016 haben die Klägerinnen am 21.07.2016 Widerspruch erhoben. Der Ausschluss von bestimmten Leistungsanbietern verletze ihrer Meinung nach das Benachteiligungsverbot des Art. 3 Abs. 3 Grundgesetz (GG), der Leistungsanspruch habe sich vielmehr an den Wünschen der Jugendlichen zu entsprechen, die hier in der Teilnahme am Jugendcamp liegen. Mit Widerspruchsbescheiden vom 18.10.2016 wurden die Widersprüche als unbegründet zurückgewiesen. Soweit konkrete Leistungsanbieter wie hier der Jugendverband "S1" von einer Berücksichtigung als geeigneter Leistungsanbieter ausgeschlossen werden, vermag dies nicht die Grundrechte der Klägerinnen berühren, da eine abweichende Bearbeitung im Vergleich zu anderen Hilfesuchenden nicht erkennbar sei. Schließlich seien die Voraussetzungen für die Leistungsgewährung gemäß § 28 Abs. 7 in Verbindung mit § 29 Abs. 2 SGB II für alle Kinder gleich.

Am 10.11.2016 haben die Klägerinnen vor dem Sozialgericht Düsseldorf Klage erhoben. Sie meinen, dass die Überwachung des Jungendverbandes "S1" durch den Verfassungsschutz nicht ausreiche, um die Ablehnung des beantragten Zuschusses zu rechtfertigen, da dies dem Zweck des § 28 Abs. 7 SGB II zuwiderlaufe und die Klägerinnen aus sachfremden weltanschaulichen Gründen benachteilige.

Die Klägerinnen beantragen schriftsätzlich am 08.11.2016 und 12.03.2018 sinngemäß,

die Beklagte unter Aufhebung der Bescheide vom 29.06.2016 in Gestalt der Widerspruchsbescheide vom 18.10.2016 zu verpflichten, ihnen für das Jahr 2016 Bedarfe für Bildung und Teilhabe nach § 28 Abs. 7 S. 1 Nr. 3 SGB II für die Teilnahme an Freizeiten in Höhe von jeweils 120 Euro zu gewähren.

Die Beklagte beantragt schriftsätzlich am 04.01.2017,

die Klage abzuweisen.

Die Beklagte verweist im Wesentlichen auf ihre Ausführungen in den Ablehnungsbescheiden vom 29.06.2016 in Gestalt der Widerspruchsbescheide vom 18.10.2016.

Im Erörterungstermin am 14.02.2018 hat das Gericht die Klägerinnen sowie deren Mutter persönlich angehört, auf das Protokoll wird verwiesen. Die Verwaltungsakten der Beklagten wurden beigezogen. Im Übrigen wird auf die gewechselten Schriftsätze und den Akteninhalt verwiesen. Im Termin am 14.02.2018 erklärten die Beteiligten zu Protokoll, dass Sie mit einem Urteil des Gerichts ohne mündliche Verhandlung einverstanden sind.

Entscheidungsgründe:

Das Gericht kann gemäß § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) durch Urteil ohne mündliche Verhandlung entscheiden, da die Beteiligten dazu zu Protokoll im Erörterungstermin am 14.02.2018 ihr Einverständnis erteilt haben.

Die zulässige Klage ist begründet.

Die Bescheide vom 29.06.2016 in Gestalt der Widerspruchsbescheide vom 18.10.2016 sind rechtswidrig und verletzen die Klägerinnen in ihren Rechten, denn sie haben aufgrund der Teilnahme am Sommercamp des Verbandes "S1" in T1 vom 23.07. bis 13.08.2016 einen Anspruch auf Leistungen zur Bildung und Teilhabe in Form der Gewährung eines monatlichen Zuschusses von jeweils 10 Euro, mithin 120 Euro je Klägerin für das Kalenderjahr 2016.

Der Anspruch folgt aus § 28 Abs. 7 S. 1 Nr. 3 SGB II. Nach dieser Vorschrift wird bei Leistungsberechtigten bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres ein Bedarf zur Teilhabe am sozialen und kulturellen Leben in der Gemeinschaft in Höhe von insgesamt 10 Euro monatlich für die Teilnahme an Freizeiten berücksichtigt. In Abgrenzung zu schulischen Ausflügen und Fahrten wird hierbei die Teilnahme an außerschulischen Jugendfreizeiten erfasst. Das monatliche Budget kann gesammelt und für eine längere Freizeit verwendet werden (Luik in Eicher/Luik, Kommentar zum SGB II, 4. Auflage 2017, § 28, Rn. 64).

Die Klägerinnen sind Leistungsberechtigte im Sinne des SGB II. Ferner haben sie das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet, denn sie sind am 00.00.2001 (Klägerin zu 1), 00.00.2002 (Klägerin zu 2), 00.00.2004 (Klägerin zu 3) und 00.00.2005 (Klägerin zu 4) geboren. Bei den hier geltend gemachten Bedarfen handelt es sich zudem um außerschulische, die institutionell durch den Jugendverband "S1" organisiert werden und somit dem Grunde nach gemäß § 28 Abs. 7 SGB II berücksichtigungsfähig sind.

Beim vorliegenden Sommercamp handelt es sich auch um eine Freizeit im Sinne von § 28 Abs. 7 S. 1 Nr. 3 SGB II. Die Vorschrift erfasst nur außerschulische (Jugend-)Freizeiten, z.B. Zelt- oder Pfadfinderlager oder "Stadtranderholungen". Auf die Dauer der Freizeit kommt es nicht an. Ob die Freizeit im Rahmen einer Vereinsmitgliedschaft erfolgt oder nicht, ist unerheblich. Daran gemessen handelt es sich beim Sommercamp 0000 um eine solche Freizeit.

Die Bedarfe sind hier je Klägerin mit 120 Euro für das Jahr 2016 zu bemessen, da das monatliche Budget von 10 Euro gesammelt und für einer längere Freizeit verwendet werden kann (vgl. Luik in Eicher/Luik, Kommentar zum SGB II, 4. Auflage 2017, § 28, Rn. 64).

Entgegen der Auffassung der Beklagten scheidet der Anspruch der Klägerinnen nach § 28 Abs. 7 S. 1 Nr. 3 SGB II hier nicht aus, da der Jugendverband "S1" aufgrund seiner Beobachtung durch den Verfassungsschutz nicht geeignet im Sinne von § 29 Abs. 2 S. 2 SGB II sei. Nach dieser Norm gewährleisten die kommunalen Träger, dass Gutscheine bei geeigneten vorhandenen Anbietern oder zur Wahrnehmung ihrer eigenen Angebote eingelöst werden können. Bei der Eignung im Sinne von § 29 Abs. 2 S. 2 SGB II handelt es sich um einen gerichtlich voll überprüfbaren Begriff, mit dem das Erfordernis aufgestellt wird, dass ein Anbieter hinsichtlich des von ihm unterbreiteten Angebots befähigt zur Durchführung ist und hinsichtlich dessen über die notwendige Organisation und Ausstattung verfügt (vgl. Leopold in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II, 4. Aufl. 2015, § 29, Rn. 38). Eine wie hier von der Beklagten vorgenommene Prüfungskompetenz bei den Teilhabeleistungen nach § 28 Abs. 7 SGB II durch Beurteilung danach, ob der Anbieter vom Verfassungsschutz beobachtet wird, gibt § 29 Abs. 2 S. 2 SGB II jedoch nicht her. So ist schließlich der Zweck der Teilhabeleistungen nach § 28 SGB II darin zu sehen, Kinder und Jugendliche in Vereins- und Gemeinschaftsstrukturen zu integrieren und den Kontakt zu gleichaltrigen zu intensivieren. Durch den Betrag von 10 Euro monatlich soll Kindern und Jugendlichen ein Budget zur Verfügung gestellt werden, damit sie ein ihren Wünschen und Fähigkeiten entsprechendes Angebot wahrnehmen können (vgl. Bundestag- Drucksache 17/3404, S. 106). Diesem gesetzgeberischen Gedanken würde es vielmehr zuwider laufen, wenn die kommunalen Träger die Seriosität und Geeignetheit der Anbieter danach überprüfen, ob sie vom Verfassungsschutz beobachtet werden oder nicht. Nach Überzeugung der Kammer kann sich etwas anderes lediglich bei einem ausgesprochenen Vereinsverbot oder einem Verbot einer Partei durch das Bundesverfassungsgericht entsprechend Artikel 21 Abs. 2 und 4 Grundgesetz (GG) ergeben. Beides ist hier offenkundig nicht der Fall, denn weder der Jugendverband "S1" noch die Partei NMPD sind verboten bzw. vom Bundesverfassungsgericht nach Art. 21 GG für verfassungswidrig erklärt worden. Aus dem hier erkennbaren Programm des Sommercamps 0000 des Jugendverbandes "S1" ist auch nicht ersichtlich, dass sich der Jugendverband "S1" beim Sommercamp 0000 bekanntermaßen nur der Gewalt verschrieben hat (was ebenfalls für eine Ungeeignetheit als Anbieter sprechen dürfte), da der Themenschwerpunkt des Camps vielmehr in seinem interkulturellem Zusammensein und Erleben der Teilnehmerinnen und Teilnehmer mit kurdischen Flüchtlingen zu sehen ist.

Auch die Entstehungsgeschichte des § 29 Abs. 2 S. 2 SGB II spricht gegen die von der Beklagten vorgenommene Prüfungskompetenz, denn die Norm stellt gerade keine gesetzliche Grundlage dar, Leistungsanbieter wegen der Beobachtung durch den Verfassungsschutz per se auszuschließen (so in Ergebnis auch Leopold in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II, 4. Aufl. 2015, § 29, Rn. 38). Mit dem Begriff der Eignung wird lediglich das Erfordernis aufgestellt, dass ein Anbieter hinsichtlich des von ihm unterbreiteten Angebots zur Durchführung befähigt ist und hinsichtlich dessen über die notwendige Organisation und Ausstattung verfügt. An dieser Eignung des Jugendverbandes "S1" zur Durchführung des Sommercamps 0000 sind für das Gericht weder Zweifel ersichtlich, noch sonst vorgetragen worden. So hat der Gesetzgeber im Gesetzgebungsverfahren nach Anhörung der Sachverständigen die im ursprünglichen Gesetzesentwurf vom 03.12.2010 (Bundesrat – Drucksache, 661/1/10 S. 35.) vorgesehene gesetzliche Bestimmung, wonach ein Leistungsantrag auch dann abgelehnt werden kann, wenn sich der ausgewählte Anbieter als ungeeignet erwiesen habe oder wenn der Träger der öffentlichen Jugendhilfe eine Gefährdung des Wohls der Kinder oder Jugendlichen bei der Leistungserbringung geltend gemacht habe, nicht beschlossen. Entsprechende gesetzliche Vorschriften wie etwa § 17 Abs. 2 SGB II (Anforderungen an Einrichtungen und Dienste für Leistungen zur Eingliederung) hat der Gesetzgeber in § 29 SGB II hinsichtlich der Erbringung von Leistungen zur Bildung und Teilhabe nach § 28 SGB II gerade nicht normiert, weshalb die von der Beklagten vorgenommene restriktive Auslegung von § 29 Abs. 2 S. 2 SGB II rechtsfehlerhaft ist.

Die Kostenentscheidung findet ihre gesetzliche Grundlage in den §§ 183, 193 SGG und berücksichtigt das volle Obsiegen der Klägerinnen.

Die Zulassung der Berufung beruht auf § 144 Abs. 2 Nr. 1 SGG, da die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat. Zur streiterheblichen Rechtsfrage, ob Parteien oder Vereine, die vom Verfassungsschutz beobachtet werden, geeignete Anbieter von Leistungen zur Bildung und Teilhabe im Sinne von § 29 Abs. 2 S. 2 SGB II sein können, liegt nach Erkenntnis der Kammer weder ober- noch höchstrichterliche Rechtsprechung vor. Die Klärung dieser Rechtsfrage liegt zudem im allgemeinen Interesse um die Rechtseinheit zu erhalten und die Weiterentwicklung des Rechts zu fördern.
Rechtskraft
Aus
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