S 19 KG 5/20

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Düsseldorf (NRW)
Sachgebiet
Kindergeld-/Erziehungsgeldangelegenheiten
Abteilung
19
1. Instanz
SG Düsseldorf (NRW)
Aktenzeichen
S 19 KG 5/20
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 13.09.2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16.12.2019 verurteilt, dem Kläger für die Zeit von April. 2019 bis März 2020 Kindergeld nach Maßgabe der gesetzlichen Vorschriften, insbesondere unter Berücksichtigung etwaiger Erstattungsansprüche Dritter, zu gewähren. Die Beklagte trägt die dem Kläger entstandenen notwendigen außergerichtlichen Kosten.

Tatbestand:

In dem Rechtsstreit geht es um die Gewährung von Kindergeld nach Maßgabe des Bundeskindergeldgesetzes (BKGG).

Der am 00.00.1995 geborene Kläger ist nach den Feststellungen des Verwaltungsgerichts (VG) Düsseldorf (Urteil vom 12.12.2018 – 5 K 10488/17 A) Staatsangehöriger Myanmars. Er gehört zur Volksgruppe der "Rohingya"/"Bengali". Nach eigenen Angaben ist er in N1 geboren. Dort wurde der Vater getötet. Zusammen mit der Mutter flüchtete er 2004 (siehe hierzu Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 29.05.2017) nach Bangladesch. Dort lebte er nicht in einem Flüchtlingslager, sondern "auf der Straße" in einem Dorf namens Chor Fokira (siehe Leistungsakte Blatt 33, 71). Im Februar 2015 reiste der Kläger aus Bangladesch aus und am 27.07.2015 in die Bundesrepublik Deutschland ein. Am 12.08.2016 beantragte er die Anerkennung als Asylberechtigter. Dies lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge mit Bescheid vom 29.05.2017 ab (Leistungsakte Blatt 56); gleichzeitig anerkannte das Bundesamt dem Kläger auch nicht die Flüchtlingseigenschaft zu. Die Ablehnung als Asylberechtigter wurde bestandskräftig (Leistungsakte Blatt 67). Gegen die Nicht-Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft reichte der Kläger dagegen Klage zum Verwaltungsgericht Düsseldorf ein. Diese Klage war erfolgreich: Mit Urteil vom 12.12.2018 – 5 K 10488/17 A – verpflichtete das VG Düsseldorf das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, dem Kläger Flüchtlingsschutz im Sinne der §§ 3 bis 3e AsylG zuzuerkennen. Dieses Urteil wurde am 09.03.2019 rechtskräftig.

Soweit ersichtlich beantragte der Kläger dann am 01.08.2019 die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 2 AufenthG (Leistungsakte Blatt 17). Diese wurde ihm am 13.09.2019 erteilt mit dem Zusatz "Erwerbstätigkeit gestattet". Der Titel ist gültig vom 01.08.2019 bis 31.07.2022 (Leistungsakte Blatt 42).

Bereits am 15.08.2017 hatte der Kläger eine Ausbildung zum Bäcker aufgenommen, die bis zum 14.08.2020 dauern soll (Leistungsakte Bl. 5). Neben der Ausbildungsvergütung erhält der Kläger Berufsausbildungsbeihilfe (siehe PKH-Beiheft) sowie zumindest für den Monat 6/2019 ergänzende Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (siehe Erstattungsanspruch der Stadt K2 vom 03.07.2019, Leistungsakte Blatt 8). Untergebracht ist der Kläger in einer Flüchtlingsunterkunft (K1 Straße 00 in K2, siehe PKH-Heft Blatt 13).

Am 24.06.2019 hatte der Kläger bei der Beklagten die Gewährung von Kindergeld beantragt. Dabei gab er an, dass der Vater (B O) verstorben sei; der Aufenthalt der Mutter (N2 L) in Bangladesch sei unbekannt. Dies ergänzte er später (am 31.08.2019) dahingehend, dass er bis 2015 noch persönlichen Kontakt mit der Mutter gehabt habe, seitdem aber nicht mehr. Er habe ihr auch nicht schreiben können, weil es keine Adresse gebe. Er wisse nicht, ob seine Mutter überhaupt noch lebe. Verwandte, die seine Angaben bestätigen könnten, habe er nicht.

Mit Bescheid vom 13.09.2019 lehnte die Beklagte den Antrag auf Kindergeld für die Zeit ab August 2017 ab. Zur Begründung führte die Beklagte aus, der Kläger habe keine ausreichenden Bemühungen dargelegt, um den Aufenthalt seiner Mutter zu ermitteln (Leistungsakte Blatt 34).

Hiergegen legte der Kläger durch seine Bevollmächtigten am 30.09.2019 Widerspruch ein. Zur Begründung führte er an, ihm sei es schlichtweg nicht möglich, weitere Bemühungen zu entfalten, da die Mutter weder telefonisch zu erreichen sei, noch über eine Postanschrift oder eine anderweitige postalische Erreichbarkeit verfüge und auch sonst keine Möglichkeit bestehe, Kontakt zu ihr herzustellen, da der Kläger alleine aus Bangladesch geflohen sei und hier keinerlei Kontakte habe, die noch über Kontakte zum Umfeld der Mutter verfügten.

Auf die Frage der Beklagten (Schreiben vom 10.10.2019, Leistungsakte Bl. 47) was der Kläger unternommen habe, um Kontakt zum Aufenthaltsort der Mutter herzustellen und ob er versucht habe, den Kontakt über andere Personen (z.B. Verwandte/Freunde) oder staatliche Stellen (z.B. Behörden im Aufenthaltsland) oder private Organisationen (z.B. Nachforschungsauftrag über das Rote Kreuz / über den Roten Halbmond oder andere in Bangladesch ansässige NGOs) herzustellen, führte der Kläger ergänzend aus (Leistungsakte Blatt 52), den letzten Kontakt zu seiner Mutter in irgendeiner Art habe er bei seiner Flucht aus Bangladesch gehabt (2015). Die Mutter sei dort verblieben. Er habe keine Möglichkeit, sie dort zu erreichen. Sie habe keinen Internetzugang, keine E-Mail-Adresse, kein Smartphone, kein Telefon. Es sei noch nicht einmal möglich, die Mutter über Bekannte oder Verwandte zu erreichen, denn nach seinem Wissen existierten keine lebenden Verwandten mehr und Bekannte, die er telefonisch erreichen könne, um darüber seine Mutter zu erreichen. Ihm sei nicht bekannt, wie er über Behörden oder private Organisationen die Mutter erreichen solle, da ihm noch nicht einmal bekannt sei, in welchem Ort in Bangladesch sich seine Mutter aufhalte. Sie lebe schlichtweg auf der Straße und habe auch keine Postfachanschrift. Er wünsche aber, doch Kontakt zu seiner Mutter aufnehmen zu können; wie er dies bewerkstelligen solle, sei ihm allerdings schlichtweg nicht bekannt. Er gehe nicht davon aus, dass er in nächster Zeit den Kontakt wieder herstellen könne, auch weil ihm dies in den vergangenen Jahren nicht gelungen sei.

Mit Widerspruchsbescheid vom 16.12.2019, abgesandt am 17.12.2019, wies die Beklagte den Widerspruch als unbegründet zurück. Darin führte die Beklagte aus, dass ein Kind sei verpflichtet, alle zumutbaren Anstrengungen vorzunehmen, um den Aufenthaltsort seiner Eltern herauszufinden. Dazu gehöre auch ggfl. die Nachfrage bei Behörden, Verwandten usw ... Ansonsten sei von einer missbräuchlichen Unkenntnis des Aufenthaltsortes auszugehen, die einer Kenntnis gleichzusetzen sei und den Anspruch auf Kindergeld ausschließe. Das Einschalten von Behörden oder privaten Organisationen wäre ein Anhaltspunkt gewesen, an den hätte angeknüpft werden können, um den Aufenthalt der leiblichen Mutter zu ermitteln. Im vorliegenden Fall wäre es dem Widerspruchsführer zumutbar gewesen, beispielsweise beim Deutschen Roten Kreuz einen Suchantrag zu stellen. Allerdings trage er selbst vor, dass ihm nicht bekannt sei, wie er über Behörden oder private Organisationen den Aufenthalt seiner Mutter ermitteln solle und er schlichtweg keine Kontaktmöglichkeit mehr habe. Er habe sich daher bewusst in Unkenntnis gehalten.

Hiergegen hat der Kläger am 20.01.2020 durch seine Bevollmächtigten Klage zum Sozialgericht Düsseldorf eingereicht.

Er wiederholt, dass ihm der Aufenthalt seiner Eltern nicht bekannt sei. Allerdings treffe es zu, dass ihm ursprünglich die Mobilfunknummer der Mutter bekannt gewesen sei, wie auch der Mutter seine Mobilfunknummer. Dieser Kontakt sei aber abgebrochen. Seitdem sei die Mutter für ihn nicht mehr erreichbar gewesen. Die Mutter habe mit ihm "auf der Straße" gelebt. Ein Flüchtlingslager habe es nicht gegeben.

Der Kläger, der sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt hat (Schriftsatz vom 14.05.2020), hat schriftlich sinngemäß beantragt,

die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 13.09.2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16.12.2019 zu verurteilen, ihm für die Zeit von April 2019 bis März 2020 Kindergeld nach Maßgabe der gesetzlichen Vorschriften zu gewähren.

Die Beklagte, die ebenfalls mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden ist (Schriftsatz vom 18.05.2020), hat schriftlich beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie vertritt die Auffassung, der Kläger habe sich nicht hinreichend um den Kontakt mit seiner Mutter bemüht. Dies sei ihm aber zumutbar gewesen. Dabei geht sie unter Heranziehung von statistischen Daten davon aus, dass die Mutter zwischenzeitlich (wieder) über ein Mobiltelefon verfügen könne. Es sei auch wahrscheinlich, dass die Mutter zwischenzeitlich in einem Flüchtlingslager untergekommen sei.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der Leistungsakte des Klägers bei der Beklagten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Das Gericht konnte ohne mündliche Verhandlung entscheiden, weil die Beteiligten sich hiermit ausdrücklich einverstanden erklärt haben, § 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG).

1. Die Klage ist zulässig.

Insbesondere ist sie fristgemäß innerhalb der Monatsfrist des § 87 Abs. 1 S. 1 SGG erhoben worden. Dabei ist unter Zugrundelegung der Fiktion des § 37 Abs. 2 S. 1 des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch (SGB X) davon auszugehen, dass der Widerspruchsbescheid vom 16.12.2019 am 20.12.2019 zugestellt wurde (am 3. Tag nach der Aufgabe zur Post am 17.12.2019). Die Klageschrift vom 16.01.2020 ging am 20.01.2020 bei Gericht ein, also noch rechtzeitig.

2. Die Klage ist auch begründet.

Der Bescheid der Beklagten vom 13.09.2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16.12.2019 ist rechtswidrig, so dass der Kläger hierdurch beschwert ist im Sinne von § 54 Abs. 2 S. 1 SGG.

a) Der Kläger hat Anspruch auf Gewährung von Kindergeld nach Maßgabe des Bundeskindergeldgesetzes (BKGG). Dabei hat der Kläger den Anspruch auf den Zeitraum April 2019 bis März 2020 beschränkt (Schriftsatz der Bevollmächtigten vom 14.05.2020 unter Bezugnahme auf das Schreiben der Beklagten vom 17.03.2020). Jedenfalls in diesem Zeitraum liegen auch die Anspruchsvoraussetzungen vor (siehe auch Schreiben der Beklagten vom 17.03.2020): Ab dem 13.09.2019 war der Kläger im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis, die zur Ausübung einer Erwerbstätigkeit berechtigte, § 1 Abs. 3 Nr. 2 BKGG, wobei dieser Titel lediglich der Umsetzung eines verwaltungsgerichtlichen Urteils diente, das im März 2019 rechtskräftig geworden war. Ob schon für die Zeit vor Antragstellung im April 2019 (siehe hierzu § 5 Abs. 1 BKGG in der bis zum 30.06.2019 geltenden Fassung) die Anspruchsvoraussetzungen vorlagen, braucht wegen der Beschränkung des Leistungsbegehrens nicht entschieden zu werden. Das Ende des Leistungsanspruchs folgt aus § 1 Abs. 2 S 2 BKGG in Verbindung mit § 2 Abs. 2 BKGG, da der Kläger am 01.03.2020 die für die Kindergeld-Gewährung geltende Altershöchstgrenze von 25 Jahren erreicht hat. Gemäß § 5 Abs. 1 BKGG wird das Kindergeld dann noch bis zum Ende des Monats gewährt, in dem die Anspruchsvoraussetzungen wegfallen, also hier bis März 2020 einschließlich.

b) Der Kläger erfüllt auch die übrigen Voraussetzungen für den Anspruch auf Kindergeld nach dem BKGG.

Nach § 1 Abs. 2 S. 1 BKGG erhält Kindergeld für sich selbst, wer

1. in Deutschland einen Wohnsitz oder seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat, 2. Vollwaise ist oder den Aufenthalt seiner Eltern nicht kennt und 3. nicht bei einer anderen Person als Kind zu berücksichtigen ist.

Diese Voraussetzungen liegen hier vor.

Der Kläger hat seinen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland. Er lebt seit Juli 2015 in Deutschland, seit August 2017 absolviert er hier eine Ausbildung, die jedenfalls bis August 2020 dauert. Er verfügt über eine Aufenthaltserlaubnis, die bis Juli 2022 gültig ist. Es liegen keinerlei Anhaltspunkte dafür vor, dass der Kläger in absehbarer Zeit beabsichtigt, nach Bangladesch oder Myanmar zurückzukehren. Der Kläger ist auch nicht bei einer anderen Person als Kind zu berücksichtigen. Der Vater ist, soweit ersichtlich, tot, die Mutter lebt jedenfalls nicht in Deutschland.

Der Kläger erfüllt auch die Voraussetzungen von § 1 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 BKGG: Zwar ist er nicht Vollwaise, aber er kennt den Aufenthalt seiner Eltern nicht.

Der Vater des Klägers ist, soweit ersichtlich, tot. Dies wird auch nicht von der Beklagten bezweifelt.

Ob die Mutter des Klägers noch lebt, ist unbekannt. Den letzten Kontakt zu ihr hatte der Kläger nach eigenen Angaben im Jahr 2015. Diese Frage kann jedoch dahingestellt bleiben. Denn der Kläger hat jedenfalls keine Kenntnis vom Aufenthaltsort seiner Mutter. Dabei schließt lediglich positive Kenntnis des antragstellenden Kindes von dem Aufenthalt des Elternteils den Leistungsanspruch aus (grundlegend hierzu und zu dem hierbei anzuwendenden subjektiven Maßstab siehe BSG, Urteil vom 08.04.1992 – 10 RKg 12/91 – juris, Rdnr. 18). Dieser Rechtsprechung, die nach wie vor aktuell ist (siehe BSG, Urteil vom 05.05.2015 – B 10 KG 1/14 R – juris, Rdnr. 16), wird seitens der landessozialgerichtlichen und Sozialgerichtlichen Rechtsprechung soweit veröffentlicht, durchgehend gefolgt (vgl. nur LSG Niedersachsen, Urteil vom 20.02.2001, L 8 / 3 KG 5/00, juris, Orientierungssatz 1 und Rdnr. 25 ff.; SG Landshut, Beschluss vom 17.04.2012 – S 10 KG 1/12 ER – juris, Leitsatz 1 und Rdnr. 25; SG Mainz, Urteil vom 22.09.2015 – S 14 KG 4/15 – juris, Leitsatz und Rdnr. 23, 26; LSG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 23.06.2016, L 5 KG 1/15 – juris, Rdnr. 35; LSG Hamburg, Beschluss vom 22.02.2018, L 2 KG 1/18 ER, juris, Orientierungssatz 2 und Rdnr. 13). In der Entscheidung von 1992 hatte das BSG zugleich darauf hingewiesen, dass sich aus § 1 Abs. 2 (S. 1) Nr. 2 BKGG "in keinerlei Hinsicht" ein Verschuldensgrad entnehmen lasse, bei dessen Vorliegen eine positive Kenntnis unterstellt werden könne. Damit reicht es nicht aus, wenn das antragstellende Kind schuldhaft (grob fahrlässig oder vorsätzlich) Hinweisen über den Aufenthaltsort seiner Eltern (hier der Mutter) nicht nachgeht (BSG, Urteil vom 08.04.1992, a.a.O., Rdnr. 18). Lediglich bei "missbräuchlicher Nichtkenntnis" sei zu erwägen, ob dies einer Kenntnis im Sinne von § 1 Abs. 2 (S. 1) Nr. 2 BKGG gleichgestellt werden könne (a.a.O.). In diesem Zusammenhang hat das BSG auf die zivilrechtliche Rechtsprechung zu § 852 BGB hingewiesen (a.a.O.). Diesen Gesichtspunkt hat das LSG Sachsen-Anhalt in seinem Urteil vom 23.06.2016 – L 5 KG 1/15 – aufgegriffen und hierzu ausgeführt (juris, Rdnr. 36, 37):

Nach § 852 Abs. 1 BGB a.F. hängt der Beginn der Verjährung von deliktischen Ansprüchen davon ab, dass der Verletzte – oder der Wissensvertreter – Schaden und Schädiger positiv kennen. Die Vorschrift wird auch dann angewendet, wenn der Verletzte die Kenntnis zwar tatsächlich nicht besitzt, sie sich aber in zumutbarer Weise ohne nennenswerte Mühe beschaffen könnte. Denn der Verletzte soll es nicht in der Hand haben, die Verjährungsfrist einseitig dadurch zu verlängern, dass er die Augen vor einer sich aufdrängenden Kenntnis verschließt (Rechtsgedanke des § 162 BGB). Allerdings genügt eine grob fahrlässig verschuldete Unkenntnis der positiven Kenntnis nicht. Ein solcher Fall liegt nur vor, wenn der Geschädigte eine sich ihm ohne weiteres anbietende, gleichsam auf der Hand liegende Erkenntnismöglichkeit nicht wahrnimmt. Nur dann liegt ein Fall von missbräuchlichem sich Verschließen vor der Kenntnis vor, der mit einer positiven Kenntnis gleichzusetzen ist.

Kriterien für eine missbräuchliche Unkenntnis sind nach der Rechtsprechung des BGH: Das Verschließen der Augen vor einer sich aufdrängenden Kenntnis, oder die unterbliebene Wahrnehmung von sich anbietenden und auf der Hand liegenden Erkenntnismöglichkeiten, deren Erlangen weder besondere Kosten noch nennenswerte Mühe verursacht. Dies ist der Fall, wenn etwa eine einfache Nachfrage genügen würde zur positiven Kenntniserlangung. Dies gilt aber dann nicht mehr, wenn lange und zeitraubende Telefonate oder umfangreiche Schriftwechsel erforderlich würden (BGH, Urteil vom 08.04.1992, a.a.O. (16)). Ebenfalls keine missbräuchliche Kenntnis liegt vor, wenn der Geschädigte die aus seiner Sicht in Betracht kommenden Auskunftsstellen erfolglos um Mitteilung gebeten und erst durch eine verspätet gewährte Akteneinsicht Kenntnis erlangt hat (BGH, Urteil vom 08.04.1992, a.a.O., (17)).

Dem entsprechen die Hinweise des BSG in dem Urteil vom 08.04.1992 (a.a.O., Rdnr. 20), die auf die Erwägungen der Vorinstanz verweisen, wonach eine Nichtkenntnis des Kindes von dem Aufenthalt seiner Eltern dann nicht anzunehmen sei, wenn der Aufenthalt durch einfache Nachforschungen zu ermitteln sei; darüber hinausgehende Anforderungen, insbesondere der Nachweis fruchtloser Bemühungen bei den zuständigen Behörden des letzten Aufenthaltsstaates, könnten jedoch nicht verlangt werden.

Unter Zugrundelegung dieser Erwägungen kann vorliegend nicht festgestellt werden, dass ein missbräuchliches "sich Verschließen" vorliegt, das der positiven Kenntnis gleichzusetzen wäre (zu dieser Formulierung LSG Sachsen-Anhalt, a.a.O., Leitsatz 1).

Dem Kläger kann nicht widerlegt werden, dass er den aktuellen Aufenthalt seiner Mutter nicht kennt. Es erscheint nicht lebensfremd, dass ein Kontakt mit der Mutter, der anfangs noch über ein Mobilfunkgerät bestand, nicht aufrechterhalten werden konnte. Vorliegend geht es um einen Zeitraum von etwa 4 Jahren seit der Ausreise des Klägers aus Bangladesch bis zu dem hier streitigen Zeitraum. Die Möglichkeit einer Kontaktaufnahme hängt dabei nicht allein von dem Kläger aber, sondern auch von seiner Mutter. Hierauf hat der Kläger aber keinen Einfluss. Die Ausführungen der Beklagten zur Verteilung von Mobilfunkgeräten in Bangladesch sind in diesem Zusammenhang nicht entscheidungserheblich. Abgesehen davon, ob diese Angaben sich auch auf die Gruppe der Flüchtlinge (Rohingya/Bengali) beziehen, besagt dies nicht, dass gerade die Mutter des Klägers ein Mobilfunkgerät besitzt. Selbst wenn, kann sie die Nummer des Klägers verloren haben. Dieser kann aber von sich aus ohne Kenntnis des neuen Gerätes und der hierauf bezogenen Nummer keinen Kontakt zu seiner Mutter herstellen. Die bloße Möglichkeit der Kontaktaufnahme reicht zudem nicht aus. Wenn es zutrifft, was der Kläger behauptet, dass er mit der Mutter "auf der Straße" gelebt habe (und die Mutter jetzt noch auf der Straße lebt), könnte die Mutter ihm keinen konkreten Aufenthaltsort im Sinne des Gesetzes mitteilen. Dies gilt auch dann, wenn, was die Beklagte vermutet, die Mutter sich zwischenzeitlich in einem Flüchtlingslager aufhalten sollte. Denn auch hierbei handelt es sich um keinen konkreten Aufenthaltsort im Sinne des Gesetzes. Vielmehr muss die Möglichkeit bestehen, einen festen Wohnsitz (mit konkreter Adresse) zu begründen (SG Mainz, Urteil vom 22.09.2019 – S 14 KG 4/15 – juris, Leitsatz 1). Hierfür bestehen vorliegend keinerlei Anhaltspunkte. Insofern erscheint auch der Verweis der Beklagten auf die Möglichkeit, über Organisationen den Aufenthalt der Mutter zu ermitteln, bereits vom Ansatz her zweifelhaft. Denn die Beklagte vermutet ja gerade einen Aufenthalt der Mutter in einem Flüchtlingslager, was aber für die Bestimmung (Kenntnis) vom Aufenthaltsort nicht ausreicht. Entgegen der Ansicht der Beklagten handelt es sich hierbei auch nicht um "einfache Nachforschungen" im Sinne der Rechtsprechung des BSG (Urteil vom 08.04.1992, a.a.O., Rdnr. 20). Die Annahme "einfacher Nachforschungen" scheidet bereits dann aus, wenn hierfür "lange und zeitraubende Telefonate oder umfangreiche Schriftwechsel" erforderlich würden (LSG Sachsen-Anhalt, a.a.O., Rdnr. 37). Gleiches gilt grundsätzlich auch für Nachforschungen im Ausland (BSG, a.a.O.). Damit bleiben im Wesentlichen übrig nur Rückfragen bei inländischen Behörden (Einwohnermeldeamt, ggfl. Jugendamt) sowie Rückfragen bei gemeinsamen Bekannten und Verwandten. Diese kamen hier aber entweder nicht in Betracht (deutsche Behörden) oder sie sind nach Angaben des Klägers, die nicht widerlegt werden können, schlichtweg nicht vorhanden (Verwandte, Bekannte).

Soweit die Beklagte auf Nachforschungen privater Organisationen im Ausland verweist, hat sie dies bezeichnenderweise selbst nicht näher konkretisiert: Weder hat sie die "in Bangladesch ansässigen NGOs" namentlich und mit Adresse bezeichnet noch nähere Ausführungen dazu gemacht, wer denn konkret beim (Deutschen) Roten Kreuz oder dem Roten Halbmond für die Rohingya/Bengali zuständig sein könnte. "Einfache Nachforschungen" liegen aber bereits dann nicht mehr vor, wenn hierfür erforderlich ist, dass das antragstellende Kind selbst erst die Behörden, Institutionen oder privaten Einrichtungen ermitteln muss, bei denen dann auch noch völlig unklar ist, ob diese überhaupt entsprechende Auskünfte geben könnten. Auch hierzu hat die Beklagte bezeichnenderweise keinerlei Angaben gemacht.

Dem ist auch nicht weiter nachzugehen, da es nach der Rechtsprechung des BSG, der das erkennende Gericht folgt, nicht auf die objektiven Umstände ankommt, sondern allein ein subjektiver, auf den Antragsteller bezogener Maßstab anzuwenden ist (BSG, a.a.O., Rdnr. 17, Rdnr. 20).

c) Der Kläger hat folglich Anspruch auf Kindergeld für sich selbst für die Zeit von April 2019 bis März 2020 in der gesetzlichen Höhe (§ 6 Abs. 2 BKGG: 194,00 Euro monatlich bzw. ab Juli 2019 204,00 Euro monatlich).

Vor der Auszahlung des Nachzahlungsbetrages wird die Beklagte allerdings zu prüfen haben, ob und inwieweit vorab Erstattungsansprüche Dritter hiervon zu befriedigen sind.

3. Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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